Urteil
Rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 - Schwerhörigkeit

Gericht:

LSG Sachsen-Anhalt 7. Senat


Aktenzeichen:

L 7 SB 15/09


Urteil vom:

20.12.2012


Grundlage:

Leitsatz:

Die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ist nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt, soweit es sich um einen Erstantrag und nicht um einen Überprüfungsantrag nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X handelt. Das für eine Erstfeststellung allein erforderliche besondere Interesse kann durch den Hinweis auf einen möglichen abschlagsfreien Bezug der Altersrente glaubhaft gemacht werden.

Rechtsweg:

SG Dessau-Roßlau Urteil vom 06.02.2009 - S 5 SB 186/08

Quelle:

Justiz Sachsen-Anhalt

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 mit Wirkung vom 15. November 2000.

Die am ... 1947 geborene Klägerin beantragte am 13. Dezember 2004 für die Zeit ab 1999 die Feststellung von Schwerhörigkeit als Behinderung. Außerdem beantragte sie die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) sowie RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Der Beklagte zog einen Bescheid der Berufsgenossenschaft (BG) der Chemischen Industrie vom 13. Juli 1999 bei. Danach könne die Schwerhörigkeit nicht als Berufskrankheit (BK) anerkannt werden, weil am Ende des Expositionszeitraums im Jahre 1986 keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 vom 100 (v. H.) vorgelegen habe. Außerdem holte der Beklagte den Befundschein des Facharztes für HNO-Heilkunde Dr. T. vom 21. Januar 2005 ein, der ein Ton- und Sprachaudiogramm vom 23. September 2003 übersandte. Nach Beteiligung seines ärztlichen Dienstes stellte der Beklagte bei der Klägerin mit Bescheid vom 8. Februar 2005 aufgrund einer Hörbehinderung ab 23. September 2003 einen GdB von 70 sowie das Merkzeichen RF fest. Die Feststellung des Merkzeichens G lehnte er ab.

Am 2. März 2005 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Feststellungsbescheids, da sie eine rückwirkende Feststellung ab 1999 begehrt habe. Mit Bescheid vom 27. September 2005 lehnte der Beklagte die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ab 1999 ab. Eine solche komme nicht in Betracht, da die Rechtsstellung als schwerbehinderter Mensch mit einem bestimmten GdB sich nur in der Zukunft auf die Gestaltung verschiedener Rechtsverhältnisse auswirken könne. Eine rückwirkende Feststellung nach § 44 Abs. 2 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) könne nur ausnahmsweise erfolgen, wenn der behinderte Mensch ohne Verschulden an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert gewesen sei. Eine solche Ausnahme liege hier nicht vor. Mit ihrem Widerspruch vom 27. Oktober 2005 trug die Klägerin vor: Sie möchte mit 60 Jahren als Schwerbehinderte ohne Abzüge in Rente gehen und benötige daher die rückwirkende Feststellung eines GdB von 50. Mit Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 2006 wies der Beklagte ohne weitere Ermittlungen den Widerspruch zurück.

Am 11. Oktober 2007 beantragte die Klägerin, die Feststellung des GdB für den Zeitpunkt des 15. November 2000 zu überprüfen, da dieser Termin für ihre Rente ausschlaggebend sei. Dazu legte sie eine gutachtliche Einschätzung des Dr. T. vom 4. Oktober 2007 mit Audiogrammen vom 8. Juni 1993 und 8. Juni 2006 vor. Mit Bescheid vom 18. Oktober 2007 lehnte der Beklagte die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ohne weitere Ermittlungen ab, weil § 44 SGB X im Schwerbehindertenrecht keine Anwendung finde. Den dagegen am 16. November 2007 erhobenen Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. September 2008 zurück.

Am 23. Oktober 2008 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau erhoben und beantragt, einen GdB von 70 sowie das Merkzeichen RF ab 15. November 2000 festzustellen. Ohne weitere Ermittlungen hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 6. Februar 2009 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der GdB als Statusentscheidung sei nur auf Antrag mit Wirkung für die Zukunft, nicht aber für die Vergangenheit festzustellen. Die Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch führe zu zahlreichen Vergünstigungen in unterschiedlichen öffentlichen und privaten Bereichen, so dass eine rückwirkende Feststellung Auswirkungen auf einen nur schwer zu überschauenden Kreis unbeteiligter Dritter habe. Die davon abweichend in der Schwerbehindertenausweisverordnung festgeschriebene beschränkte Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung trage lediglich dem Interesse des behinderten Menschen daran Rechnung, nicht durch die Dauer eines Verwaltungsverfahrens unzumutbar benachteiligt zu werden. Die weitere Rückwirkung eines Antrages müsse auf offenkundige Fälle beschränkt werden. Ein solcher liege hier nicht vor.

