Urteil
Strittiger Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens RF und Anerkennung eines Fahrrades als orthopädisches Hilfsmittel zwecks kostenloser Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 11. Senat


Aktenzeichen:

L 11 SB 323/08


Urteil vom:

19.05.2011


Grundlage:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. September 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) sowie eines Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung eines Fahrrades im öffentlichen Personennah- und Fernverkehr.

Der Kläger ist 1950 geboren. Nach eigenen Angaben erhält er seit 2001 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Nachdem der Kläger im August 2000 einen Fahrradunfall u. a. mit einer Kalottenfraktur rechts occipital und einer Fersenbeinfraktur rechts erlitten hatte, stellte der Beklagte mit Bescheid vom 1. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2002 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) fest; die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" lehnte der Beklagte ab. Nachdem der Beklagte einen Neufeststellungsantrag des Klägers vom Juli 2003 zunächst abgelehnt hatte, erkannte er in dem sich daran anschließenden Klageverfahren - S 46 SB 1475/04 - bei dem Kläger einen GdB von 80 und für den Zeitraum ab Februar 2004 einen GdB von 100 an.

Am 15. August 2006 machte der Kläger zunächst formlos die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" geltend und wiederholte diesen Antrag mit seinem Schreiben vom 28. September 2006, mit dem er - ebenso wie mit seinem am 4. Oktober 2006 nachgereichten Formularantrag - ergänzend u. a. die "Anerkennung eines Fahrrades als orthopädisches Hilfsmittel im Sinne eines Rollstuhlersatzes" begehrte. Zur Begründung machte er geltend, er habe hochgradige Schmerzen im linken Knie, zeitweise Schmerzen im rechten Knie, hochgradige Schmerzen im Lendenwirbelbereich und zum Kopf ausstrahlende Schmerzen im Halswirbelbereich. Da er nicht gehen könne, benötige er sein Fahrrad als Rollstuhlersatz. Einen Rollstuhl könne er nicht nutzen, weil seine Wohnung nicht rollstuhlgerecht sei.

Der Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein und veranlasste die versorgungsärztliche Begutachtung des Klägers durch die Ärztin für Allgemeinmedizin A. Diese kam nach körperlicher Untersuchung des Klägers zu der Einschätzung, dass der GdB weiterhin 100 betrage und folgende Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen:

- Belastungsminderung und Schwindelsymptomatik nach Schädel-Hirn-Trauma mit mehrfachen Schädelfrakturen, Schwerhörigkeit rechts mit Ohrgeräuschen rechts, depressives Syndrom (Einzel-50)

- Sehbehinderung (Einzel-GdB 40)

- Funktionseinschränkungen beider Knie (Einzel-GdB 30)

- degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 30)

- schlafbezogene Atemstörungen (Einzel-GdB 20)

- Funktionseinschränkungen des linken Hüftgelenks (Einzel-GdB 20)

- Fettleber, Leberschaden (Einzel-GdB 10)

- Bluthochdruck (Einzel-GdB 10).

Neben den gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" seien auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" (Berechtigung für eine ständige Begleitung) gegeben; die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "RF", "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) und "T" (besonderer Fahrdienst) lägen jedoch nicht vor.

Hierauf stellte der Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 14. März 2007 fest, dass der GdB des Klägers weiterhin 100 betrage und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B" vorlägen. Die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "RF" und "T" sowie weiterer gesundheitlicher Merkmale lehnte der Beklagte ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte, nachdem der Kläger mit seinem Schreiben vom 20. April 2007 den "Verzicht" auf die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "T" erklärt hatte, mit Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 2008 zurück und führte zur Begründung ergänzend aus, dass auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" nicht vorlägen und die kostenfreie Beförderung eines Fahrrades im Schwerbehindertenrecht nicht vorgesehen sei.

Mit der am 3. März 2008 erhobenen Klage begehrt der Kläger noch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" sowie die "Anerkennung eines Fahrrades als orthopädisches Hilfsmittel im Sinne eines Rollstuhlersatzes". Ergänzend hat er vorgetragen: Rein körperlich sei schon jetzt ein Rollstuhl notwendig, seine Wohnung sei jedoch nicht rollstuhlgerecht. Ein Umzug sei ihm nicht zuzumuten. Er bewege sich im Radius von 1 km nur mit dem Fahrrad. Für längere Touren müsse er das Fahrradfahren mit S- und U-Bahnfahrten kombinieren. Taxifahrten seien zu teuer, ein Auto besitze er nicht. Er habe keinen Menschen, der ihn bei den Wegstrecken begleiten könne. Das Merkzeichen "RF" sei insbesondere wegen seiner Sehbehinderung und seiner Hörminderung gerechtfertigt. Bei Überlastung fange das rechte Auge an zu tränen, es komme dann zu einer entzündlichen Verschleimung, sodass die Sehfähigkeit auch auf diesem Auge zeitweilig eingeschränkt sei. In diesen Phasen könne er die Wohnung tagelang schon deshalb nicht verlassen, weil er nichts mehr erkennen könne. Hinzu kämen erhebliche Bewegungseinschränkungen der Beine und der Wirbelsäule, dauerhafte Müdigkeit, Gleichgewichtsstörungen, Atemnot und Bluthochdruck.

