Urteil
Verfahren zur Feststellung der Behinderung nach SGB IX (SB) - Zur Herabsetzung des GdB nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit

Gericht:

LSG Sachsen-Anhalt 7. Senat


Aktenzeichen:

L 7 SB 8/16


Urteil vom:

30.08.2017


Grundlage:

  • SGG § 54 Abs. 1 |
  • SGB X § 48 |
  • SGG § 124 Abs. 2 SGG |
  • SGB IX § 69

Leitsatz:

Eine GdB-Erhöhung aufgrund von Behinderungen im Funktionssystem Ohren (Einzel-GdB 30) ist wegen einer leichtgradigen Behinderung im Funktionssystem Rumpf (Einzel-GdB 20) regelmäßig nicht vorzunehmen, da es an einer sich verstärkenden Wechselwirkung fehlt.

Rechtsweg:

SG Magdeburg, Urteil vom 22.01.2016 - S 15 SB 544/13

Quelle:

Justiz Sachsen-Anhalt

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) nach Ablauf der Heilungsbewährung.

Der am xx.xx.1956 geborene Kläger beantragte am 1. Juni 2001 die Feststellung von Behinderungen nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) und die Ausstellung eines Ausweises. Er gab an, unter einer Innenohrschwerhörigkeit, einem beidseitigen Tinnitus, einem Reizdarm sowie einem Magenleiden zu leiden. Der Beklagte holte von der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. K., der HNO-Ärztin Dipl.-Med. W. und der Fachärztin für Hautkrankheiten Dr. R. Befunde ein. Dipl.-Med. K. gab am 3. Juli 2001 an, dass der erhöhte Blutdruck gut eingestellt sei. Dipl.-Med. W. berichtete unter dem 13. Juli 2001: Der Kläger sei wegen einer linksbetonten Innenohrschwerhörigkeit sowie Tinnitus vom 22. Januar bis 2. Februar 2001 stationär behandelt worden. Dr. R. berichtete am 25. Juli 2001 über Pigmentstörungen im Gesicht.

Der Vertragsarzt des Beklagten Dr. R. sprach sich in Auswertung der Befunde wegen der Ohrgeräusche und der Schwerhörigkeit links für einen Einzel-GdB von 10 aus. Die Pigmentstörungen, der Reizdarm, die Ösophagitis (Entzündung der Speiseröhre) und die Gastritis (Magenschleimhautentzündung) seien ohne messbaren GdB. Dem folgend lehnte der Beklagte die Feststellung eines GdB ab (Bescheid vom 2. Oktober 2010). Auf den Widerspruch des Klägers nahm der Beklagte weitere medizinische Ermittlungen vor. Dipl.-Med. W. legte Audiogramme vom 17. Oktober 2000, 29. November 2001 und vom 30. November 2001 vor. Medizinalrätin Dr. P. wertete diese Befunde aus und hielt weiterhin einen Gesamt-GdB von 10 für gerechtfertigt (Ohrgeräusche, Schwerhörigkeit (links), Einzel-GdB 10, Pigmentstörungen im Gesicht, Einzel-GdB 10). Dem folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 5. August 2002 bestandskräftig zurück.

Am 11. Juni 2007 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag und begründete diesen neben den bereits bekannten Erkrankungen mit einem Prostatakarzinom sowie einer Luftnot und einer arterieller Hypertonie. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. S. berichtete über einen gut eingestellten Bluthochdruck mit leichten Augenhintergrundveränderungen. Der Facharzt für Urologie Dr. K. diagnostizierte am 28. Juni 2007 ein Adenokarzinom der Prostata G2a Gl. 3+3=6 links auf 3 mm pT1c cNO cMO und fügte einen Bericht des O.-Klinikums W. vom 31. Januar 2007 bei. Darin berichtete Chefarzt Dr. S. (Klinik für Urologie und Kinderurologie) über einen stationären Aufenthalt vom 6. bis 8. Dezember 2006, in dem eine Prostatabiopsie durchgeführt wurde. Der Direktor der Klinik für Strahlentherapie des Universitätsklinikum M. Prof. Dr. G. teilte in einem beigefügten Arztbrief vom 10. April 2007 mit, es läge ein histologisch gesichertes Prostatakarzinom vor. Die Fachärztin für HNO-Heilkunde Dr. D. gab am 10. Juli 2007 an: Bei psychovegetativer Stressüberlagerung werde der Tinnitus vom Kläger als sehr störend empfunden.

