Urteil
Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 16 Stunden

Gericht:

SG Saarbrücken 12. Kammer


Aktenzeichen:

S 12 AL 1088/19


Urteil vom:

12.05.2020


Grundlage:

Leitsätze:

Für die Frage, ob ein behinderter Mensch nach § 2 Abs. 3 SGB IX einem schwerbehinderten Menschen gleichzustellen ist, kommt es darauf an, ob er in Folge der Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX nicht erlangen oder nicht behalten kann. Beschäftigungen, die aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung im Rahmen von weniger als 18 Stunden wöchentlich ausgeübt werden, sind keine Beschäftigungen auf Arbeitsplätzen im Sinne von § 2 Abs. 3 SGB IX. Dies gilt auch, wenn die tatsächliche wöchentliche Beschäftigungszeit von der vereinbarten Arbeitszeit abweicht.

Quelle: ZB online 03/2020

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH)
DGB Rechtsschutz GmbH

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX.
Die am 28.07.1955 geborene Klägerin arbeitet seit November 1993 als Sortiererin bei der D., zurzeit als Teilzeitangestellte mit einer vertraglich vereinbarten Arbeitszeit von 16 Wochenstunden. Sie hat einen GdB von 40, kann allerdings ihre derzeitige Tätigkeit mit behinderungsbedingten Einschränkungen weiterausüben. Die Klägerin unterliegt dem besonderen tariflichen Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer gemäß § 34 MTV.

Am 09.07.2019 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX.
Mit Bescheid vom 06.08.2019 wurde der Antrag der Klägerin abgelehnt. Die Beklagte trug zur Begründung vor gemäß § 156 Abs. 3 SGB IX würden Beschäftigungen mit weniger als 18 Wochenstunden nicht als Arbeitsplätze im Sinne der Vorschrift gelten.

Mit Schreiben vom 28.06.2019 legte die Klägerin gegen den oben genannten Bescheid Widerspruch ein. Zur Begründung wurde vorgetragen, die Klägerin arbeite stets mehr als 16 Wochenstunden. Es verbiete sich daher an der arbeitsvertraglichen Arbeitszeit festzuhalten. § 156 Abs. 3 SGB IX sei in seiner aktuellen Fassung europarechtswidrig und diskriminierend.
Der Widerspruch wurde am 19.11.2019 mit der Begründung des Ausgangsbescheide zurückgewiesen.

Am 17.12.2019 erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht für das Saarland. Zusätzlich zum Vorbringen im Widerspruchsbescheid trägt die Klägerin vor, dass eine Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen zum Schutz ihres Arbeitsplatzes dringend erforderlich sei.


Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen unter Aufhebung des Bescheids vom 06.08.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2019 die Beklagte zu verurteilen, sie mit einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleichzustellen.


Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Zusätzlich zum Vorbringen aus Ausgangs- und Widerspruchsbescheid trägt die Beklagte vor, dass eine Gleichstellung nicht erforderlich sei. Die Klägerin genieße einen tarifvertraglichen besonderen Kündigungsschutz, welcher ausreichend sei, dass die Klägerin ihren Arbeitsplatz behalten könne. Bezüglich des übrigen Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Leistungsakte der Beklagten verwiesen.


II.

Das Gericht konnte gemäß § 105 Abs. 1 SGG durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist
.
Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX sollen Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen mit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX nicht erlangen oder nicht behalten können. § 156 SGB IX bestimmt, was unter einem Arbeitsplatz zu verstehen ist. Hiernach gelten Beschäftigungen, die aufgrund zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarungen weniger als 18 Stunden wöchentlich ausgeübt werden, nicht als Arbeitsplätze im Sinne von § 2 Abs. 3 SGB IX. Abzustellen ist hier alleine auf die vertraglich mit dem ursprünglichen Arbeitgeber vereinbarte Arbeitszeit; nur wenn diese weniger als 18 Stunden pro Woche beträgt, greift § 156 Abs. 3 Alt. 2 SGB IX ein (Goebel in Schlegel/Voelzke, juris-PK-SGB IX , 3. Aufl., § 156 SGB IX (Stand: 15.01.2018), Rn. 34). Laut Arbeitsvertrag ist die Klägerin in einem Umfang von 16 Wochenstunden tätig. Das die gelebte Wirklichkeit anders aussieht und die Klägerin tatsächlich zumeist mindestens 18 Wochenstunden im Betrieb des Arbeitgebers eingesetzt wird, ist ausweislich des klaren Wortlautes des § 156 Abs. 3 SGB IX unbeachtlich. Abzustellen ist alleine auf die „zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarungen“.

Es bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung in § 156 Abs. 3 SGB IX. Sie verstößt nicht gegen das Grundgesetz (GG), insbesondere nicht gegen Art 3 Abs. 1 iVm Abs. 3 Satz 2 GG (vgl. BVerfG NJW 2005, 737-738 zu den entsprechenden vor dem 1.7.2001 geltenden Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes). Die Vorschrift erlaubt durchaus differenzierende Regelung, soweit sie gerade dazu bestimmt sind, soziale oder sonstige Benachteiligungen auszugleichen (Scholz in: Maunz-Düring. GG. Kommentar. Stand Mai 2008. Art. 3 RDNR 174) ( So auch: Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 02. September 2008 - L 1 AL 35/07-; Rn. 25, juris zur Vorgängervorschrift des § 73 Abs. 3 SGB IX). Die gesetzlichen Reglung bewegt sich im Rahmen des weiten Gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums. Eine willkürliche Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter mit wöchentlicher Arbeitszeit von weniger als 18 Stunden ist nicht zu erkennen. Gleiches gilt auch für die in Titel III der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgezählten Gleichheitsrechte. Ein sonstiger Verstoß gegen Europarecht ist nicht zu erkennen.

Da die Klägerin somit keinen Arbeitsplatz im Sinne von § 2 Abs. 3 SGB IX innehat, kommt eine Gleichstellung nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R8575


Informationsstand: 01.02.2021