Gegen den ihr am 11. Februar 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 11. März 2009 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt und die Berufung mit Schreiben vom 19. Dezember 2012 auf die Feststellung eines GdB von 50 ab 15. November 2000 beschränkt. Sie hat ausgeführt, sie sei am 1. Dezember 2007 mit 60 Jahren mit Abschlägen von 10,8 % in Rente gegangen. Bei der Rentenantragstellung habe sie erklärt, ein Schwerbehindertenverfahren sei noch offen. Sie hat außerdem vorgetragen, bereits durch die im VEB F. W. ansässige Ärztin Dr. K. sei ihr im Jahre 1980 ein Hörverlust von 20 % bescheinigt worden. Die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchungen seien zu den Personalakten genommen worden. Es könne im Übrigen nicht zu ihren Lasten gehen, wenn der Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt werden könne. Im Übrigen bestreite sie die Bewertung des Beklagten. Eine berufsbedingte Schwerhörigkeit könne nicht zeitweise aussetzen oder nur gelegentlich bestehen. Dies widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, insbesondere vor dem Hintergrund eines jetzigen GdB von 70.


Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

den Gerichtsbescheid des SG Dessau-Roßlau vom 6. Februar 2009 sowie den Bescheid des Beklagten vom 18. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. September 2008 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei ihr einen GdB von 50 ab 15. November 2000 festzustellen.


Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

Er vertritt die Ansicht, auch nach der weiteren Sachaufklärung lägen die Voraussetzungen für die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nicht vor.

Der Senat hat die BG-Akte der Klägerin beigezogen. In dieser hat sich das Gutachten des MR Dr. W. (Facharzt für HNO und Audiologe, Leiter der Abteilung für Hör- und Gleichgewichtsstörungen der HNO-Klinik des S. K. D.) vom 9. April 1999 befunden. Danach habe die Klägerin geschildert, Anfang der 1970er Jahre sei eine beidseitige Hörverschlechterung aufgefallen. Bei der betrieblichen Reihenuntersuchung habe Dr. K. die Hörstörung bestätigt. Dr. W. hat ein von ihm erstelltes Tonaudiogramm ausgewertet, wonach eine mittelgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits mit einem Hörverlust auch im Tieftonbereich besonders rechts bei 35 dB bestehe. Das Sprachaudiogramm habe ein 50 %iges Zahlenverständnis rechts bei 35 dB und links bei 33 dB gezeigt. Das Gesamtwortverstehen habe bei 60, 80 und 100 dB folgende Werte ergeben: rechts 0+80+80=160 und links 15+80+80=175. Der prozentuale Hörverlust nach Boenninghaus-Röser betrage rechts 40 % und links 30 % sowie bei der Bewertung nach dem gewichteten Gesamtwortverstehen links 50%. Dr. W. hat weiterhin ausgeführt, im Vergleich zu den Audiogrammen von 1993 sei eine Hörverschlechterung beidseits nachweisbar. Aus dem Sprachaudiogramm vom 5. Juli 1993 errechne sich ein Hörverlust nach Boenninghaus-Röser von rechts 10 % und links 0 %. Dies gelte auch bei einer Bewertung nach dem gewichteten Gesamtwortverstehen. Daraus resultiere eine MdE von unter 10 v.H. Außerdem haben sich in der BG-Akte die betrieblichen Grunduntersuchungsbögen der Klägerin befunden.

Mit Schreiben vom 19. Dezember 2012 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte des Beklagten und die Auszüge der BG-Akte haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte und der BG-Akte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte den Rechtsstreit nach §§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben.

Die form- und fristgemäß eingelegte und gemäß § 143 SGG auch statthafte Berufung der Klägerin ist unbegründet. Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft liegen nicht vor.

Den Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines GdB von 50 ab 15. November 2000 verfolgt diese mit einer zulässigen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG. Der Anspruch richtet sich nach dem Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz - SchwbG) in der Fassung der Neubekanntmachung vom 26. August 1986 sowie nach den am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Vorschriften des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) vom 19. Juni 2001. Hinsichtlich der Maßstäbe für die Bestimmung des Begriffs der Behinderung ergeben sich durch die zum 1. Juli 2001 erfolgte Ablösung des SchwbG durch das SGB IX keine für das Verfahren maßgeblichen Unterschiede.

