Urteil
Benachteiligung wegen Schwerbehinderung - unterbliebene Einladung zu Vorstellungsgespräch - Verfristung der Bewerbung - Darlegungs- und Beweislast

Gericht:

LAG Mecklenburg-Vorpommern 5. Kammer


Aktenzeichen:

5 Sa 3/23


Urteil vom:

05.12.2023


Grundlage:

Leitsatz:

1. Ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, begründet regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung. Das gilt auch für einen Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 165 S 3 SGB IX (juris: SGB 9) geregelte Pflicht zur Einladung eines schwerbehinderten oder diesem gleichgestellten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch.

2. Die Widerlegung der aus einem Verstoß gegen § 165 S 3 SGB IX folgenden Vermutung setzt den Nachweis voraus, dass die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch aufgrund von Umständen unterblieben ist, die weder einen Bezug zur Behinderung aufweisen noch die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers bzw. der Bewerberin berühren.

Rechtsweg:

vorgehend BAG, kein Datum verfügbar, 8 AZN 47/24
nachgehend BAG, 2. März 2024, 8 AZN 47/24, sonstige Erledigung: Rücknahme

Quelle:

Landesrecht Mecklenburg-Vorpommern

Tenor:

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund (Kammern Neubrandenburg) vom 24.11.2022 – 13 Ca 149/21 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Zahlung einer Entschädigung aus Gründen einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung, anknüpfend an die Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch.

Der im November 1987 geborene Kläger beendete seine Schulausbildung im Juli 2007 mit dem Abitur in der Fachrichtung Informations- und Kommunikationstechnologie. Nach Ableistung des Grundwehrdienstes nahm er am 01.09.2008 eine Laufbahnausbildung im gehobenen Dienst der Bundespolizei auf. Im August 2011 bestand er die Laufbahnprüfung des gehobenen Polizeivollzugsdienstes in der Bundespolizei mit der Note "befriedigend“ und erwarb den akademischen Grad "Diplom-Verwaltungswirt (FH)". Anschließend war er bis zum 13.05.2012 als Polizeikommissar bei der Bundespolizei Inspektion Flughafen M-Stadt tätig. Vom 14.05.2012 bis zum 31.12.2012 arbeitete er im Straßenverkehrsamt des Landkreises Z-Stadt als Sachbearbeiter Großraum-/Schwerverkehr. Am 01.10.2012 nahm er an der Universität Kassel, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, ein Studium zum Master of Public Administration auf. Vom 01.01.2013 bis zum 30.06.2014 war der Kläger als Sachbearbeiter für Personalangelegenheiten beim Vogtlandkreis beschäftigt. Dem folgten ab 01.07.2014 mehrere befristete Beschäftigungen bei der Stadt Z-Stadt, zunächst als Organisator, später als Leiter des Bürgerbüros und schließlich als Wirtschaftsförderer. Im Mai 2015 bestand der Kläger die Masterprüfung zum Master of Public Administration. Ab Februar 2018 arbeitete er in wechselnden Aufgabenbereichen bei einem privaten Sicherheitsunternehmen.

Das beklagte Amt, das rund 30 Mitarbeiter/innen beschäftigt, schrieb am 07.04.2020 über das Portal „Interamt.de“ den zum 01.09.2020 zu besetzenden Dienstposten "Amtsleitung für Zentrale Dienste und Finanzen (m/w/d)" mit einer Vergütung nach Entgeltgruppe 11 TVöD-VKA aus. Die Bewerbungsfrist lief bis Freitag, 08.05.2020. Auf diese Stelle bewarb sich der Kläger, bei dem zu diesem Zeitpunkt eine Schwerbehinderung mit einem GdB von 50 festgestellt war, mit dem per E-Mail übersandten Schreiben vom 11.05.2020, das mit Anlagen insgesamt 56 Seiten umfasste. In dem Bewerbungsanschreiben heißt es im letzten Absatz:

"…
Den von Ihnen dargestellten Aufgaben bin ich gewachsen und würde mich freuen, sie bewältigen zu dürfen. Meine Eigenschaft als Schwerbehinderter hat keinen Einfluss auf meine Arbeitsleistung bei dieser Stelle. Auf eine persönliche Vorstellung freue ich mich sehr und verbleibe,
mit freundlichen Grüßen
…“