Der Ärztliche Gutachter des Beklagten Dipl.-Med. K. empfahl in Auswertung der Befunde eine nähere medizinische Aufklärung über das genaue Tumorstadium. Mit Schreiben vom 27. August 2007 teilte der Kläger mit, er sei bisher nicht operiert worden. Es habe lediglich Bestrahlungen in der Universitätsklinik M. gegeben. Eine medizinische Rehabilitation sei im August 2007 in der S.-klinik erfolgt. Der Beklagte holte einen Reha-Bericht der Klinik S. (P. a. S.) vom 24. August 2007 ein. Dort berichtete Chefarzt Dr. L. über einen stationären Aufenthalt vom 6. bis 24. August 2007 unter den Diagnosen Prostatakarzinom 1Tc G2a; ED 12/2006, arterielle Hypertonie und Hypercholesterinämie. Hiernach habe eine kurative Radiatio vom 29. Mai bis 20. Juli 2007 stattgefunden. In Auswertung der Befunde hielt Dipl.-Med. K. einen Gesamt-GdB von 50 für leidensgerecht (Erkrankung der Vorsteherdrüse in Heilungsbewährung (Einzel-GdB 50); Ohrgeräusche, Hörminderung (Einzel-GdB 20); Bluthochdruck (Einzel-GdB 10); Pigmentstörungen im Gesicht (Einzel-GdB 10)).

Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Oktober 2007 einen GdB von 50 ab 7. Juni 2007 fest und gab an, dass sich die anerkannte Funktionsbeeinträchtigung einer Erkrankung der Vorsteherdrüse im Stadium der Heilungsbewährung befinde. Daher werde die Funktionsbeeinträchtigung, obwohl dies durch die derzeitigen tatsächlichen Auswirkungen nicht gerechtfertigt sei, zunächst mit einem höheren GdB als zustehend bewertet. Nach Ablauf der Heilungsbewährung, die im Juli 2012 ende, werde der GdB überprüft und entsprechend der dann noch verbliebenen tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigung ggf. neu festgestellt.

Der Kläger wandte sich mit Schreiben vom 7. Mai 2012 an den Beklagten und teilte in Erwartung der behördlichen Überprüfung seine ihn aktuell behandelnden Ärzte mit. Der Beklagte nahm dies zum Anlass ein Überprüfungsverfahren einzuleiten und zunächst einen Befundschein von dem Facharzt für Urologie Dr. S. einzuholen. Danach sei der PSA-Wert rückläufig. Es habe keinen Hinweis auf ein Rezidiv gegeben. Wegen einer Harnröhrenstenose sei eine Urethrotomie am 15. Februar 2012 erfolgt. Die Fachärztin für Orthopädie Dr. S. berichtete im Juni 2012 über rezidivierende Beschwerden der Halswirbelsäule, beider Schultern und über Schmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich. Es ergäben sich auf orthopädischem Gebiet folgende Diagnosen:

Chronisch rezidivierendes Cervicobrachialsyndrom, Rotatorenmanschettensyndrom beider Schultern, Lumbales Pseudoradikulärsyndrom mit Paraesthesien in beiden Beinen.

Der Gang sei flüssig. Im Bereich der Halswirbelsäule sei eine Funktionseinschränkung um 1/3 in allen Richtungen vorhanden. Es bestünden eine ausgeprägte muskuläre Verspannung des Trapezius beidseits, eine Blockierung des Cervico-Thorokalen-Übergangs (CTÜ), jedoch keine Radikulärzeichen. Die Schultergelenke seien frei beweglich. Im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) bestehe eine Teilfixation. Das Zeichen nach Schober habe 10 cm/13 cm betragen. Die Seitneigung betrage 10°/0/°/10° und die Rückbeugung 10°. Röntgenologisch zeige sich im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) eine deutliche Zwischenwirbelraum (ZWR)-Verschmälerung von C3-C6. Die LWS zeige eine keilförmige ZWR-Verschmälerung mit Spondyarthose bei L5/S1. Die Fachärztin für Phoniatrie und HNO-Fachärztin Dr. S. (S. O.-Klinikum H.) berichtete über eine Zunahme der Tinnitusbeschwerden sowie eine schleichende Innenohrschwerhörigkeit bei der Vorstellung am 30. März 2011. Beim Kläger bestünde eine hochtonbetonte Innenohrschwerhörigkeit. Zusätzliche Hinweise auf eine Verarbeitungs- oder Wahrnehmungsstörung hätten dagegen nicht vorgelegen. Dem Befund waren weitere Audiometriebefunde beigefügt.

Der Versorgungsarzt Dr. S. wertete diese Befunde aus und hielt einen Gesamt-GdB von 20 für gerechtfertigt (Ohrgeräusche, Hörminderung (Einzel-GdB 20); Funktionsminderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10); Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), Pigmentstörungen im Gesicht (Einzel-GdB 10)).

Daraufhin hörte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 2. November 2012 zum beabsichtigten Erlass eines Aufhebungsbescheides nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) an, da nach Ablauf der vorgesehenen Zeit der Heilungsbewährung der GdB nur noch nach der tatsächlich bestehenden Beeinträchtigung zu beurteilen sei. Hinsichtlich der Funktionsbeeinträchtigung der Erkrankung der Vorsteherdrüse sei die vorgesehene Zeit der Heilungsbewährung abgelaufen. Insoweit sei eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten. Der maßgebliche Feststellungsbescheid solle wie folgt geändert werden: "Herabsetzung des GdB auf 20".

