Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Klägerin im Termin verhandeln und entscheiden (§ 153
Abs. 1 in Verbindung mit § 110
Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 19. Januar 2012 die Anfechtungsklage der Klägerin zu Unrecht abgewiesen, da der Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2008, mit welchem er den im Bescheid vom 8. Juni 2005 festgesetzten
GdB von 80 auf 70 herabgesetzt und der Klägerin die Merkzeichen "aG" und "T" entzog, rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheides vom 8. Juni 2005 ist § 48
Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (
SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Hierbei sind die im Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die im Zeitpunkt des letzten Feststellungsbescheides vorhanden gewesen sind, zu vergleichen.
Der ursprüngliche Festsetzungsbescheid vom 8. Juni 2005 ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Im Vergleich zu den im Zeitpunkt des Aufhebungsbescheides der Beklagten vom 15. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2008 bestehenden Verhältnissen hat der Senat indes keine wesentliche Änderung feststellen können.
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist in Fällen der vorliegenden Art, in denen um die Herabsetzung des
GdB bzw. die Entziehung von Merkzeichen gestritten wird, nicht bereits dann eingetreten, wenn in einem nach Erlass des Festsetzungsbescheides eingeholten Gutachten das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen maßgeblich geringer eingeschätzt wurde als in der ersten Entscheidung durch den Beklagten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass in dem Gesundheitszustand des Betroffenen Änderungen eingetreten sind, die nachvollziehbar die betreffenden Funktionsbeeinträchtigungen verringert haben. Für das Vorliegen dieser Änderung trifft den Beklagten, der sich in dem Aberkennungsbescheid hierauf beruft, die materielle Beweislast.
1. An diesen Maßstäben gemessen hat der Senat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass während des Zeitraumes von Juni 2005 bis Januar
bzw. Juni 2008 in dem Gesundheitszustand der Klägerin eine Änderung dergestalt eingetreten ist, die die Herabsetzung des ursprünglich festgestellten
GdB von 80 auf einen
GdB von 70 rechtfertigen würde.
Nach den
§§ 2 Abs. 1,
69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (
AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem hier maßgeblichen Zeitpunkt in den Fassungen von 2005 und 2008 sowie - ab 1. Januar 2009 - die in der
Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze".
Bereits die Feststellung des
GdB von 80 im Bescheid vom 8. Juni 2005 ist nicht nachvollziehbar. Denn es ist - auch unter Heranziehung der gutachterlichen Stellungnahme des Allgemeinmediziners
Dr. S vom 24. Mai 2005 - nicht ansatzweise zu erkennen, aus welchen Gründen der Beklagte die orthopädischen Leiden der Klägerin, die ohne Benennung der konkreten Behinderungen als "Polytraumatisierung mit entsprechenden Folgeschäden" bezeichnet wurden, mit einem Einzel-
GdB von 70 bewertet hatte. Auch die Bildung des Gesamt-
GdB von 80 bleibt unverständlich, da weder den von dem Beklagten herangezogenen medizinischen Unterlagen zu entnehmen ist, in welchem Verhältnis die orthopädischen zu den mit einem Einzel-
GdB von 20 bewerteten seelischen Leiden stehen, noch versorgungsärztliche Bewertungen getroffen wurden.
Dem Ergebnis der Ermittlungen des Beklagten lässt sich nicht entnehmen, ob und inwieweit der Umfang der Funktionsbeeinträchtigungen sich bis zu dem Herabsetzungsbescheid vom 15. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2008 maßgeblich verringerte. Der von dem Beklagten im Verwaltungsverfahren beauftragte Orthopäde J unterließ es in seinem Gutachten vom 9. August 2007 entgegen dem ausdrücklichen Auftrag des Beklagten nicht nur, bei der von ihm vorgeschlagenen Herabsetzung des Gesamt-
GdB im Vergleich zur letzten Feststellung anzugeben, "ob diese wegen wesentlicher Besserung, unrichtiger früherer Entscheidung oder nur unterschiedlicher Beurteilung erfolgt ist". Darüber hinaus ist seinen Feststellungen nicht unmittelbar zu entnehmen, ob überhaupt eine Verbesserung des Gesundheitszustandes stattfand. Ein Vergleich der früheren Funktionsbeeinträchtigungen mit dem in Gutachten festgestellten scheitert auch daran, dass die Leidensbezeichnungen neu formuliert wurden. Da der Gutachter als orthopädische Leiden "Funktionsbehinderung des Hüftgelenks beidseits, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Falschgelenkbildung des Oberschenkels beidseits, Funktionsbehinderung des Kniegelenks rechts" aufführte, aber hierfür pauschal einen Einzel-
GdB von 60 vorschlug, ohne konkret darzulegen, mit welchen Teil-
GdB er die einzelnen Leiden in Ansatz brachte, ist (entgegen der - fachfremden - Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen
Dr. A im psychiatrischen Gutachten vom 27. September 2011) diese Bewertung nicht nachzuvollziehen. Den von dem Gutachter erhobenen Befunden - insbesondere hinsichtlich der Hüftgelenke (Streckung/Beugung: rechts 0/0/125 und links 0/0/125) - lässt sich zwar unter Heranziehung der früher erhobenen Befunde - hier der im Reha-Entlassungsbericht vom 13. Oktober 2004 mitgeteilten Werte der Extension/Flexion der Hüftgelenke von rechts 0/0/90 und links 0/0/110 - entnehmen, dass teilweise eine Änderung eintrat. Welche Auswirkungen dies auf die Höhe des
GdB zeitigte, ist nicht festzustellen, zumal der Gutachter J andererseits darauf hinwies, dass die beidseitigen Femurpseudarthrosen im Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht ausreichend konsolidiert waren. Das hieraus folgende Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen wurde von ihm weder mitgeteilt noch erläutert.
