Urteil
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht - GdB-Höhe nach Ablauf der Heilungsbewährung - Prostatakrebserkrankung

Gericht:

LSG Nordrhein-Westfalen 6. Senat


Aktenzeichen:

L 6 (7) SB 135/06


Urteil vom:

05.01.2011


Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 31.07.2006 wird zurückgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Bei dem im Jahre 1944 geborenen Kläger wurde im Oktober 1999 ein Prostatakarzinom diagnostiziert und eine radikale Prostatovesikulektomie durchgeführt. Durch Bescheid vom 15.03.2000 wurde der Grad der Behinderung (GdB) wegen "1) Verlust der Prostata bei Gewebsneubildung, anhaltende Harninkontinenz" (Einzel-GdB 60) und "2) Depressionen" (Einzel-GdB 20) auf insgesamt 60 festgesetzt.

Nach Einholung eines Befundberichtes des Allgemeinmediziners Dr. F vom 16.12.2004 und Anhörung des Klägers setzte das Versorgungsamt L durch Bescheid vom 22.02.2005 den GdB nach Ablauf der Heilungsbewährung herab auf 20 wegen der Beeinträchtigungen "1) Depressionen" (Einzel-GdB 20) "2) Rückfällige Wirbelsäulensyndrome bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen" (Einzel-GdB 10) "3) Harninkontinenz" (Einzel-GdB 10). Auf den Widerspruch des Klägers holte das Versorgungsamt einen Befundbericht des Urologen Dr. N ein, der dem Kläger auch eine Stressinkontinenz 1. bis 2. Grades sowie eine erektile Dysfunktion bescheinigte. Da die Harninkontinenz nunmehr mit einem GdB von 20 zu bewerten sei, half das Versorgungsamt dem Widerspruch durch Bescheid vom 23.06.2005 insoweit ab, als der GdB mit 30 festgestellt wurde. Den weitergehenden Widerspruch wies die Bezirksregierung Münster durch Widerspruchsbescheid vom 20.09.2005 als unbegründet zurück:

Mit der am 20.10.2005 beim Sozialgericht (SG) Köln erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt.

Er hat zunächst vorgetragen, die bei ihm bestehende erektile Dysfunktion sei nach wie vor nicht berücksichtigt worden. Auch leide er psychisch sehr unter seiner Unfähigkeit, den Beischlaf auszuführen. Deshalb sei der GdB weiterhin mit mindestens 50 zu bewerten. Er hat sich in seiner Auffassung durch das Ergebnis der Beweisaufnahme bestätigt gesehen.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung von Sachverständigengutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. Dr. C vom 03.03.2006 sowie des Urologen Prof. Dr. I vom 16.02.2006. Der urologische Sachverständige hat einen Einzel-GdB von jeweils 20 angesetzt für den Zustand nach Heilungsbewährung bei Prostatakarzinom mit Inkontinenz und eine Sexualfunktionsstörung mit Impotentia coeundi (erektile Dysfunktion). Für diese Funktionsstörungen der Harn- und Geschlechtsorgane hat er einen GdB von insgesamt 30 vorgeschlagen. Der Sachverständige Dr. Dr. C für sein Fachgebiet hat zusätzlich eine chronifizierte Belastungsstörung mit depressiven Störungen und Somatisierungsstörungen mit dem Einzel-GdB 30 bemessen und den Gesamt-GdB mit 50 eingeschätzt. Dies hat er mit einer Überschneidung der funktionellen Auswirkungen der Sexualfunktionsstörungen sowie der Inkontinenz mit den psychischen Belastungsreaktionen und den damit einhergehenden Beeinträchtigungen der Erlebens- und Gestaltungsfähigkeit in intimen Beziehungen und auch der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen begründet.