Dagegen wandte sich der Kläger und machte geltend: Infolge der Chemotherapie leide er an vermehrtem Harndrang und habe deswegen Durchschlafstörungen. Die Urethrotomie habe nur eine kurzzeitige Linderung gebracht. Danach hätten sich die Schmerzen in der Harnröhre wieder verstärkt. Mit Hilfe des Hörgerätes habe sich die Hörfähigkeit auf dem linken Ohr verbessert, jedoch der Tinnitus verschlimmert. Zudem sei es zu Reizungen des Ohres gekommen. Die Wirbelsäulenbeeinträchtigungen seien vom Beklagten zu gering bewertet worden.

Der Beklagte holte einen erneuten Befundschein von Dr. S. ein, der über starke Harnbeschwerden und einen schwächeren Harnstrahl berichtete. In Auswertung dieses Befundes hielt der Vertragsarzt Dr. S. als weitere Behinderung Miktionsstörungen leichten Grades (Einzel-GdB 10) für gegeben. Dies erhöhe jedoch nicht den Gesamt-GdB. Dipl.-Med. W. legte einen weiteren Befundschein vom 28. Januar 2013 vor. Hiernach habe der Kläger über eine Zunahme der Tinnitusbeschwerden berichtet. In der Anlage befand sich der Arztbrief der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B., die am 18. Dezember 2002 über eine rezidivierende depressive Störung (gegenwärtig leichte Episode) und eine Stabilisierung der Schlafstörungen durch eine medikamentöse Einstellung berichtet hatte.

Mit Bescheid vom 14. Februar 2013 hob der Beklagte den Bescheid vom 10. Oktober 2007 mit Wirkung vom 1. März auf und stellte einen GdB von 20 fest. Zur Begründung gab er an, nach § 48 SGB X sei eine Neufeststellung mit Wirkung für die Zukunft vorzunehmen, wenn seit der letzten Feststellung zu Grunde eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers hätten sich seit der letzten Entscheidung insoweit geändert, als für die festgestellte Behinderung einer Erkrankung der Vorsteherdrüse kein GdB mehr vergeben werden könne, da kein Krankheitsrezidiv aufgetreten sei. Die verbliebenen Erkrankungen rechtfertigen einen Gesamt-GdB von 20.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 28. Februar 2013 Widerspruch ein und machte geltend: Neben der wieder beginnenden Harnröhrenverengung habe er auch Erektionsprobleme. Der aktuellste Befund von Dipl.-Med. W. sei vom Beklagten nicht beachtet worden. Infolge des verstärkten Tinnitus sei es zu Einschlaf- und Durchschlafstörungen sowie einer zunehmenden depressiven Störung gekommen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 2013 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Kläger am 16. Dezember 2003, nunmehr vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, Klage beim Sozialgericht (SG) Magdeburg erhoben, sein Begehren weiterverfolgt und ergänzend ausgeführt: Er leide an vermehrtem Harndrang sowie an Schmerzen beim Wasserlassen. Für diese Entleerungsstörung sei ein Einzel-GdB von mindestens 20 gerechtfertigt. Für die Hörminderung sowie den deutlich verschlechterten Tinnitus sowie die nicht berücksichtigte depressive Störung seien höhere Einzel-GdB zu bilden. Gleiches gelte für das Wirbelsäulensyndrom, die Kopfschmerzen und die schmerzhaften Verspannungen sowie die Kribbelparästhesien.

Das SG hat medizinische Ermittlungen durchgeführt und Befundberichte eingeholt. Dr. S. hat am 10. Oktober 2014 eine Entleerungsstörung leichten Grades sowie einen stabilen gesundheitlichen Zustand berichtet. Dipl.-Med. W. hat am 27. Oktober 2014 mitgeteilt, es sei keine Verbesserung der Hörfähigkeit links eingetreten. Nach der Hörgeräteversorgung sei es vermehrt zu Gehörgangentzündungen sowie einer Verstärkung des Tinnitus gekommen. Auf dem rechten Ohr bestehe annähernde Normalhörigkeit. Linksseitig bestehe eine geringgradige Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust von 20 bis 40 %. Psychopharmaka seien nicht verschrieben worden. Bei Stress verstärke sich der Tinnitus, der das tägliche Leben sowie die Lebensqualität beeinträchtige. Dr. S. hat am 24. Oktober 2014 über eine letzte Behandlung vom 13. August 2013 angegeben: Der Kläger habe über Ruhe- und Belastungsschmerzen der HWS und LWS sowie über Schmerzen im linken Sprunggelenk geklagt. Die Beschwerden seien gleichbleibend geblieben. Wie häufig die Beschwerden aufgetreten seien, könne nicht angegeben werden, da der Kläger nur in größeren Abständen vorstellig geworden sei. Unter dem Mai 2012 hat sie die bereits bekannten Messwerte der HWS/LWS wiederholt und zum 2. Mai 2013 angegeben: "Zustand nach Wadenbeinfraktur am 4. März 2013, jetzt Schmerzen im linken Sprunggelenk. Linkes Sprunggelenk - endgradig eingeschränkte Extension und Flexion, Druckschmerz im Bereich der Bandansätze des Außenknöchels, leichte Weichteilschwellung." Röntgenbefunde der HWS seien u.a. als deutliche dorsale Spondylosteochondrose mit ZWR-Verschmälerung von C3 bis C6 und der LWS als angedeutet keilförmige ZWR-Verschmälerung und beginnende Spondyarthose bei L5/S1 zu werten. Im Bereich der Schulter habe eine rezidivierende Schmerzhaftigkeit beider Schultergelenke infolge eines Rotatorenmanschettensyndroms mit endgradig schmerzhafter Funktion in der Abduktion und Rotation vorgelegen.

