Die Klage ist zulässig aber unbegründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und der Kläger daher nicht in seinen Rechten gemäß § 54
Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) verletzt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines
GdB von 100 und das Merkzeichen "H" für die Zeit vor dem 20.11.2000.
Gemäß
§ 69 Abs. 1 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 7 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX) stellen auf Antrag des behinderten Menschen die nach Landesrecht zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Dabei kommt es nicht auf Diagnosen an, sondern darauf, ob die Gesundheitsstörungen zu Funktionsbeeinträchtigungen führen und diese die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigen (
§ 2 Abs. 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als
GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 69
Abs. 1 Sätze 1 und 3
SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der
GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69
Abs. 3 Satz 1
SGB IX).
Der
GdB als Statusentscheidung ist nach der überzeugenden Rechtsprechung des
BSG jedoch grundsätzlich nur ab Antrag mit Wirkung für die Zukunft, nicht aber für die Vergangenheit, festzustellen. Dies beruht nicht darauf, dass über die erforderlichen gesundheitlichen Voraussetzungen für die Vergangenheit nur schwer Feststellungen zu treffen sind, weil dem dadurch Rechnung getragen wird, dass ein Antragsteller in jedem Fall das Risiko trägt, dass eine ausreichende Sachaufklärung zu seinen Gunsten nicht mehr möglich ist. Vielmehr ist hierfür maßgebend, dass der rechtsgestaltende Status des
GdB, insbesondere bei Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, zu zahlreichen Vergünstigungen in unterschiedlichen öffentlichen und privaten Bereichen führt, so dass eine rückwirkende Feststellung jedenfalls eines
GdB von 50 mit dem Status eines schwerbehinderten Menschen Auswirkungen auf einen nur schwer zu überschauenden Kreis unbeteiligter Dritter hat. Zu diesen Dritten gehören nicht nur öffentlich-rechtliche Rechtsträger und öffentliche Verkehrsunternehmen, sondern vor allem auch Private, insbesondere Arbeitgeber. Die in der Schwerbehindertenausweisverordnung (
SchwbAwV) festgeschriebene beschränkte Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung (
§ 6 Abs. 1 Satz 1 SchwbAwV), trägt dem Interesse der behinderten Menschen daran Rechnung, dass sie nicht durch die Dauer eines Verwaltungsverfahrens unzumutbar benachteiligt werden. Dies ist unproblematisch, weil sie dann bei allen wesentlichen Belangen bereits auf ein laufendes Verfahren zur Anerkennung hinweisen können. Die weitere Rückwirkung eines Antrags hingegen, wie sie in § 6
Abs. 1 Satz 2
SchwbAwV vorgesehen ist, muss auf offenkundige Fälle beschränkt werden, in denen auch bei Anwendung des § 44
Abs. 2
SGB X das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung gebieten könnte (Bayerisches
LSG, Urteil vom 19.06.2007,
L 15 SB 172/06;
LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.04.2007;
L 11 SB 31/05-26; Saarländisches
LSG, Beschluss vom 05.11.2002,
L 5 B 12/01 SB; SG Dresden, Gerichtsbescheid vom 09.12.2004,
S 7 SB 340/02). Darauf, ob im konkreten Fall die Beeinträchtigung von Dritten zu befürchten ist, kommt es dabei nicht an.