Die E-Mail ging bei der zuständigen Personalsachbearbeiterin, Frau H., am Montag, 11.05.2020, um 06:29 Uhr ein. Die Personalsachbearbeiterin leitete die E-Mail um 08:48 Uhr an den Leitenden Verwaltungsbeamten weiter. Dieser druckte die E-Mail aus und vermerkte darauf handschriftlich "verfristet!". Er wies die Personalleiterin an, dem Kläger eine Absage zu erteilen. Eine Schwerbehindertenvertretung existiert bei dem Beklagten nicht.

Mit E-Mail vom 22.11.2020 erkundigte sich der Kläger nach dem Stand des Bewerbungsverfahrens. Der Beklagte antwortete darauf mit E-Mail vom 26.11.2020 und verwies auf die schriftliche Absage mit Datum vom 15.05.2020.

Mit Schreiben vom 24.01.2021 forderte der Kläger von dem Beklagten eine Entschädigung in Höhe des geschätzten Gehaltes für drei Monate, nämlich € 11.568,33. Aktuell ist der Kläger bei einem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes im Raum A-Stadt tätig und dort wohnhaft.

Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass der Beklagte ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe. Ein öffentlicher Arbeitgeber sei nach § 165 Satz 3 SGB IX verpflichtet, einen schwerbehinderten Bewerber, sofern er nicht offensichtlich ungeeignet sei, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Das habe der Beklagte versäumt. Die geringfügige Überschreitung der Bewerbungsfrist sei unerheblich. Zu Beginn des ersten Arbeitstages nach Ablauf der Bewerbungsfrist sei das Bewerbungsverfahren noch nicht so weit gediehen, dass eine Einbeziehung des Klägers dieses verzögert hätte. Die Bewerbung müsse trotz Fristüberschreitung in das Verfahren einbezogen werden, da eine Bewerbungsfrist keine Ausschlussfrist sei. Entgegen der Behauptung des Beklagten versende der Kläger Bewerbungen nicht nur verspätet, sondern auch innerhalb der Bewerbungsfrist, wie es beispielsweise beim Bundeseisenbahnvermögen in B-Stadt geschehen sei. Seine Bewerbung sei nicht rechtsmissbräuchlich. Der Kläger habe ein ernsthaftes Interesse an einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst, auch außerhalb von Sachsen. Er habe an zahlreichen Vorstellungsgesprächen bei verschiedenen Arbeitgebern teilgenommen, wie sich aus den zur Akte gereichten Anlagen ergebe. Ein Schreiben des Beklagten vom 15.05.2020 habe er nicht erhalten. Angemessen sei aus Sicht des Klägers eine Entschädigung in Höhe von 1,5 Bruttovergütungen, also ein Betrag von € 6.208,65.

Das Arbeitsgericht hat die Klage, da der Kläger zur Güteverhandlung nicht erschienen ist, durch Versäumnisurteil vom 10.06.2021 abgewiesen. Der Kläger hat gegen das ihm am 02.07.2021 zugestellte Versäumnisurteil fristgerecht Einspruch eingelegt und erstinstanzlich zuletzt beantragt,

das Versäumnisurteil vom 10.06.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger eine angemessene Entschädigung in Geld nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Zugang der Klageschrift zu bezahlen.


Der Beklagte hat beantragt, das klageabweisende Versäumnisurteil aufrechtzuerhalten. Der Beklagte habe den Kläger nicht wegen einer Schwerbehinderung benachteiligt, sondern entsprechend seiner ständigen Praxis allein auf die Verfristung der Bewerbung abgestellt. Seit dem Jahr 2019 bewerbe sich der Kläger regelmäßig verspätet auf Stellenanzeigen. Beispielhaft seien die folgenden Rechtsstreite erwähnt: Arbeitsgericht Bautzen (4 Ca 4274/19), Arbeitsgericht Schwerin (6 Ca 1714/19), Arbeitsgericht Schwerin (6 Ca 538/20), Arbeitsgericht Saarbrücken (6 Ca 585/20), Arbeitsgericht Würzburg (12 Ca 689/90), Arbeitsgericht Nordhausen (1 Ca 360/21), Arbeitsgericht Suhl (3 Ca 370/21). Die Bewerbung sei rechtsmissbräuchlich. Der Kläger habe zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, seinen Lebensmittelpunkt nach D-Stadt zu verlegen. Werde er zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, reise er nur an, wenn eine Erstattung der Kosten zugesagt sei.

