Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 12.01.2005 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Umstritten ist, ob die Klägerin einem schwerbehinderten Menschen gleichzustellen ist.
Die am 00.00.1951 geborene Klägerin ist gelernte Einzelhandelskauffrau und seit 1991 bei der Beigeladenen als Bankangestellte vollschichtig beschäftigt. Das Land Nordrhein-Westfalen hat bei ihr mit Bescheid vom 30.10.1998 einen Gesamtgrad der Behinderung (Gesamt-GdB) von 30 v. H. aufgrund einer Hörminderung (Einzel-GdB 30) sowie einer Funktionsstörung der Wirbelsäule ( Einzel-GdB 10) festgestellt. Obwohl die Klägerin zuletzt subjektiv eine Verschlechterung ihrer Hörfähigkeit bemerkt haben will, hat sie bis zum Tage der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keinen Verschlimmerungsantrag auf Erhöhung des Gesamt-GdB gestellt.
Eine am 28.08.2003 zum 31.03.2004 erfolgte Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die Beigeladene wurde im Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Aachen - 4 Ca 5039/03 - zurückgenommen. Die Rücknahme der Kündigung erfolgte am 16.02.2004 gegenüber dem Arbeitsgericht ohne nähere Begründung.
Bereits am 15.01.2003 hatte die Klägerin die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen beantragt. Der Antrag war damit begründet worden, dass ihr ihre Schwerhörigkeit bei Kundengesprächen erhebliche Probleme bereite, zumal wenn kein Sichtkontakt zum Kunden möglich sei. Nach Einholung von Auskünften der Beigeladenen sowie des Betriebsrats der Beigeladenen lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 28.07.2003 mit der Begründung ab, die Klägerin habe keine behinderungsbedingte Gefährdung ihres Arbeitsplatzes dargelegt.
Am 19.08.2003 legte die Klägerin Widerspruch ein und begründete diesen später mit der zwischenzeitlich erfolgten Kündigung durch die Beigeladene. Nach Einholung einer erneuten Auskunft der Beigeladenen wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.05.2004 zurück und führte zur Begründung aus, der Arbeitsplatz der Klägerin sei, worauf sie auch selbst hingewiesen habe, im Wesentlichen aufgrund von Umstrukturierungsmaßnahmen und Personalabbau gefährdet, nicht aber im Hinblick auf ihre Behinderung.
Hiergegen hat die Klägerin am 09.06.2004 Klage vor dem Sozialgericht Aachen erhoben und erneut die Auffassung vertreten, dass die zwischenzeitlich im Klageverfahren zurückgenommene Kündigung zeige, dass die Beigeladene das Arbeitsverhältnis auf jeden Fall lösen wolle.
Eine behinderungsbedingte Gefährdung ihres Arbeitsplatzes könne nicht ausgeschlossen werden.
Das Sozialgericht hat den Arbeitgeber der Klägerin mit Beschluss vom 21.10.2004 beigeladen.
Vor dem Sozialgericht hat die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.07.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2004 zu verurteilen, sie einem schwerbehinderten Menschen gleichzustellen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Die Beklagte hat auf ihre im Verwaltungsverfahren vertretene Rechtsauffassung Bezug genommen. Ferner meint sie, nach erfolgter Rücknahme der Kündigung sei keine konkrete Gefährdung des Arbeitsplatzes mehr gegeben und rein hypothetische Entwicklungen könnten einen Anspruch auf Gleichstellung nicht begründen.
Das Sozialgericht hat eine Auskunft der Beigeladenen vom 16.11.2004 eingeholt, die Prozessakte des Arbeitsgerichts Aachen 4 Ca 5039/03 und die die Klägerin betreffende Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes Aachen beigezogen.
Sodann hat das Sozialgericht mit Urteil vom 12.01.2005 der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin einem schwerbehinderten Menschen gleichzustellen.
Zur Begründung hat es u.a. wörtlich ausgeführt:
"Gemäß § 2 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX), das mit Wirkung zum 01.07.2001 an die Stelle des aufgehobenen Schwerbehindertengesetzes getreten ist, sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50 aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 SGB IX vorliegen, schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX nicht erlangen oder nicht behalten können.