In der mündlichen Verhandlung vom 31.07.2006 hat die Beklagte ein Teilanerkenntnis abgegeben, wonach der Gesamt-GdB ab 22.02.2005 mit 40 bewertet wird; dieses hat der Kläger angenommen. Die weiter gehende Klage hat das SG mit Urteil vom selben Tage als unbegründet abgewiesen: Mit dem rezidivfreien Ablauf der Heilungsbewährung sei die Neubewertung des Leidens eröffnet, wobei nur noch der bestehende Funktionsverlust, aber nicht mehr die im Zeitraum der Heilungsbewährung noch bestehende hohe Rezidivgefahr und die damit verbundenen psychischen Ängste berücksichtigt würden. Der GdB betrage in der Gesamtschau der körperlichen und seelischen Folgen der Prostatakrebserkrankung nach den Gutachten der Sachverständigen 40. Dem habe die Beklagte in der mündlichen Verhandlung durch Abgabe eines entsprechenden Teilanerkenntnisses Rechnung getragen.

Gegen das ihm am 09.08.2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14.08.2006 Berufung eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen, seine psychischen Beeinträchtigungen seien schon im Zeitpunkt des Herabsetzungsbescheides mit einem deutlich höheren GdB zu bewerten gewesen. Die Entscheidung der Beklagten, den Gesamt-GdB nur auf 40 ab Februar 2005 festzusetzen, sei für ihn nicht akzeptabel. Die erektile Dysfunktion mit einem Einzel-GdB von 20, die Anpassungsstörung mit depressiver und phobischer Symptomatik (Einzel-GdB 30) und ein bisher nicht diagnostiziertes gesteigertes sexuelles Verlangen mit einem Einzel-GdB von 30 rechtfertigten die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 31.07.2006 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 22.02.2005 unter Einschluss des Abhilfebescheides vom 23.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2005 und des das Teilanerkenntnis vom 31.07.2006 ausführenden Bescheides vom 15.08.2006 zu verurteilen, den Gesamt-GdB ab 22.02.2005 mit 50 zu bewerten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurück zu weisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig; das Ergebnis der Beweisaufnahme rechtfertige keinen höheren GdB als 40.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat das Gericht die Beweisaufnahme fortgeführt: Die vom Kläger benannte Psychotherapeutin Dr. C1, B, führt in ihrem Gutachten vom 15.12. 2008 aus, es sei zwar von einer Heilungsbewährung bei Prostatakarzinom (Einzel-GdB 20) auszugehen. Hinzu komme aber die erektile Dysfunktion (Einzel-GdB 20) sowie die Anpassungsstörung mit depressiver und phobischer Symptomatik (Einzel-GdB 30) und ein bisher nicht diagnostiziertes gesteigertes sexuelles Verlangen (GdB 30). Die Symptomatik führe zu einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Der Gesamt-GdB sei ab Februar 2005 mit 50 zu bemessen. Der Sachverständige Prof. Dr. F1, L, hat den GdB auf seinem Fachgebiet mit 10 für die erektile Dysfunktion ab März 2005 und für die Harninkontinenz als Folge der Prostataoperation ab März 2005 bis März 2008 mit 20 und ab März 2008 mit 10 eingeschätzt. Die Reduktion gegenüber den Angaben der Vorgutachter bestehe darin, dass bisher nicht der lebensaltertypische Zustand ausreichend berücksichtigt worden sei. Die Bemessung des GdB setze eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Bei einem über 60 jährigen starken Raucher bestehe ein deutliches Risiko für eine erektile Dysfunktion. Dieses treffe etwa jeden zweiten langjährigen starken Raucher dieser Altersgruppe. Der bisherige Anstieg des prostataspezifischen Antigens (PSA) habe als "PSA-Rezidiv" noch zu keiner Behinderung geführt. Im weiteren Verlauf sei in etwa 2 Jahren - ca. 2010/2011 - bei entsprechender PSA-Anstiegsgeschwindigkeit damit zu rechnen, dass eine erneute Therapie notwendig werde, möglicherweise eine Hormonbehandlung, dann werde eine Änderung im GdB eintreten. Unter Berücksichtigung der Einzel GdB auf psychotherapeutischem Gebiet mit jeweils 30 für das gesteigerte sexuelle Verlangen sowie die Anpassungsstörung mit depressiver und phobischer Symptomatik hat Prof. Dr. F1 einen Gesamt-GdB von 40 ab März 2005 bis März 2008 und seit März 2008 von 30 vorgeschlagen.