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben zu der üblichen Vorgehensweise des Beklagten bei verfristeten Bewerbungen und hierzu den Leitenden Verwaltungsbeamten als Zeugen vernommen. Im Anschluss an die Beweisaufnahme hat das Arbeitsgericht das klageabweisende Versäumnisurteil aufrechterhalten und zur Begründung ausgeführt, dass der Kläger zwar durch den Ausschluss aus dem Bewerbungsverfahren eine Benachteiligung erfahren habe, dies jedoch nicht wegen seiner Schwerbehinderung. Hiervon sei die Kammer nach der Beweisaufnahme überzeugt. Die sich aus der unterbliebenen Einladung ergebende Vermutung für eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung sei widerlegt. Die Schwerbehinderung des Klägers habe das Bewerbungsverfahren weder positiv noch negativ beeinflusst. Der Beklagte habe – wenn auch zu Unrecht – ausschließlich die Versäumung der Bewerbungsfrist im Blick gehabt. Bei dem Beklagten sei es bislang ständige Praxis gewesen, verfristete Bewerbungen auszusortieren, ohne sich mit der Bewerbung überhaupt näher zu befassen. Der Zeuge habe lebensnah und durchaus plausibel geschildert, dass ein anderes Vorgehen seiner Vorstellung von einer effizienten Verwaltung widerspreche.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Das Arbeitsgericht habe nicht berücksichtigt, dass der Beklagte als Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes verpflichtet sei, Bewerbungsschreiben vollständig zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Der Beklagte müsse die Erfüllung seiner gesetzlichen Pflichten zur Förderung schwerbehinderter Bewerber durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherstellen. Das gelte eben auch für verspätet eingegangene Bewerbungen. Andernfalls werde der vom Gesetzgeber beabsichtigte Schutz schwerbehinderter Bewerber ausgehöhlt. Der Kläger habe die Stellenausschreibung des Beklagten erst am 07.05.2020 zur Kenntnis genommen. An diesem Tag habe er ein Vorstellungsgespräch beim Landschaftsverband W—L-Stadt wahrgenommen. Am Folgetag sei er schon frühmorgens zu einem Gerichtstermin nach S-Stadt gereist.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund (Kammern Neubrandenburg) vom 24.11.2022 – 13 Ca 149/21 – abzuändern, das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts vom 10.06.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger eine angemessene Entschädigung in Geld nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Zustellung der Klageschrift zu zahlen.


Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringen. Eine Benachteiligung aufgrund der Schwerbehinderung sei gerade nicht Motiv oder Bestandteil eines Motivbündels gewesen. Die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts habe der Kläger nicht angegriffen. Das Absageschreiben an den Kläger vom 15.05.2020 habe der Beklagte am 19.05.2020 zur Post gegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht und mit der zutreffenden Begründung die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht macht sich die Ausführungen der Vorinstanz zu eigen.

Der Kläger hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auf Zahlung einer Entschädigung, da er nicht wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde.

Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG kann ein Beschäftigter bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, vom Arbeitgeber eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Als Beschäftigte gelten auch die Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis (§ 6 Abs. 1 Satz 2 AGG).

Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, also aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität, benachteiligt werden (§ 7 Abs. 1 AGG). Arbeitgeber dürfen schwerbehinderte Beschäftigte nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu die Regelungen des AGG (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGB IX).

Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Das spezielle Benachteiligungsverbot des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verbietet eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Zwischen der benachteiligenden Behandlung und einem in § 1 AGG genannten Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen (BAG, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 18, juris = ZTR 2023, 657; BAG, Urteil vom 19. Januar 2023 – 8 AZR 437/21 – Rn. 29, juris = NZA 2023, 688).