Bei der Klägerin ist bestandskräftig ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt; sie erfüllt auch unstreitig die Voraussetzungen aus § 2 Abs. 2 SGB IX.
Die Klägerin kann auch infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten. Ein Anspruch auf Gleichstellung besteht, wenn der Arbeitnehmer infolge seiner Behinderungen bei wertender Betrachtung in seiner Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Nichtbehinderten in besonderer Weise beeinträchtigt und deswegen nur schwer in Arbeit zu vermitteln ist ( BSG, Urteil vom 02.03.2000 - B 7 AL 46/99 R -, SozR 3 - 3870 § 2 Nr. 1; SG Duisburg, Urteil vom 15.01.2002 - S 12 AL 201/01 -). Hierbei genügt es, wenn der Arbeitnehmer ernstlich mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes rechnen muss und er sich ohne Gleichstellung nicht gegenüber Gesunden im Wettbewerb um einen Arbeitsplatz behaupten kann (Neumann/Pahlen, Schwerbehindertengesetz, 9. Aufl. 1999, § 2 Rn. 21 m.w.N.). Konkurrierende nicht behinderungsbedingte Ursachen einer Gefährdung des Arbeitsplatzes hindern die Gleichstellung nach § 2 Abs. 3 SGB IX nicht, wenn die Behinderung als wesentliche Bedingung der Kündigung oder der Gefährdung wenigstens gleichrangig ist (Schorn, in: Müller-Wenner/Schorn, SGB IX, 2. Teil, 2003, § 68 Rn. 35).
Die Klägerin kommt angesichts ihres bisherigen beruflichen Werdegangs fast ausschließlich für kaufmännische Bürotätigkeiten, insbesondere im Bankbereich, in Frage. Ausweislich der vom Gericht eingeholten Auskunft der Beigeladenen ist sie derzeit im Servicebereich einer Geschäftsstelle der Beigeladenen beschäftigt. Ihre Aufgaben sind Kundenbedienung, Kundenberatung und diverse Nachbearbeitungen. Weiterhin hat die Beigeladene mitgeteilt, die Klägerin habe nach eigenen Angaben Verständigungsprobleme wegen ihrer Schwerhörigkeit; es seien auch Rückfragen nach Ansprechen durch Kollegen oder Kunden festgestellt worden. Das Gericht geht angesichts dessen davon aus, dass die bei der Klägerin bestehende Hörminderung jede Tätigkeit mit Publikumsverkehr wesentlich erschwert und sich auch auf solche kaufmännischen Tätigkeiten auswirkt, die sich nicht ausschließlich schriftlich erledigen und ein hohes Maß an Genauigkeit voraussetzen. Dies ist insbesondere im Bankbereich der Fall, da sich viele Zahlwörter der deutschen Sprache nur durch genaues Hinhören unterscheiden lassen (z.B. "fünfzehn" und "fünfzig").
Hierin liegt aber bereits eine verminderte Wettbewerbsfähigkeit gegenüber nicht entsprechend behinderten Mitbewerbern. Ob die Klägerin sozial untergeordnete Tätigkeiten (etwa als Bürohilfskraft) voll wettbewerbsfähig ausüben kann, kann dahinstehen, da die Gleichstellung auch den Zweck hat, einen drohenden sozialen Abstieg zu verhindern (Neumann/Pahlen, a.a. O. Rn 10).
Das Gericht sieht die Klägerin weiter auch als hinreichend gefährdet im oben dargelegten Sinne an. Dem steht nicht entgegen, dass die inzwischen zurückgenommene arbeitgeberseitige Kündigung nicht auf die gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin, sondern auf betriebliche Umstrukturierungsmaßnahmen gestützt worden ist. Denn erstens dient die Gleichstellung bereits nach dem Wortlaut von § 2 Abs. 3 SGB IX nicht allein der Erhaltung des gegenwärtigen Arbeitsplatzes, sondern soll darüber hinaus einen Beitrag zur verbesserten Konkurrenzfähigkeit bei den Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz leisten. Zweitens befindet sich die Klägerin auch bei betrieblich bedingten Umsstrukturierungs- und Personalabbaumaßnahmen gegenüber nichtbehinderten Kolleginnen und Kollegen im Nachteil, da ein verminderter Anreiz für den Arbeitgeber besteht, sie von einem betriebsbedingten Personalabbau auszunehmen und auf einem anderen, zunächst umstrukturierungsfesten Arbeitsplatz weiter zu beschäftigen.