Wann die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch "offenkundig" im oben genannten Sinne ist, hat das
BSG bisher offen gelassen. Die Kammer ist der Auffassung, dass die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch jedenfalls dann nicht offenkundig ist, wenn der
GdB nur durch Einholung eines oder mehrerer fachärztlicher Gutachten unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher vorhandener medizinischer Unterlagen festgestellt werden kann, weil dann für betroffene Dritte ohne medizinische Kenntnisse erst recht nicht mehr ersichtlich ist, ob eine Schwerbehinderung besteht oder nicht und sie deshalb durch die rückwirkende Feststellung in unzumutbarer Weise betroffen werden könnten (Saarländisches
LSG, Beschluss vom 05.11.2002, L 5 B 12/01 SB; SG Düsseldorf, Urteil vom 23.09.2008,
S 35 SB 239/07; SG Duisburg, Urteil vom 28.02.2006,
S 24 SB 4/05; SG Dresden, Gerichtsbescheid vom 09.12.2004, S 7 SB 340/02). Nach diesen Maßstäben war beim Kläger nicht "offenkundig" ab Geburt oder irgendeinem Zeitpunkt vor dem 20.11.2000 ein
GdB von 100 und das Merkzeichen "H" festzustellen. Der
GdB von 100 und das Merkzeichen "H" wurden festgestellt nachdem unter anderem erstmalig ein Pflegegutachten einging. Dieses basierte auf einer Untersuchung vom 15. Februar 2001 und wurde somit rund 3 Monate nach dem Änderungsantrag erstellt, der zur Anerkennung des
GdB von 100 und des Merkzeichen "H" führte. Es ist nicht ersichtlich, ob der Zustand beispielsweise 3 Monate zuvor, 6 Monate zuvor, ein Jahr zuvor, 4 Jahre zuvor, oder gar ab Geburt so gewesen ist, dass ein
GdB von 100 anzuerkennen gewesen wäre. So hatte die Beklagte beispielsweise aufgrund der zuvor vorliegenden Unterlagen nur einen
GdB von 80 und die Merkzeichen "G" und "B" angenommen. Ob in der Zeit vor dem 20.11.2000 ein höherer
GdB als 80 und das Merkzeichen "H" vorlagen könnte - wenn überhaupt - durch Einholung eines ärztlichen Gutachtens ermittelt werden. Eine Offenkundigkeit besteht daher nicht.
Das Gleiche gilt für die Frage, ob in der Zeit vor März 1996 überhaupt ein
GdB anzuerkennen war mit der Folge, dass die Klage zumindest teilweise Erfolg gehabt hätte. Die Diagnose Autismus wurde erst im Jahr 2000 gestellt. Wann genau sich der Autismus beim Kläger letztlich manifestiert hat, ist offen. Auf diesen Zeitpunkt kommt es jedoch an. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass "ab Geburt" jedenfalls ein
GdB von 50 (als dem bis zum 22.12.2010 geltender Mindestwert für Autismus) anzuerkennen ist, da es für die Feststellung eines
GdB nicht darauf ankommt, ob die Anlage für eine bestimmte Erkrankung vorhanden ist, sondern ob diese auch tatsächlich in Erscheinung getreten ist. Dabei hat die Kammer nicht verkannt, dass auch vor März 1996 Verhaltensauffälligkeiten des Klägers beschrieben wurden. Ob diese darauf zurückzuführen sind, dass der Autismus sich bereits zu diesem Zeitpunkt manifestiert hatte, ist hingegen nicht erkennbar, jedenfalls nicht "offenkundig".
Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass im Fall des Klägers neben dem materiell-rechtlichen Problem der "Offenkundigkeit" gegen eine rückwirkende Feststellung - jedenfalls soweit sie den Zeitraum vor dem 09.05.2000 betrifft - auch noch eingewendet werden könnte, dass eine solche Überprüfung aus Gründen der Bestandskraft bereits ausscheidet. Das SG Düsseldorf hat in einer Entscheidung vom 23.09.2008 (S 35 SB 239/07) hierzu überzeugend Folgendes ausgeführt:
" ... Eine solche Rückwirkung im Sinne des § 6
Abs. 2 Satz 2 Schwerbehindertenausweisverordnung auf den von der Klägerin hier gewünschten Zeitpunkt November 2000 kann schon aus Rechtsgründen nicht erfolgen. Nach der vom Gericht vertretenen Auffassung, ist die in der Schwerbehindertenausweisverordnung vorgesehene Rückwirkung auf solche Fälle zu begrenzen, in denen im fraglichen Zeitraum, in dem die Rückwirkung erfolgen soll, eine Statusfeststellung nach dem
SGB IX oder dem ihm vorangehenden Schwerbehindertengesetz nicht getroffen worden ist. Dagegen ist § 6
Abs. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung - nach seinem eindeutigen Wortlaut und seinem Sinn und Zweck - keine Vorschrift, die die Rechtskraft von bestandskräftigen Verwaltungsakten durchbricht. Vorliegend ist mit Bescheiden vom 09.02.2004 und 09.03.2004 bestandskräftig festgestellt worden, dass der Behinderungsgrad der Klägerin für die Zeit vom 18.12.2003 an 30 beträgt. Mit dem ebenfalls bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 15.09.2005 ist festgestellt worden, dass für die Zeit vom 09.03.2004 bis zum 21.07.2005 und in der Folge der Behinderungsgrad 60 beträgt.