Soweit es um eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund im Sinne von § 1 AGG bzw. die Schwerbehinderung anknüpft oder durch diese/n motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt (BAG, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 19, juris = ZTR 2023, 657; BAG, Urteil vom 19. Januar 2023 – 8 AZR 437/21 – Rn. 30, juris = NZA 2023, 688).

§ 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 20, juris = ZTR 2023, 657; BAG, Urteil vom 19. Januar 2023 – 8 AZR 437/21 – Rn. 31, juris = NZA 2023, 688).

Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 21, juris = ZTR 2023, 657; BAG, Urteil vom 19. Januar 2023 – 8 AZR 437/21 – Rn. 32, juris = NZA 2023, 688).

Ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, begründet regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung. Diese Pflichtverletzungen sind grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein (BAG, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 22, juris = ZTR 2023, 657). Das gilt auch für einen Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 165 Satz 3 SGB IX geregelte Pflicht zur Einladung eines schwerbehinderten oder diesem gleichgestellten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch (BAG, Urteil vom 19. Januar 2023 – 8 AZR 437/21 – Rn. 33, juris = NZA 2023, 688).

Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Hierfür gilt allerdings das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (BAG, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 23, juris = ZTR 2023, 657; BAG, Urteil vom 25. November 2021 – 8 AZR 313/20 – Rn. 27, juris = NZA 2022, 638).

Schwerbehinderte Bewerber/innen sollen durch das in § 165 Satz 3 SGB IX genannte Vorstellungsgespräch die Möglichkeit erhalten, ihre Chancen im Auswahlverfahren zu verbessern. Sie sollen die Chance haben, den Arbeitgeber von ihrer Eignung (im weitesten Sinne) zu überzeugen. Über die schriftlichen Bewerbungsunterlagen hinaus soll sich der Arbeitgeber ein Bild von der Persönlichkeit des Bewerbers, seinem Auftreten, seiner Leistungsfähigkeit und seiner Eignung machen. Weiter stellt das Vorstellungsgespräch auch ein geeignetes Mittel dar, um eventuelle Vorbehalte oder gar Vorurteile auszuräumen (BAG, Urteil vom 25. Juni 2020 – 8 AZR 75/19 – Rn. 38 = NZA 2020, 1626; BAG, Urteil vom 22. August 2013 – 8 AZR 563/12 – Rn. 59, juris = ZTR 2014, 113).

Ein Bewerber, der seine Schwerbehinderung bei der Behandlung seiner Bewerbung berücksichtigt wissen will, muss den (potentiellen) Arbeitgeber rechtzeitig hierüber in Kenntnis setzen. Um rechtzeitig zu sein, muss die Information über die Schwerbehinderung regelmäßig in der Bewerbung, sofern eine Bewerbungsfrist gesetzt ist, jedenfalls bis zum Ablauf dieser Frist gegeben werden (BAG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – 8 AZR 171/20 – Rn. 36, juris = NZA 2021, 631). Ausnahmsweise kann im Einzelfall auch eine spätere Mitteilung ausreichend sein. Dies kann allerdings nur dann angenommen werden, wenn es dem Arbeitgeber im Einzelfall unter Berücksichtigung seines Interesses an einer ordnungsgemäßen Durchführung des Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahrens und an einer zügigen Entscheidung über die Besetzung der Stelle(n) noch zumutbar ist, den zugunsten schwerbehinderter Menschen bestehenden Verfahrens- und/oder Förderpflichten nachzukommen (BAG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – 8 AZR 171/20 – Rn. 39, juris = NZA 2021, 631).

Davon zu unterscheiden ist der Bewerbungsverfahrensanspruch aus Art. 33 Abs. 2 GG, der allen Bewerbern zusteht. Danach hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.

