Urteil
Bewertung einer seelischen Erkrankung im Schwerbehindertenrecht

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat


Aktenzeichen:

L 13 SB 2/16


Urteil vom:

15.12.2016


Grundlage:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. Oktober 2015 aufgehoben sowie der Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 21. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2012 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 6. Oktober 2014 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu 3/4 zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Auf den Antrag der Klägerin vom 21. März 2011 stellte der Beklagte bei ihr mit Bescheid vom 21. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2012 einen Grad der Behinderung von 40 fest. Hierbei ging er von folgenden Behinderungen aus:

1. psychosomatische Erkrankung (Einzel-GdB von 30),

2. Bauchfellverwachsungen (Einzel-GdB von 30),

3. Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 10).

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat die Klägerin zunächst einen Grad der Behinderung von 60 begehrt. Das Sozialgericht hat das Gutachten der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. S eingeholt, das am 20. November 2014 bei Gericht eingegangen ist. Nach Untersuchung der Klägerin am 6. Oktober 2014 hat die Sachverständige den Grad der Behinderung auf 50 eingeschätzt. Hierzu hat sie folgende Behinderungen ermittelt:

1. rezidivierende mittelgradige depressive Episode, somatoforme Schmerzstörung, Migräne, Lese-/Rechtschreibschwäche (Einzel-GdB von 40),

2. Atresiebeschwerden, Reizdarm (Einzel-GdB von 30),

3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen (Einzel-GdB von 10).

Unter dem 11. März 2015 hat die Gutachterin eine ergänzende Stellungnahme abgegeben.

Die Klägerin hat dem Sozialgericht das psychiatrische Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie R vom 13. April 2015 vorgelegt, welche die beamtenrechtliche Dienstfähigkeit der Klägerin verneint hat.

Die nur noch auf Feststellung eines GdB von 50 gerichtete Klage hat das Sozialgericht Frankfurt (Oder) mit Urteil vom 21. Oktober 2015 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Entgegen der Einschätzung der Sachverständigen seien die psychischen Störungen der Klägerin lediglich mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Unter Berücksichtigung der Funktionsstörungen im Funktionssystem "Verdauungsorgane" sei ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden. Eine weitere Höherstufung verbiete sich.

Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. Oktober 2015 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 21. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2012 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 6. Oktober 2014 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Rechtsweg:

SG Frankfurt/Oder, Urteil vom 21.10.2015 - S 24 SB 185/12

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten hiermit einverstanden sind (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.

Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 mit Wirkung ab dem 6. Oktober 2014.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.

Die seelische Erkrankung der Klägerin bedingt im streitgegenständlichen Zeitraum einen Einzel-GdB von 40. Der Senat folgt der überzeugenden Einschätzung der Sachverständigen Dr. S, die nach Untersuchung der Klägerin am 6. Oktober 2014 dargelegt hat, dass diese an einer rezidivierenden mittelgradigen depressiven Episode und einer somatoformen Schmerzstörung leidet. Diese sind als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit zu werten, für die nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV ein GdB-Rahmen von 30-40 vorgesehen ist. Nach Überzeugung des Senats ist vorliegend ein Einzel-GdB von 40 gerechtfertigt, da die sozialen Anpassungsschwierigkeiten der Klägerin zwar in ihrer Gesamtheit noch nicht einen mittelgradigen Ausprägungsgrad erreichen, der nach den Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätzen mit einem Einzel-GdB von 50-70 zu bewerten ist, sich diesem jedoch teilweise annähern. Denn deren seelische Leiden zeitigen deutliche berufliche Auswirkungen. Wie sich aus dem psychiatrischen Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie R vom 13. April 2015 ergibt, ist die Klägerin aufgrund ihrer psychischen Leiden mit depressiven Symptomen, erhöhter Ängstlichkeit, mangelnder psychischer Belastbarkeit und mangelnder Ein- und Umstellfähigkeit zur Erfüllung ihrer beamtenrechtlichen Dienstpflichten dauernd unfähig. Erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung sind dagegen nicht beschrieben worden.

Die Bewertung der Funktionseinschränkungen im Funktionssystem der Verdauungsorgane mit einem Einzel-GdB von 30 steht zwischen den Beteiligten - zu Recht - nicht im Streit.

Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.

Bei der Klägerin ist der Gesamt-GdB danach mit 50 festzusetzen. Der Einzel-GdB von 40 für das psychische Leiden ist nach Überzeugung des Senats im Hinblick auf die mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewertenden Behinderungen im Funktionssystem der Verdauungsorgane einen Zehnergrad heraufzusetzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens. Hierbei war zu berücksichtigen, dass die Klägerin mit dem im Klageverfahren geltend gemachten Begehren hinsichtlich des Zeitraums vom 21. März 2011 bis zum 5. Oktober 2014 nicht durchdringen konnte.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.

Referenznummer:

R/R7231


Informationsstand: 18.04.2017