Nach Einwendungen des Klägers gegen Feststellungen und Bewertungen durch den Sachverständigen Prof. Dr. F1 hat der Senat von diesem ergänzende gutachterliche Äußerungen eingeholt, die dieser unter dem 08.10.2009 und 26.07.2010 erstellt hat und auf deren Inhalt verwiesen wird.

Im Rahmen des Erörterungstermins vom 26.10.2010 ist der Kläger darauf hingewiesen worden, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg haben dürfte; die Beteiligten sind zu der Möglichkeit, durch Urteilsbeschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG zu entscheiden, gehört worden und haben sich ausdrücklich mit einer solchen Verfahrensweise einverstanden erklärt.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsakte verwiesen. Dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen

Rechtsweg:

SG Köln, Urteil vom 31.07.2006 - S 8 SB 355/05

Quelle:

Justizportal des Landes NRW

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nach einstimmiger Auffassung des Senats nicht begründet; eine weitere mündliche Verhandlung hält der Senat nicht für erforderlich. Das Rechtsmittel wird daher ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewiesen, nachdem die Beteiligten dazu gehört worden sind (§ 153 Abs. 4 SGG).

Die frist- und formgerecht erhobene Berufung ist zulässig. Der/die richtige Beklagte ist im Berufungsverfahren seit dem 01.01.2008 die für den Kläger zuständige kommunale Gebietskörperschaft und nicht mehr das Land Nordrhein-Westfalen (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung Senatsurteil vom 12.02.2008, L 6 B 101/06 (bestätigt vom Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 26.02.2008, L 6 SB 35/05 (ebenfalls bestätigt vom BSG, Urteil vom 23.04.2009, B 9 SB 3/08 R), L 6 V 28/07 (rechtskräftig).

Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide vom 22.02.2005 und vom 23.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2005 und des Bescheides vom 15.08.2006 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Der GdB ist zulässigerweise und zutreffend auf 40 festgesetzt worden. Die Festsetzung eines höheren GdB ist nicht gerechtfertigt.

Rechtsgrundlage des mit der Klage angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Bei den Feststellungsbescheiden nach § 69 Abs. 1 und 2 SGB IX handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (vgl. bereits zum Schwerbehindertengesetz BSG, Urteil vom 19.09.2000 - B 9 SB 3/00 R -, juris). Eine Aufhebung ist dabei nur "insoweit" zulässig, als eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist (vgl. BSG, Urteil vom 19.09.2000, a. a. O.). Eine wesentliche Änderung ist anzunehmen, wenn sich durch eine Besserung oder Verschlechterung des Behinderungszustandes eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 ergibt. Die Änderung der Bezeichnung der Funktionsbeeinträchtigungen oder das Hinzutreten weiterer Funktionsbeeinträchtigungen allein ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB stellen keine wesentliche Änderung dar (vgl. BSG, Urteil vom 24.06.1998, - B 9 SB 18/97 R -; juris). Handelt es sich bei den anerkannten Behinderungen um solche, bei denen der GdB wegen der Art der Erkrankung höher festgesetzt wurde, als es die tatsächlich nachweisbaren Funktionseinschränkungen erfordern, liegt eine Änderung der Verhältnisse iSv § 48 SGB X auch dann vor, wenn für die den Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde liegenden Erkrankungen die sogenannte Heilungsbewährung abgelaufen ist.

Ob eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten ist, muss im Rahmen einer gegen einen Herabsetzungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage durch einen Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des letzten bindend gewordenen Bescheides mit denjenigen zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung der Beklagten ermittelt werden. Bei einer derartigen Neufeststellung handelt es sich nicht um eine reine Fortschreibung des im letzten maßgeblichen Bescheid festgestellten GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (vgl. BSG, Urteil vom 19.09.2000, - B 9 SB 3/00 R -; Senatsurteil vom 18.06.2002, - L 6 SB 142/00 -, jeweils in juris).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht es zur Überzeugung des Senats fest, dass im Gesundheitszustand des Klägers im Vergleich zu den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem bestandskräftigen Bescheid vom 15.03.2000 zugrunde gelegen haben, durch den rezidivfreien Ablauf der Zeit der sog Heilungsbewährung eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist. Diese rechtfertigt die Herabsetzung des GdB auf 40.