Auf Nachfrage hat der Kläger angegeben, er sei nicht in psychiatrischer Behandlung, da er sich mit seiner Lebensgefährtin, die Psychotherapeutin sei, über aufgetretene Probleme besprechen könne.

Der Beklagte hat seine bisherige Bewertung verteidigt und eine Prüfärztliche Stellungnahme seiner Gutachterin S. vom 20. Januar 2015 vorgelegt: Hiernach seien der Tinnitus sowie die Hörminderung insgesamt mit einem GdB von 20 zu bewerten. Während die Tonaudiogramme vom Juni 2012, Januar 2013 und Mai 2014 eine zunehmende Hörminderung dokumentierten, die einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigen könne, sei nach dem letzten HNO-Befund sogar von einer Normalhörigkeit (rechts) und einer geringen Schwerhörigkeit (links) auszugehen. Der Tinnitus könne mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet werden. Eine psychische Störung sei nicht belegt; diesbezügliche Behandlungen hätten nicht stattgefunden. Für die Funktionsstörungen der Wirbelsäule sei ein Einzel-GdB von 10 zu vergeben. Gleiches gelte für den Bluthochdruck, die Pigmentstörungen und die Miktionsstörungen. Eine Fraktur des linken Unterschenkels im März 2013 habe offenbar keine erheblichen Folgewirkungen nach sich gezogen. Der Gesamt-GdB betrage 20.

Das SG hat mit Urteil vom 22. Januar 2016 den Bescheid vom 14. Februar 20014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 2013 abgeändert, einen GdB von 30 festgestellt und die weitergehende Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt: Der Tinnitus sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Nach dem Befundbericht von Dipl.-Med. W. sei für die Hörminderung dagegen kein GdB mehr zu vergeben. Die Miktionsstörungen bewegten sich im leichten Grad und rechtfertigten daher einen Einzel-GdB von 10. Bezüglich der Wirbelsäulenschäden sei ein Einzel-GdB von 20 zu bilden. Hierbei sei von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen der LWS und von geringen funktionellen Auswirkungen der HWS auszugehen. Die von Dr. S. beschriebene Einschränkung der HWS von 1/3 habe die Kammer bei Bewegungsvorführungen des Klägers nicht mehr erkennen können. Die Pigmentstörungen im Gesicht seien mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.

Der Kläger hat gegen das ihm 3. Februar 2016 zugestellte Urteil am 11. Februar 2016 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt und ergänzend geltend gemacht: Für die Hörminderung sowie den zusätzlich bestehenden Tinnitus sei ein GdB von insgesamt 30 angemessen. Die depressive Symptomatik hätte gesondert mit einem GdB von mindestens 20 bewertet werden müssen. Bezüglich der Wirbelsäulenschäden sei der gebildete GdB von 20 zu gering. Im Bereich der Lendenwirbelsäule sei von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen auszugehen. Hinzu kämen Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule von 1/3. Es lägen daher Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenbereichen vor, die eine GdB-Bewertung von 30 bis 40 ermöglichten. Die Schwerbehinderung sei daher erreicht.

Mit Ausführungsbescheid vom 9. Februar 2016 hat der Beklagte ab dem 1. März 2013 den GdB auf 30 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festgestellt.


Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Januar 2016 und den Bescheid des Beklagten vom 14. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 2013 und des Ausführungsbescheides vom 9. Februar 2016 aufzuheben.


Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen einer Herzerkrankung mit Stentversorgung stellte der Kläger beim Beklagten am 27. Juni 2016 einen Neufeststellungsantrag. Der Beklagte holte in diesem Zusammenhang einen Reha-Bericht der Klinik S. vom 3. November 2015 über einen stationären Aufenthalt vom 13. Oktober bis 3. November 2015 ein. Nach Ablehnungsbescheid und Widerspruch des Klägers erklärte sich dieser mit einem Ruhen des Neufeststellungsverfahrens einverstanden.