2. Eine Änderung der Verhältnisse, aufgrund derer die von dem Beklagten mit dem hier angefochtenen Bescheid vorgenommene Entziehung des Merkzeichens "aG" gerechtfertigt wäre, ist ebenfalls nicht festzustellen.
Nach § 69
Abs. 4
SGB IX stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (
§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von der Klägerin begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach
Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind (siehe hierzu auch
Nr. 31 der
AHP von 2005).
Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (
BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in
Nr. 11 Abschnitt II
Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998,
B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so
BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002,
B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (
vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.).
Vorliegend hatte der Beklagte weder vor Erlass des Bescheides, mit dem er das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" feststellte, noch vor Erlass des Entziehungsbescheides hinreichende Ermittlungen durchgeführt. Maßgebliche Feststellungen für den Zeitpunkt Juni 2005 fehlen vollständig. Auch im Entziehungsverfahren traf der Beklagte keine Feststellungen über das Maß der körperlichen Anstrengungen der Klägerin, wenn diese sich außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegte. Insbesondere lässt der Bericht des Gutachters J, bei der Klägerin bestehe ein "schmerzhinkendes Gangbild an zwei Unterarmgehstützen, nicht raumgreifend, rechts betont, jedoch noch sicher", keinen sicheren Schluss auf das Vorliegen
bzw. Fehlen der genannten Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" zu.
3. Schließlich ist nicht zu erkennen, dass eine maßgebliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin hinsichtlich des Merkzeichens "T" zwischen 2005 und 2008 eingetreten wäre.
Nach § 1
Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes vom 31. Juli 2001 (GVBl.
S. 322), zuletzt geändert mit Verordnung vom 22. Juni 2005 (GVBl.
S. 342), setzt das Merkzeichen "T" voraus, dass ein mobilitätsbedingter
GdB von mindestens 80, Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen und das Merkzeichen "aG" gegenüber dem Versorgungsamt nachgewiesen wird.
Abgesehen davon, dass nach der eigenen Einschätzung des Beklagten im Zeitpunkt des Zuerkennungsbescheides vom 8. Juni 2005 bei der Klägerin kein mobilitätsbedingter
GdB von mindestens 80 vorgelegen haben dürfte, fehlen jegliche Ermittlungen über deren Fähigkeit, Treppen zu steigen. Da - wie ausgeführt - der Beklagte nicht berechtigt ist, der Klägerin das Merkzeichen "aG" zu entziehen, liegen unter diesem Aspekt die Voraussetzungen des Merkzeichens "T" weiterhin vor.
4. Die dargestellten offenen Fragen, insbesondere auf orthopädischem Gebiet, sind auch nicht durch die Ermittlungen des Sozialgerichts beantwortet worden. Dieses beschränkte sich darauf, Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie - nur auf einem der hier maßgeblichen medizinischen Fachgebiete - das Gutachten des Nervenarztes
Dr. A einzuholen. Der Senat sieht von dem Versuch einer weiteren Sachverhaltsaufklärung ab, da nicht zu erwarten ist, dass durch ein im jetzigen Zeitpunkt eingeholtes orthopädisches Sachverständigengutachten Erkenntnisse über den Gesundheitszustand der Klägerin vor mehr als sieben Jahren zu gewinnen sind, auf die sich die Überzeugungsbildung des Gerichts stützen könnte. Der Umstand, dass der Beklagte seinerzeit den Sachverhalt nicht umfassend ermittelt und auf dieser unsicheren Grundlage zeitlich unbefristete Feststellungen im Wege des Verwaltungsaktes getroffen hat, ohne dessen Befristung zu erwägen, geht zu seinen Lasten, wenn - wie hier - die in der Vergangenheit liegenden tatsächlichen Verhältnisse nicht mehr aufgeklärt werden können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2
SGG) sind nicht erfüllt.