Im Jahre 2000 war bei dem Kläger - seinerzeit in Einklang mit Nr. 26.13 der damals anzuwendenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), Stand 1996, - wegen des Verlustes der Vorsteherdrüse (anhaltende Harninkontinenz ) ein GdB von 60 anzusetzen und eine Heilungsbewährung von fünf Jahren abzuwarten. Nach Nr. 18 Abs. 7 AHP wie auch heute nach Teil A 2 h) Anlage zu § 2 VersmedV vom 10.12.2008 (BGBl I 2412 (VMG)) handelt es sich bei der Heilungsbewährungszeit um einen Zeitraum, in dem bei Gesundheitsstörungen, die zu Rezidiven neigen, der Verlauf der Genesung abgewartet werden muss. Hinzu kommt, dass während dieser Zeit ein höherer GdB-Wert, als er sich aus dem festgestellten Schaden ergibt, festgestellt wird. Der Grund für die Feststellung eines GdB von 60 nach Diagnose und Entfernung der von einem malignen Tumor befallenen Vorsteherdrüse war und ist vor allem in der psychisch außergewöhnlich belastenden Situation zu sehen, die für den Erkrankten mit dem Wissen um seine Tumorerkrankung mit Rezidivneigung verbunden ist. Berücksichtigt werden außerdem ggf. Operationsfolgen und eventuell notwendige postoperative Tumortherapien. Auch das BSG hat im Urteil vom 09.08.1995 - 9 RVs 14/94 - ausgeführt, es sei Sinn der Heilungsbewährung, Krebskranken unterschiedslos zunächst den Status eines Schwerbehinderten zuzubilligen, um dadurch körperliche und seelische Auswirkungen der Erkrankung während des weitgehend noch labilen postoperativen Zustands, der eine unbestimmte Zahl von körperlichen und seelischen Störungen mit sich bringt, umfassend zu berücksichtigen.

Der Heilungsbewährungszeitraum ist hier abgelaufen. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gibt es weder Anhaltspunkte für ein Rezidiv oder eine Metastasierung, noch für eine außergewöhnliche psychoreaktive Störung.

Der zeitweilige Anstieg des prostataspezifischen Antigens (PSA) nach vollständiger operativer Entfernung der Prostata spricht nicht gegen die Rezidivfreiheit. Zwar deutet nach der Beurteilung des ärztlichen Sachverständigenbeirats im Schwerbehindertenrecht bei dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) der PSA-Anstieg auf ein lokales Rezidiv oder auf eine eingetretene Metastasierung hin (Beirat vom 25. 11.1998 bis 26.11.1998 "Gutachtliche Beurteilung des Prostatakarzinoms"). Wenn jedoch nach einer transurethralen Prostataresektion ein vorher erhöhter PSA-Wert auf einen sehr niedrigen Wert abfällt und - wie hier - nach den Gutachten von Prof. Dr. I für das SG und von Prof. Dr. F1 gemäß § 109 SGG im Berufungsverfahren - dieser deutlich erniedrigte PSA-Wert über einen längeren Beobachtungszeitraum konstant bleibt, so ist dies nach Auffassung des Beirats ein Indiz für die Tumorentfernung. Im Übrigen ist aber erst im Februar 2006 ein messbarer PSA-Wert festgestellt worden, so dass bezogen auf den Zeitpunkt der ursprünglich angefochtenen Verwaltungsentscheidung - das Verwaltungsverfahren endete mit Erteilung des Widerspruchsbescheides - Umstände, die als Indiz für ein Rezidiv gelten könnten, nicht vorlagen.

Die im Zeitpunkt der Herabsetzungsentscheidung vorliegenden Beeinträchtigungen erfordern einen GdB von jedenfalls nicht mehr als 40.