Am 19. Juni 2017 hat der Kläger erklärt, dass zum Stichtag des 4. Dezember 2013 (Datum des Widerspruchsbescheides) keine weiteren medizinischen Unterlagen bekannt seien. Der Beklagte hat den Kläger mit Schreiben vom 10. Mai 2017 nach einem gerichtlichen Hinweis erneut angehört.

Am 21. Juli 2017 haben der Beklagte und am 15. August 2017 der Kläger einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGG) zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und die Gerichtsakte beider Rechtszüge verwiesen. Diese Akten haben bei der Beratung und Entscheidungsfindung des Senats vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Gemäß § 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 SGG kann ein Urteil ohne mündliche Verhandlung ergehen, wenn die Beteiligten ausdrücklich zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung angehört wurden und hierzu von ihnen auch ausdrücklich ein Einverständnis mit dieser Entscheidung erklärt wurde. Diese Voraussetzung ist gegeben. Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Die form- und fristgemäß eingelegte und gemäß § 143 SGG auch statthafte Berufung ist unbegründet. Der Beklagte hat mit dem angefochtenen Bescheid vom 14. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 2013 sowie des Ausführungsbescheides vom 9. Februar 2016 zu Recht den Bescheid vom 10. Oktober 2007 aufgehoben und festgestellt, dass die verbliebenen Gesundheitsstörungen einen GdB von 30 bedingen. Die angefochtenen Bescheide in Gestalt des Urteilstenors des SG vom 22. Januar 2016 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).

Gegenstand des Rechtsstreits ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG gegen einen belastenden Verwaltungsakt. Dabei ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide der Erlass des Widerspruchsbescheids am 4. Dezember 2013 und damit die Sach- und Rechtslage zu diesem Zeitpunkt (vgl. BSG, Urteil vom 18. September 2003, B 9 SB 6/02 R, juris). Das Neufeststellungsverfahren des Klägers hat wegen dieses Prüfungszeitpunktes keinen Einfluss auf den Rechtsstreit.

Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig. Insbesondere ist die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung zu einer beabsichtigten Herabsetzung des GdB von 50 mit Wirkung für die Zukunft mit Schreiben vom 2. November 2012 und vom 10. Mai 2017 erfolgt.

Ihre materielle Ermächtigungsgrundlage finden die vom Kläger angefochtenen Bescheide in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Anlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Als wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes gilt, wobei dies sowohl hinsichtlich der Besserung als auch Verschlechterung anzunehmen ist, jedenfalls eine Veränderung, die es erforderlich macht, den Gesamtgrad der Behinderung um mindestens 10 anzuheben oder abzusenken.

Auf der Grundlage von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X hat der Beklagte wirksam den Bescheid vom 10. Oktober 2007 aufgehoben und die Funktionsstörungen des Klägers in Gestalt des Ausführungsbescheides vom 9. Februar 2016 korrekt mit einem Behinderungsgrad von 30 ab 1. März 2013 festgestellt. In der Zeit zwischen Erlass dieses Bescheids und dem Widerspruchsbescheid am 4. Dezember 2013 ist eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen durch den Ablauf einer Heilungsbewährung eingetreten, die nicht mehr den mit Bescheid vom 10. Oktober 2007 festgestellten GdB von 50, sondern ab 1. März 2013 einen GdB von 30 rechtfertigt. Die Behandlungen aufgrund der Prostatakrebserkrankung waren zum Zeitpunkt des Aufhebungsbescheides bereits über fünf Jahre abgeschlossen und ein Rezidiv ist nach dem Bericht des Urologen Dr. S. nicht wieder aufgetreten. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.

Dieser Ablauf der Heilungsbewährung stellt eine tatsächliche Veränderung im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X dar. Die Zeitdauer der Heilungsbewährung bei malignen Erkrankungen basiert auf Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft über die Gefahr des Auftretens einer Rezidiverkrankung in den ersten fünf Jahren nach der Erstbehandlung sowie der regelmäßig vorhandenen subjektiven Befürchtung vor einem Rezidiv. Die Heilungsbewährung erfasst darüber hinaus auch die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, der Beseitigung und der Nachbehandlung eines Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies rechtfertigt es nach der sozialmedizinischen Erfahrung, bei Krebserkrankungen zunächst nicht nur den Organverlust zu bewerten. Vielmehr ist hier zunächst für einen gewissen Zeitraum unterschiedslos der Schwerbehindertenstatus zu gewähren. Die pauschale, umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung kann jedoch nicht auf Dauer Bestand haben. Da nach der medizinischen Erfahrung nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit die Krebserkrankung überwunden ist und außerdem neben der unmittelbaren Lebensbedrohung auch die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind, ist der GdB dann nur noch anhand der noch verbliebenen Funktionseinschränkungen zu bewerten (BSG, Urteil vom 9. August 1995, 9 RVs 14/94, juris).