Zwar beginnt der Status als schwerbehinderter Mensch grundsätzlich mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, doch ist zum Nachweis dieser Eigenschaft eine behördliche Feststellung erforderlich. Dementsprechend stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 4 Abs. 1 Satz 1 SchwbG, § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Mit der Stellung des Antrags bringt der behinderte Mensch gegenüber der Behörde sein Interesse an einer verbindlichen Statusfeststellung erstmalig zum Ausdruck. Insofern ist es sachgerecht, von dem behinderten Menschen die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses zu verlangen, wenn er seinen GdB ausnahmsweise schon für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum festgestellt haben möchte (BSG, Urteil vom 7. April 2011, B 9 SB 3/10 R, zitiert nach juris). Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 SchwbG bzw. § 69 Abs. 5 Satz 1 SGB IX stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie ggf. über weitere gesundheitliche Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen aus. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) ist auf der Rückseite des Ausweises als Beginn der Gültigkeit in den Fällen des § 69 Abs. 1 und 4 SGB IX der Tag des Eingangs des Antrags auf Feststellung nach diesen Vorschriften einzutragen. § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV ermöglicht darüber hinaus auf Antrag des schwerbehinderten Menschen und nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses die Eintragung eines zusätzlichen, weiter zurückliegenden Datums.

Dabei ist die rückwirkende Feststellung nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt, soweit es sich um einen Erstantrag und nicht um einen Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB handelt (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Die Beschränkung auf § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X findet nur Anwendung, wenn nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X die Rücknahme einer unanfechtbar bindenden Feststellung des GdB mit Wirkung für die Vergangenheit zu prüfen ist (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Diese Einschränkung folgt im Hinblick auf das nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X auszuübende Verwaltungsermessen. Sofern die entsprechenden tatsächlichen Voraussetzungen offenkundig sind, könnte das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung der bindenden Feststellung gebieten (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Dagegen muss die Feststellungsbehörde im Verfahren einer Erstfeststellung bei Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses durch den Antragsteller uneingeschränkt prüfen und entscheiden, ob und seit wann die geltend gemachte Eigenschaft schon vor der Antragstellung bestanden hat (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.). Eines über die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses hinausgehenden besonderen Korrektivs etwa in Form der Offensichtlichkeit bedarf es nicht, weil entsprechende Anträge sich nach Aufklärung des Sachverhalts nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast behandeln lassen (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.).

Nach diesem Maßstab ist zunächst festzustellen, dass die Klägerin eine rückwirkende Erstfeststellung ab 15. November 2000 begehrt. Mit Bescheid vom 8. Februar 2005 hat der Beklagte nicht über den GdB ab 15. November 2000, sondern erst ab 23. September 2003 (GdB 70) entschieden. Bislang liegt keine bestandskräftige Feststellung für die Zeit vom 15. November 2000 bis zum 22. September 2003 vor. Insofern kann § 44 Abs. 2 SGB X auch keine Anwendung finden. Das für eine Erstfeststellung somit allein erforderliche besondere Interesse hat die Klägerin durch den Hinweis auf einen möglichen abschlagsfreien Bezug der Altersrente glaubhaft gemacht. Denn von einem besonderen Interesse ist jedenfalls dann auszugehen, wenn der behinderte Mensch mit der rückwirkenden Feststellung eines GdB von 50 gemäß § 236 a SGB des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) die Altersrente für schwerbehinderte Menschen abschlagsfrei beziehen kann (BSG, Urteil vom 7. April 2011, a.a.O.).

Doch kann die Hörbehinderung der Klägerin am 15. November 2000 nicht mit einem GdB von 50 bewertet werden.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen wie zuvor nach § 4 Abs. 1 Satz 1 SchwbG die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Regelung knüpft materiellrechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und zuvor in § 3 Abs. 1 SchwbG bestimmten Begriff der Behinderung an. § 3 Abs. 1 SchwbG definierte Behinderung als die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruhte. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 3 Abs. 2 SchwbG war die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung und nach § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX (in der Satzzählung der alten Fassung) gelten wie zuvor nach § 3 Abs. 3 SchwbG für den GdB die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft (bzw. Funktionsbeeinträchtigungen) vorliegen, wird nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX bzw. zuvor des § 4 SchwbG der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung festgestellt.

Als Grundlage für die Beurteilung der medizinischen Sachverhalte dienten der Praxis am 15. November 2000 die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", deren Ausgabe von 1996 vom damaligen Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegeben wurde. Die Anhaltspunkte haben zwar keine Normqualität, sind aber nach ständiger Rechtsprechung des für das Versorgungs- und Schwerbehindertenrecht zuständigen Senats des Bundessozialgerichts als vorweggenommene Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken und im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung in ihrer jeweiligen Fassung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden sind (vgl. BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - SozR 4-3250 § 69 Nr.2, S. 10 ff. m.w.N.).