Der damals bestehende Organschaden in Gestalt der Blasenschwäche mit relativer Stressinkontinenz bedingt ebenso wie die erektile Dysfunktion als Impotentia coeundi bei nachgewiesener erfolgloser Behandlung einen GdB von 20. Einen Einzelwert lediglich von 10 für die letztgenannte Beeinträchtigung, wie von dem Sachverständigen Prof. Dr. F1 mit Blick auf die Rauchgewohnheiten des Klägers mehrfach thematisiert, hält der Senat nicht für zutreffend. Die Bemessung des GdB stellt nicht auf Einzelfälle ab, sondern bewertet Regelwidrigkeiten gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand. Wenn auch bei einem über 60jährigen starken Raucher ein deutlich erhöhtes Risiko für eine erektile Dysfunktion bestehen mag, ist dieser Personenkreis doch nicht derjenige, der den für das Lebensalter typischen Zustand bestimmt. Zudem fehlt es, wie Prof. Dr. F1 selbst ausgeführt hat, an Untersuchungen, die zweifelsfrei und konkret die Abhängigkeit der jeweils vorliegenden Erektionsstörung von den Rauchgewohnheiten des Betroffenen nachweisen könnten. Die Gesundheitsstörungen der Harn- und Geschlechtsorgane rechtfertigen in der Zusammenschau - wie durch den vom SG von Amts wegen gehörten Sachverständigen Prof. Dr. I ausgeführt und im angefochtenen Urteil auch zutreffend und überzeugend dargelegt - einen Einzel-GdB von 30 (s auch VMG Teil B Nr. 12.2, Nr. 13. 6).

Den Wirbelsäulenveränderungen des Klägers allein ist nach den VMG mit einem GdB von 10 Rechnung zu tragen (Teil B Nr. 18 9 VMG).

Die psychische Beeinträchtigung hat der vom SG nach §§ 103, 106 SGG gehörte neurologischpsychiatrische Sachverständige. Dr. Dr. C in seinem Gutachten ebenfalls mit 30 eingeschätzt. Dies ist nachvollziehbar, überzeugend und entspricht den VMG Teil B Nr. 3.7.

Hingegen folgt der Senat nicht dem Gutachten der nach § 109 SGG gehörten Frau Dr. C1. Ihr Ansatz, es sei neben der Anpassungsstörung mit depressiver und phobischer Symptomatik (Einzel-GdB 30) ein bisher nicht diagnostiziertes gesteigertes sexuelles Verlangen mit dem weiteren Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen, vermag nicht zu überzeugen. Denn grundsätzlich ist die Impotentia coeundi (Unvermögen, den Beischlaf überhaupt oder in physiologischer Weise auszuführen) normalerweise eine Begleiterscheinung einer anderen Gesundheitsstörung und daher (in einem Einzel-GdB) zusammen mit der anderen Gesundheitsstörung zu beurteilen. Bei außergewöhnlichen psychoreaktiven Störungen kann unabhängig von der die Impotenz auslösenden Erkrankung ein GdB von bis zu 40 in Ansatz gebracht werden. Bei isolierter Betrachtung soll im Allgemeinen ein GdB von 20 angemessen sein (Ärzlicher Sachverständigenbeirat beim BMA, 24.04.1985: "Beurteilung des GdB bei Impotenz"). Der Verlust der Zeugungsfähigkeit führt aber regelhaft zu seelischen Begleiterscheinungen (so schon BSG, Urteil vom 22.04.1959 - 11/9 RV 232/57, juris = BSGE 9, 291). Dem hatte bereits der vom SG gehörte Sachverständige Dr. Dr. C in seinem Gutachten vom 03.03.2006 nachvollziehbar und überzeugend Rechnung getragen, indem er die Feststellung einer chronifizierten Belastungsstörung mit depressiven Störungen und Somatisierungsstörungen mit dem Einzel-GdB 30 vorgeschlagen hatte. Er hatte dies mit dem Zusammenwirken der funktionellen Auswirkungen der Sexualfunktionsstörungen sowie der Inkontinenz mit den psychischen Belastungsreaktionen und den damit einhergehenden Beeinträchtigungen der Erlebens- und Gestaltungsfähigkeit in intimen Beziehungen sowie bei der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen begründet. Soweit der Kläger vorbringt, kein Sexualleben mehr zu haben, ist die innere Konfliktsituation damit umfassend und auch hinreichend bewertet. Auch wenn die Auswirkungen im einzelnen nur schwer fassbar sind, bedarf es dafür zur Überzeugung des Senats angesichts der für die Prostatacarcinom-Operation typischen Begleiterscheinungen nicht zusätzlich eines GdB 30 allein für ein gesteigertes sexuelles Verlangen des Klägers. Diesem Verlangen kommt daneben keine selbstständige Bedeutung mehr als Behinderung im Sinne des SGB IX und der VMG zu. Es ist als solches nicht etwa als dauerhafte Beeinträchtigung mit Krankheitswert ausgestaltet wie etwa bei Behinderungen von Seiten des Nervensystems oder der Psyche (vgl. VMG Teil B., Nr. 3). Das hat Dr. C1 im Übrigen selbst erkannt, wenn sie neben dem gesteigerten sexuellen Verlangen des Kläger selbstständig noch für eine Anpassungsstörung mit depressiver und phobischer Symptomatik einen gesonderten Einzel-GdB von 30 veranschlagt. Bei dem hier regelhaft eingetretenen Verlust der Potenz als Operationsfolge der Prostatakrebstherapie ist allein die vorgenannte Anpassungsstörung als maßgebliche "seelische Begleiterscheinung" anzunehmen.