Die Bestandskraft dieser Bescheide kann ausschließlich über die Vorschrift des § 44
SGB X durchbrochen werden. Nach der vorgenannten Vorschrift kann ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen oder abgeändert werden. Ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung der entsprechenden Bescheide vorliegend gegeben sind, kann hier jedoch dahinstehen, denn eine solche Aufhebung oder Abänderung nach § 44
SGB X kann bei der Klägerin in keinem Fall zu dem von ihr - mit der hier erhobenen Verpflichtungsklage - gewünschten Ziel führen, einen
GdB in Höhe von 50 ab November 2000 festzustellen. Sollten sich die Bescheide aus dem Jahre 2004 und 2005 als rechtswidrig erweisen, könnte allenfalls festgestellt werden, dass die Klägerin ab ihrer ursprünglichen Antragstellung im Dezember 2003 Anspruch auf einen höheren
GdB hatte. Die Korrektur nach § 44
SGB X kann aber nicht soweit gehen, dass über den Antrag von Dezember 2003 hinaus, mit dem ausdrücklich eine rückwirkende Feststellung eines Behinderungsgrades gerade nicht begehrt wurde, eben diese Rückwirkung nun eintreten soll. § 44
SGB X kann nämlich einen Verwaltungsakt nur soweit korrigieren, "soweit" dieser Verwaltungsakt rechtswidrig war. Die Verwaltungsakte vom 09.02.2004, 09.03.2004 und 15.09.2005 waren jedoch allenfalls wegen der Höhe des dort festgestellten
GdB rechtswidrig, nicht aber, soweit sie eine Feststellung über die Höhe des
GdB nur ab dem Zeitpunkt der Antragstellung getroffen haben.
Da also für eine rückwirkende Feststellung des Behinderungsgrades ab November 2000 eine Anspruchsgrundlage nicht gegeben ist, kann das Gericht - aus Rechtsgründen - die Beklagte zu einer solchen Feststellung nicht verurteilen. Es kann daher auch dahinstehen, ob die Vorschrift des § 44
Abs. 4
SGB X, die bezüglich einer Rückwirkung von 4 Jahren - über ihren Wortlaut hinaus - einen allgemeinen Rechtsgrundsatz darstellen dürfte, hier ebenfalls einer Feststellung eines Behinderungsgrades ab November 2000 entgegenstehen könnte ..."
Diese Entscheidung dürfte auf den hiesigen Fall übertragbar sein, was mangels "Offenkundigkeit" jedoch dahin stehen konnte. Beim Kläger wurden bereits in der Vergangenheit Feststellungen getroffen, erstmalig mit Bescheid vom 05.07.2000 für die Zeit ab 09.05.2000. Im Antrag vom 09.05.2000 wurde keine rückwirkende Feststellung beantragt. Angesichts dessen dürfte der Bescheid bezüglich des Beginns der Feststellung rechtmäßig sein.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193
SGG.
Gegen das Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gegeben. Da weder eine Dienst-, noch eine Sach- oder Geldleistung, sondern die Feststellung einer Behinderung Streitgegenstand ist, kommt es auf den Wert des Streitgegenstandes nicht an (§ 144
Abs. 1
Nr. 1
SGG).