Für die Feststellung des GdB anhand der noch verbliebenen Funktionseinschränkungen zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 2013) ist das SGB IX maßgebend. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Regelung knüpft materiell-rechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft (bzw. Funktionsbeeinträchtigungen) vorliegen, wird nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung festgestellt.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Nach § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des Schweregrades - dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS) - nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Die hierfür maßgebenden Grundsätze sind in der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) aufgestellt worden, zu deren Erlass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch § 30 Ab. 16 BVG ermächtigt ist.

Nach § 2 VersMedV sind die auch für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15. Dezember 2008, G 5702, zitiert als VMG) als deren Bestandteil festgelegt und damit nunmehr der Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte mit der rechtlichen Verbindlichkeit einer Rechtsverordnung zugrunde zu legen.

Der hier streitigen Bemessung des GdB ist die GdS-Tabelle der VMG (Teil B) zugrunde zu legen. Nach den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil B, Nr. 1 a) sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte. In jedem Einzelfall sind alle die Teilhabe beeinträchtigenden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 2 e (Teil A) genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1 a).

Nach diesem Maßstab kann für die Funktionseinschränkungen des Klägers kein höherer GdB als 30 festgestellt werden. Die bei ihm nach Ablauf der Heilungsbewährung von fünf Jahren vorliegenden Funktionseinschränkungen rechtfertigen nach den eingeholten Befundberichten nebst Anlagen unter Berücksichtigung der versorgungsärztlichen Stellungnahmen zum Zeitpunkt des 4. Dezember 2013 keinen höheren GdB als 30.

a) Die Gesundheitsstörungen infolge des malignen Prostatatumors sowie der erektilen Dysfunktion sind jeweils dem Funktionssystem Geschlechtsapparat zuzuordnen und richten sich nach Ablauf der Heilungsbewährung nach den verbliebenen Funktionsstörungen. Für diesen Funktionsbereich besteht wegen noch verbliebener Miktionsstörungen ein Einzel-GdB von 10.

aa) Für den malignen Prostatatumor, der mittels kurativer Radiatio (Strahlentherapie) behandelt worden ist, kann nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit kein GdB mehr festgestellt werden. Während der Heilungsbewährungszeit von fünf Jahren ist ein GdB von 50 festzustellen (Teil B, Nr. 13.6 VMG). Verblieben sind danach lediglich ein gehäufter Harndrang mit Beeinträchtigungen des Urinstrahles, die der Senat als Entleerungsstörung Grad I (vgl. Teil B, Nr. 12.2.2 VMG) bewertet. Dafür ist ein Einzel-GdB von 10 festzustellen, wie dies auch von den Vertragsärzten des Beklagten überzeugend vertreten worden ist.

bb) Dem Funktionssystem der männlichen Geschlechtsorgane ist auch die von Dr. S. diagnostizierte erektile Dysfunktion zuzuordnen. Da jedoch keine Impotentia coeundi vorliegt und auch keine darauf bezogene Behandlung erfolglos geblieben ist sowie ärztlich dokumentiert ist, kann hierfür kein Einzel-GdB vergeben werden (vgl. Teil B, Nr. 13.2 VMG).

b) Bezüglich des Funktionssystems Ohren ist ein GdB von 30 gerechtfertigt. Dieser setzt sich aus einer Schwerhörigkeit (links stärker als rechts) sowie einem beidseitigen Tinnitus zusammen. Nach den von der ärztlichen Gutachterin des Beklagten am 20. Januar 2015 ausgewerteten Tonaudiogrammen kann von einer zunehmenden Hörminderung ausgegangen werden, die einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigt. Der Senat misst dabei den von der Gutachterin S. ausgewerteten Audiogrammen eine erhebliche Bedeutung zu. Dagegen widerspricht die von Dipl.-Med. W. im Befundbericht vom 27. Oktober 2014 vorgenommene pauschale Einschätzung einer Normalhörigkeit (rechts) und geringen Schwerhörigkeit (links) diesen Ergebnissen der Tonaudiogramme und ist eher im Sinne einer Erfolgsbeschreibung des Einsatzes der neuen Hörgeräteversorgung zu werten. Eine medizinische Erklärung hat sie für diese Einschätzung nicht gegeben.

Hinzu kommt ein diagnostizierter Tinnitus, der mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen verbunden ist, die sich in Unruhe sowie Schlafstörungen äußerten. Hierfür kann nach Teil B, Nr. 5.4 der VMG ein GdB von 20 angenommen werden.