Die Auswirkungen der genannten Leiden bedingen - darauf hat die Beklagte mit dem Teilanerkenntnis zutreffend reagiert - einen GdB von bereits 40. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist nach den AHP und nachfolgend den VMG von der schwerwiegendsten Gesundheitsstörung ausgehend zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderungen durch die anderen Funktionsbeeinträchtigungen vergrößert wird. Maßgeblich sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (Nr. 19 Abs. 3, 4 AHP bzw. Teil A Ziffer 3, S.10 der nun anzuwendenden VMG). Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB erhöht ein Einzel-GdB von 10, der sich nicht besonders nachteilig auf eine schon vorliegende Behinderung auswirkt, grundsätzlich den Gesamt-GdB nicht; auch leichte Funktionsbeeinträchtigungen mit dem Einzel-GdB 20 rechtfertigen es vielfach nicht, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VMG aaO; BSG vom 13.12.2000 - B 9 V 8/00 R-, juris).

In Anwendung dieser Maßstäbe ist ein Gesamt-GdB von 40 angemessen, aber auch ausreichend. Die Bewertung des Gesamt-GdB mit 40 gilt für die Zeit ab Erlass des angefochtenen Änderungsbescheides. Der Gesamt-GdB bildet sich aus den GdB-Werten für die Auswirkungen der psychischen Beeinträchtigung einerseits und der urologischen Leiden andererseits, denen jeweils mit einem GdB von 30 Rechnung getragen wurde. Ausgehend von einem GdB von jeweils 30 sowohl für die Auswirkungen der urologischen Behinderungen bereits nach dem vom SG eingeholten Gutachten von Prof. Dr. I als auch für das von Dr. Dr. C erstinstanzlich zutreffend bewertete psychische Leiden, die sich mit Blick auf die Beeinträchtigung im Teilbereich der Impotentia coeundi überschneiden, hält es der Senat für geboten, den Gesamt-GdB mit 40 ab Februar 2005 zu bewerten. Ein GdB von 50 oder mehr wird in der Zusammenschau mit den weiteren Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Kläger sicher nicht erreicht. Insoweit ist vorab die Wirbelsäulenveränderung mit dem GdB von nur 10 ersichtlich nicht geeignet, sich bei der Bildung des Gesamt-GdB erhöhend auszuwirken. Dies führt nicht zu einer spürbaren Zunahme des Ausmaßes der Beeinträchtigung; besondere Schweregrade kommen der Beeinträchtigung auch nicht zu, weder im Sinne der AHP 2008 Ziffer 19 Abs. 4 S. 26 noch nach den nun geltenden VMG, Teil A Ziffer 3 d) ee), S.10.

Die Entscheidung über die Kostenerstattung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Gründe für eine Revisionszulassung sind nicht gegeben (§ 160 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 SGG).

Referenznummer:

R/R8095


Informationsstand: 03.05.2019