Der Bewerbungsverfahrensanspruch vermittelt einen Anspruch auf verfahrensfehlerfreie Einbeziehung der eigenen Bewerbung in das Verfahren, gibt aber grundsätzlich keinen Schutz vor neuen, weiteren Mitbewerbern im noch laufenden Stellenbesetzungsverfahren. Denn das Verfahren dient in erster Linie dem öffentlichen Interesse an der Gewinnung des bestgeeigneten Bewerbers für eine offene Stelle. Art. 33 Abs. 2 GG gibt vorbehaltlos und uneingeschränkt vor, die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes durch die Vergabe öffentlicher Ämter an die am besten geeigneten Bewerber sicherzustellen. Die in Ausschreibungen gesetzten Bewerbungsfristen sind keine Ausschlussfristen, sondern dienen allein dem Interesse des Dienstherrn an einer zügigen Stellenbesetzung. Der Dienstherr ist nicht gehindert, die Suche nach dem am besten geeigneten Bewerber auch nach Ablauf der Bewerbungsfrist fortzuführen (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 – 2 C 6/11 – Rn. 30, juris = ZTR 2013, 345).

Ein Bewerber hat immer dann einen Anspruch auf Einbeziehung in ein laufendes Stellenbesetzungsverfahren trotz Ablaufs der Bewerbungsfrist, wenn dies zu keiner nennenswerten Verzögerung des Verfahrens führt. Auf die zu erwartende Verzögerung wird sich der Dienstherr regelmäßig berufen können, wenn das Verfahren bereits das Stadium der Entscheidungsreife erreicht hat, d. h. der Leistungsvergleich, dokumentiert durch den sogenannten Auswahlvermerk, stattgefunden hat. Auch dann muss der Dienstherr die Zurückweisung nachvollziehbar begründen (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 – 2 C 6/11 – Rn. 31, juris = ZTR 2013, 345).

Unabhängig davon wird ein Bewerber jedoch regelmäßig darum bemüht sein, die gesetzte Bewerbungsfrist einzuhalten. Daran zeigt sich u. a. das Organisationsvermögen und die Zuverlässigkeit eines Bewerbers, was üblicherweise für die Stellenvergabe von Bedeutung ist. War eine Überschreitung der Bewerbungsfrist aus nachvollziehbaren Gründen nicht zu vermeiden, liegt es nahe, hierzu eine Erklärung abzugeben, um die Chancen im Auswahlverfahren zu wahren.

Die Widerlegung der aus einem Verstoß gegen § 165 Satz 3 SGB IX folgenden Vermutung setzt den Nachweis voraus, dass die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch aufgrund von Umständen unterblieben ist, die weder einen Bezug zur Behinderung aufweisen noch die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers bzw. der Bewerberin berühren (BAG, Urteil vom 29. April 2021 – 8 AZR 279/20 – Rn. 65, juris = NZA 2021, 1553; BAG, Urteil vom 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 50, juris = NZA 2017, 43).

Der Beklagte hat den Kläger von vornherein aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen und ihn damit weniger günstig behandelt als andere Bewerber/innen. Folglich hat er den Kläger entgegen § 165 Satz 3 SGB IX auch nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Nach den Feststellungen des Arbeitsgerichts, die das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen hat, ist die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch aufgrund von Umständen unterblieben, die weder einen Bezug zur Behinderung aufweisen noch die fachliche Eignung des Klägers betreffen. Das Arbeitsgericht hat die Ursache des Ausschlusses aus dem weiteren Bewerbungsverfahren allein in der Verfristung der Bewerbung gesehen. Eine Verletzung des allgemeinen Bewerbungsverfahrensanspruchs führt zwar auch zu einer Benachteiligung des Bewerbers. Eine solche Benachteiligung weist jedoch nicht zwangsläufig einen Zusammenhang mit einer Schwerbehinderung auf. Ebenso wenig löst sie einen Entschädigungsanspruch nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aus, sondern gewährt ggf. die Möglichkeit, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine endgültige Besetzung der Stelle zeitweise zu verhindern. Zudem können sich daraus Schadensersatzansprüche ergeben. Die beim Beklagten "gelebte Praxis" mag rechtswidrig sein. Sie trifft jedoch alle Bewerber/innen gleichermaßen, und zwar unabhängig von einer Schwerbehinderung, dem Geschlecht, der ethnischen Herkunft, der Religion etc.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

Referenznummer:

R/R9707


Informationsstand: 18.04.2024