Der hier streitigen Bemessung des GdB ist die GdB/MdE-Tabelle der Anhaltspunkte (Nr. 26) zugrunde zu legen. Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle in Nr. 26.1 (S. 37) sind die dort genannten GdB/MdE-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 18 Abs. 4 genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Nr. 26 Abschnitt 1).

Nach diesem Maßstab kann für die Funktionseinschränkungen im Funktionssystem Ohren kein GdB von 50 am 15. November 2000 festgestellt werden. Dabei stützt sich der Senat auf das Gutachten von MR Dr. W. vom 9. April 1999. Nach diesem Gutachten, das MR Dr. W. auf der Grundlage von ihm gefertigter Audiogramme erstattet hat, hat die Klägerin im April 1999 an einer mittelgradigen Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits mit einem Hörverlust auch im Tieftonbereich gelitten. Das Sprachaudiogramm hat ein 50 %iges Zahlenverständnis rechts bei 35 dB und links bei 33 dB sowie ein Gesamtwortverstehen bei 60, 80 und 100 dB von rechts 0+80+80=160 und links 15+80+80=175 ergeben. Der prozentuale Hörverlust nach Boenninghaus-Röser hat nach den Berechnungen von MR Dr. W. rechts 40 % und links 30 % sowie bei der Bewertung nach dem gewichteten Gesamtwortverstehen links 50 % betragen. Nach der Tabelle D der Anhaltspunkte 1996 (Nr. 26.5, S. 72) ist bei einem Hörverlust von rechts 40 % und links 50 % (unter Berücksichtigung des Gesamtwortverstehens) von jeweils mittelgradiger Schwerhörigkeit (d.h. Hörverlust 40 bis 60 %) auszugehen und dafür ein GdB von 30 festzustellen. Diese Berechnungen von MR Dr. W. sind für den Senat nachvollziehbar und in sich schlüssig. Für die Feststellung eines GdB von 30 am 15. November 2000 hat die Klägerin indes kein besonderes Interesse geltend gemacht, sodass insoweit auch keine dementsprechende Feststellung durch den Beklagten zu erfolgen hat.

Eine andere Bewertungsgrundlage für die Hörbehinderung ist für den umstrittenen Zeitraum nicht vorhanden. Zwischen 1999 und 2003 wurden keine weiteren Ton- und Sprachaudiogramme erstellt, sodass der Senat für die Bewertung am 15. November 2000 und der Folgezeit auf das Gutachten von Dr. W. aus dem Jahre 1999 zurückgreifen muss. Soweit die Klägerin aus der Untersuchung bei Dr. K. Rückschlüsse auf ihr Hörvermögen im Jahre 2000 ziehen will, ist dem Folgendes entgegenzuhalten: Unterlagen über die Untersuchung durch Dr. K. hat die Klägerin nicht vorgelegt und diese haben sich auch nicht in der beigezogenen BG-Akte mit den betrieblichen Grunduntersuchungsbögen der Klägerin befunden. In den Untersuchungsbögen wurde erstmals im Jahre 1990 eine beginnende Schwerhörigkeit der Klägerin festgestellt. Damit lässt sich die Behauptung eines 20%igen Hörverlustes in den 1970er Jahren bzw. 1980 nicht stimmig mit den vorhandenen Unterlagen in Einklang bringen. Dies gilt auch unter Beachtung des Audiogramms aus dem Jahr 1993, wonach nach der Auswertung durch Dr. W. der prozentuale Hörverlust damals 0 bzw. 10% betragen hat. Schließlich kann selbst bei einem unterstellten Hörverlust von 20 % in den 1970er Jahren durch Dr. K. nicht auf das Ausmaß der Hörbehinderung im Jahre 2000 geschlossen werden.

Da der Senat keine Möglichkeiten zur weiteren Sachverhaltsaufklärung sieht und die Klägerin auch keine weiteren Ermittlungsansätze aufgezeigt hat, geht es zu ihren Lasten, dass das tatsächliche Ausmaß ihrer Hörbehinderung am 15. November 2000 offen bleibt.

Weitere Funktionseinschränkungen, die zum Zeitpunkt des 15. November 2000 mit einem Einzel-GdB von mindestens 10 zu bewerten wären, sind nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision nach § 160 SGG liegt nicht vor.

Referenznummer:

R/R5892


Informationsstand: 25.11.2013