Aus beiden Einzelbehinderungen kann für das Funktionssystem Ohren ein Gesamt-GdB von 30 gebildet werden, da sich das Gesamtausmaß der Behinderung durch die Schwerhörigkeit und den Tinnitus verstärkt und damit eine Erhöhung auf einen GdB von 30 in diesem Funktionssystem rechtfertigt.

c) Das Bluthochdruckleiden des Klägers betrifft das Funktionssystem Herz und Kreislauf und rechtfertigt zum Prüfungszeitpunkt als leichte Form einen GdB von 10. Nach Teil B, Nr. 9.3 der VMG ist die leichte Form der Hypertonie, bei der keine oder eine geringe Leistungsbeeinträchtigung und höchstens leichte Augenhintergrundveränderungen vorliegen, mit einem GdB von 0 bis zu 10 zu bewerten. Die mittelschwere Form eröffnet je nach Leistungsbeeinträchtigung einen Bewertungsrahmen von 20 bis 40. Kriterien dafür sind Organbeteiligungen leichten bis mittleren Grades (Augenhintergrundveränderungen - Fundus hypertonicus I bis II - und/oder Linkshypertrophie des Herzens und/oder Proteinurie) sowie diastolischer Blutdruck mehrfach über 100 mmHg trotz Behandlung. Diese Einschränkungen liegen beim Kläger noch nicht vor. Dabei durfte der Senat - wegen des auf den 4. Dezember 2013 beschränkten Prüfungsrahmens der Anfechtungsklage - die auf kardiologischem Gebiet möglicherweise eingetretene Verschlechterung (vgl. Reha-Klinik S.) im Jahr 2015 nicht berücksichtigen.

d) Der Kläger leidet an Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, die dem Funktionssystem Rumpf zuzuordnen sind. Dafür ist maximal ein GdB von 20 festzustellen. Für Wirbelsäuleneinschränkungen sind die maßgeblichen Bewertungskriterien in Teil B, Nr. 18.9 VMG vorgegeben. Danach folgt der GdB bei Wirbelsäulenschäden primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung, der Wirbelsäuleninstabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Abschnitte der Wirbelsäule. Nach Teil B, Nr. 18.9 VMG rechtfertigen erst mittelgradige funktionelle Auswirkungen von Wirbelsäulenschäden in einem Wirbelsäulenabschnitt, z.B. eine anhaltende Bewegungseinschränkung oder eine Instabilität mittleren Grades, einen Einzel-GdB von 20. Funktionsstörungen geringeren Grades bedingen allenfalls einen Einzel-GdB von 10. Schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) rechtfertigen einen GdB von 30.

Unter Anwendung dieses Bewertungsmaßstabs lässt sich bis zum 4. Dezember 2013 bezüglich der Wirbelsäulenbeeinträchtigungen ein GdB von maximal 20 feststellen. Nach dem Befundbericht der Orthopädin Dr. S. von Juni 2012 bestand beim Kläger im Bereich der Halswirbelsäule ein chronisch rezidivierendes Cervicobrachialsyndrom mit einer Funktionseinschränkung von 1/3 in allen Richtungen und im Bereich der Lendenwirbelsäule ein lumbales Pseudoradikulärsyndrom mit Paraesthesien in beiden Beinen bei einer Teilfixation mit einer Seitneigung von 10° sowie einer Rückbeugung von 10°. Entgegen der Ansicht des Klägers lässt sich die Einordnung dieses Befundes nicht im Sinne eines Wirbelsäulenschadens mit mittelgradigen funktionalen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten (GdB von 30 bis 40) bewerten. Auf der Grundlage des orthopädischen Befundes von Dr. S. von Juni 2012 zeigte sich in der für die Feststellung der Behinderung maßgeblichen Funktionsbeeinträchtigung zwischen der Lendenwirbel- und Halswirbelsäule ein unterschiedliches Bild. Während die HWS lediglich eine Bewegungseinschränkung von 1/3 in allen Richtungen aufwies, zeigte sich im Bereich der LWS eine Teilfixation, mit deutlichen Einschränkungen in der Seitneigung sowie Rückbeugung von nur 10°. Somit ist es nachvollziehbar, wenn die Versorgungsärzte des Beklagten nur im Bereich der LWS von einer mittelgradigen Auswirkung in einem Wirbelsäulenabschnitt ausgegangen sind. Im Bereich der HWS kann dagegen nur von leichten Funktionseinschränkungen ausgegangen werden. Die Grenze eines Wirbelsäulenschadens mit mittelgradigen funktionalen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, der mit einem GdB von 30 bewertet werden kann, ist damit noch nicht erreicht. Für diese Bewertung spricht auch der Umstand, dass der Kläger bei seiner Orthopädin Dr. S. nur in größeren Abständen vorstellig geworden ist, was auf eine eher leichtere Beeinträchtigung ohne erheblichen Leidensdruck durch die Wirbelsäulenschäden schließen lässt. Offenbar kam es nur im Mai 2012 und am 2. Mai 2013 zu eingehenden Untersuchungen des Klägers auf orthopädischem Gebiet. Während im Mai 2012 die Befunde der Hals- und Lendenwirbelsäule im Vordergrund standen, war dies im Mai 2013 die Wadenbeinfraktur mit endgradigen Sprunggelenksbeeinträchtigungen (links). Eine zielgerichtete und intensivere Behandlung des Beschwerdebildes der Wirbelsäule des Klägers (z.B. Physiotherapie; Schmerztherapie usw.) hat dagegen nicht stattgefunden, was wiederum gegen ausgeprägtere Wirbelsäulensyndrome spricht. Signifikant ist dabei auch die Röntgenbildbewertung von Dr. S., die nur für die HWS deutliche degenerative ZWR-Verschmälerungen beschreibt, während die LWS allenfalls angedeutete ZWR-Verschmälerungen aufwies. Zudem hat Dr. S. auch über keine Radikulärzeichen, die eine höhere Bewertung zulassen würden, berichtet.