Der Verurteilung der Beklagten steht schließlich nicht entgegen, dass es sich bei § 2 Abs. 3 SGB IX dem Wortlaut nach um eine Soll-Vorschrift handelt. Entsprechend der allgemeinen Grundsätze über Soll-Vorschriften ist auch § 2 Abs. 3 SGB IX nach herrschender Auffassung so zu verstehen, dass das der Beklagten eingeräumte Ermessen im Regelfall reduziert und somit bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die Gleichstellung auszusprechen ist ( Neumann/ Pahlen, a.a.O., Rn. 24; Schorn, a.a.O., Rn. 45). Eine atypische Fallgestaltung, die es der Beklagten ermöglichen könnte, den Anspruch im Rahmen ihrer Ermessensausübung abzulehnen, liegt ersichtlich nicht vor."
Gegen dieses ihr am 26.01.2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 11.02.2005 eingegangene Berufung der Beklagten. Zur Begründung führt sie aus, erforderlich sei nach § 2 Abs. 3 SGB IX eine Kausalität zwischen den festgestellten Behinderungen und einer möglichen Arbeitsplatzgefährdung. Die Herleitung einer Kausalität aus den Hörschwierigkeiten der Klägerin durch das Sozialgericht sei zu weitgehend. Eine Gefährdung sei derzeit weder aus behinderungsbedingten noch aus sonstigen Gründen zu erkennen. Das BSG verlange zudem in dem vom SG zitierten Urteil vom 02.03.2000 - B 7 AL 46/99 R -, dass die Behinderungen die wesentliche Ursache für eine mögliche Arbeitsplatzgefährdung sein müssten. Hierfür biete der Sachverhalt keinen Anhaltspunkt. Die Kündigung sei seinerzeit allein aus betriebsbedingten Gründen erfolgt. Derzeit bestünden selbst diese betriebsbedingten Gefährdungspunkte nicht mehr. Eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses sei demnach seinerzeit ausschließlich aus betriebsbedingten Gründen heraus erfolgt. Dies könne jeden anderen Arbeitnehmer in gleicher Weise treffen. Eine behinderungsbedingte Arbeitsplatzgefährdung habe nicht bestanden und bestehe auch heute nach diesem Sachverhalt nicht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 12.01.2005 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie meint, auch heute noch befinde sich das Unternehmen der Beigeladenen in einer Phase der Umstrukturierung. Es bestehe weiterhin das Risiko, dass die Beigeladene im Rahmen der Umstrukturierungen erneut unter dem Deckmantel der betriebsbedingten Kündigung versuchen werde, das Arbeitsverhältnis der Klägerin wegen deren Behinderung und der daraus resultierenden Schwierigkeiten zu beenden. Die Probleme der Klägerin mit ihrer Hörminderung bestünden unvermindert, wenn nicht sogar verstärkt fort. Die Klägerin sei zwingend auf ein Hörgerät angewiesen. Das angefochtene Urteil sei zu bestätigen.
Auf Befragen des Senats im Termin vom 11.01.2006 hat die Klägerin angegeben, weiterhin auf ihrem Schalterarbeitsplatz mit Kundenverkehr und kleineren Beratungsgesprächen eingesetzt zu sein. Ihr Aufgabengebiet habe sich auch nach der Rücknahme der Kündigung nicht wesentlich verändert.
Der Vertreter der Beigeladenen hat dies im Termin bestätigt. Derzeit seien keine weiteren Umstrukturierungsmaßnahmen beabsichtigt. Durch einen Zusammenschluss mit einer anderen Volksbank seien die Personalabbaupläne von 2003 derzeit nicht mehr aktuell.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, die Gleichstellungsakte der Beklagten und die Akte des Arbeitsgerichts Aachen 4 Ca 5039/03 Bezug genommen. Diese Akten waren ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung wie Auszüge aus der Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes Aachen.