e) Das Rotatorenmanschettensyndrom beider Schultern betrifft das Funktionssystem der oberen Extremitäten und kann wegen freier Schulterbeweglichkeit und allenfalls endgradig dokumentierter Bewegungseinschränkungen nur mit einem Einzel-GdB von höchstens 10 bewertet werden (vgl. Teil B, Nr. 18.13 VMG).

f) Die Pigmentstörung im Gesicht ist nach den prüfärztlichen Stellungnahmen des Beklagten mit einem Einzel-GdB von 10 (Teil B, Nr. 17.12 VMG) zu bewerten. Dem ist auch der Kläger in seiner Berufungsschrift vom 15. August 2016 nicht entgegengetreten.

g) Weitere Gesundheitsstörungen, die einem anderen Funktionssystem zuzuordnen sind und zumindest einen Einzelbehinderungsgrad von 10 zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids gerechtfertigt haben, sind ärztlich nicht dokumentiert. Die Wadenbeinfraktur mit endgradiger Sprunggelenksbeeinträchtigung (links) und die Hypercholesterinämie blieben nach den vorliegenden Befunden offenbar ohne funktionale Auswirkungen und rechtfertigen daher keinen Einzel-GdB. Die vom Kläger geltend gemachte rezidivierende depressive Störung hat das SG zu Recht unberücksichtigt gelassen. Es fehlt insoweit an fachärztlichen Diagnosen zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides. Die im Jahr 2002 durch Dr. B. vorgenommene fachärztliche Behandlung (auch medikamentös) wurde in der Folgezeit offensichtlich nicht fortgesetzt. Gespräche mit der Lebenspartnerin können keine fachärztliche Behandlung ersetzen.

h) Da bei dem Kläger Einzelbehinderungen aus verschiedenen Funktionssystemen mit einem messbaren GdB vorliegen, ist nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der Gesamtbehinderungsgrad zu ermitteln. Dafür sind die Grundsätze nach Teil A, 3 VMG anzuwenden. Nach Nr. 3c ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad bedingt und dann zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Zehnergrad ein oder mehr Zehnergrade hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.

Zunächst ist daher für das Funktionssystem Ohren von einem GdB von 30 wegen der Schwerhörigkeit sowie Tinnitus auszugehen. Eine weitere Erhöhung aufgrund der weiteren, geringfügigen Beeinträchtigungen ist dagegen ausgeschlossen. Der Wirbelsäulenschaden, der mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten ist, genügt hierfür nicht. Zwischen diesen beiden Funktionssystemen kann nicht von einer sich verstärkenden Wechselwirkung ausgegangen werden. Denn das Gesamtausmaß der Behinderung wird durch diese - nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil A, Nr. 3 ee VMG) noch als leichte Funktionseinschränkung zu bewertende Behinderungen - nicht größer. Die weiteren mit einem GdB von 10 bewerteten Funktionsbehinderungen führen ebenfalls nicht zur Erhöhung des Gesamt-GdB, denn von einem hier nicht vorliegenden Ausnahmefall abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes des Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen vorliegen (vgl. Teil A, Nr. 3 ee VMG).

i) Letztlich widerspräche die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft bei dem Kläger dem nach Teil A, Nr. 3b VMG zu berücksichtigenden Vergleichsmaßstab. So spricht gegen die Annahme einer Schwerbehinderung ein wertungsmäßiger Vergleich mit anderen Erkrankungsgruppen, für die ein Einzel-GdB von 50 festgestellt werden kann. Die Schwerbehinderteneigenschaft kann nur angenommen werden, wenn die zu berücksichtigende Gesamtauswirkung der Funktionsstörungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft so schwer wie etwa die vollständige Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, der Verlust eines Beins im Unterschenkel oder eine Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung beeinträchtigen. Eine derartig schwere Funktionsstörung liegt beim Kläger nicht vor. Dieser verfehlt diese Grenze zum maßgeblichen Zeitpunkt vielmehr noch deutlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 SGG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R8184


Informationsstand: 23.04.2019