Mit Gerichtsbescheid vom 3. September 2008 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe weder einen Anspruch auf das Merkzeichen "RF" noch auf die Anerkennung eines Fahrrades als orthopädisches Hilfsmittel zwecks kostenloser Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Rechtsgrundlage für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" sei neben § 69 Abs. 4 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) und u. a. Artikel 5 § 6 Abs. 1 Nr. 8 des Achten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) i. V. m. § 1 des B.Gesetzes zum Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 27. Januar 2005. Danach seien Behinderte auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht zu befreien, deren Erwerbsfähigkeit nicht nur vorübergehend um wenigstens 80 vom Hundert gemindert sei und wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten. Zu diesem Personenkreis gehörten nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht (AHP) u. a. Behinderte, bei denen schwere Bewegungsstörungen beständen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z. B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen könnten. Diese Voraussetzungen erfülle der Kläger nicht. Zwar sei ihm der notwendige GdB von 80 zuerkannt; jedoch sei er nicht ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Weder seien die An- und Abfahrt des Klägers zu öffentlichen Veranstaltungen noch seine Anwesenheit bei solchen Veranstaltungen ständig ausgeschlossen. Dabei könne auch unterstellt werden, dass die Sehbehinderung des Klägers mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten sei. Soweit der Kläger vortrage, die Presbyopie seines rechten Auges führe dazu, dass dieses bei Überlastung träne und entzündlich verschleime und er deshalb seine Wohnung zeitweilig tagelang nicht verlassen könne, führe dies nicht zu einer ständigen Unmöglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. Hinsichtlich der An- und Abfahrt bestehe für den Kläger aufgrund des ihm zuerkannten Merkzeichens "B" jedenfalls die theoretische Möglichkeit, dass ihn eine Begleitperson bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kostenfrei begleite. Auch sei es dem Kläger nach seinem Vorbringen grundsätzlich möglich, sich mit Hilfe eines Fahrrades fortzubewegen. Schließlich stehe einer Anwesenheit des Klägers bei öffentlichen Veranstaltungen nicht ständig entgegen, dass dieser nach seinem Vorbringen beim Gehen und Stehen eingeschränkt sei; denn jedenfalls das Sitzen sei ihm noch möglich. Die von dem Kläger vorgetragenen Ermüdungszustände führten ebenfalls nicht zur Unzumutbarkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. Insoweit komme es nicht darauf an, ob der Kläger überhaupt imstande sei, das Dargebotene zu erfassen und diesem bis zum Ende zu folgen. Für den geltend gemachten Anspruch auf kostenfreie Beförderung eines Fahrrades bzw. dessen Anerkennung als orthopädisches Hilfsmittel gebe es im Schwerbehindertenrecht keine Rechtsgrundlage, eine solche finde sich nur im sozialen Entschädigungsrecht.

Gegen den ihm am 9. September 2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 8. Oktober 2008 Berufung eingelegt. Ergänzend trägt er vor: Sein Gesundheitszustand habe sich weiter verschlechtert. Er könne wegen seiner Bewegungseinschränkungen in den Knien und im Wirbelsäulenbereich praktisch nicht mehr gehen und stehen; er sitze oder liege fast nur noch in seiner Wohnung. Selbst im Umkreis von 100 Metern müsse er alle Wege mit dem Fahrrad zurücklegen. Das Fahrrad sei für ihn die einzige Möglichkeit, die notwendigen Dinge des Alltags zu erledigen. Er könne nicht lange sitzen und müsse sich nach etwa drei Stunden hinlegen, um ein bis zwei Stunden zu schlafen. Auch die Sehfähigkeit seines rechten Auges habe sich deutlich verschlechtert. Wegen Tinnitus und Schwerhörigkeit des rechten Ohres in Verbindung mit Gleichgewichtsstörungen und Drehschwindelattacken habe er Orientierungsschwierigkeiten in der Dunkelheit. Hinzu kämen seine schnelle Erschöpfbarkeit und seine mehrmals täglich unvermittelt auftretenden Schlafattacken (narkoleptischer Schlafzwang) sowie seine Konzentrationsstörungen.

Das Gericht hat Befundberichte des behandelnden Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde - Allergologie - Dr. S vom 30. Januar 2010, des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. N vom 8. Februar 2010, des Arztes für Augenheilkunde Dr. J vom 11. Februar 2010 und des Arztes für Orthopädie Dr. F vom 17. Februar 2010 eingeholt und den ärztlichen Entlassungsbericht der M Klinik H vom 12. Januar 2011 über den stationären Aufenthalt des Klägers in der Zeit vom 22. Dezember 2010 bis 12. Januar 2011 beigezogen.

Mit Beschluss vom 22. Dezember 2008 hat der vormals zuständige 13. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg den vorliegenden Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen. In der mündlichen Verhandlung hat der seit dem 1. Juli 2009 zuständige Senat nach rechtlichem Hinweis, dass er sich an die Beschlussfassung des 13. Senats nicht gebunden sehe und des Weiteren der Auffassung sei, dass die Voraussetzungen für die Übertragung des Rechtsstreits auf den Berichterstatter als Einzelrichter heute nicht mehr vorlägen, den Beschluss des 13. Senats vom 22. Dezember 2008 aufgehoben.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. September 2008 aufzuheben und den Beklagen unter Änderung des Bescheides vom 14. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2008 zu verurteilen, festzustellen, dass für die Zeit ab dem 15. August 2006 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) vorliegen und dem Kläger für die Zeit ab dem 28. September 2006 ein Anspruch auf unentgeltliche Beförderung eines Fahrrades im öffentlichen Personennah- und Fernverkehr zuzuerkennen ist.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angegriffenen Gerichtsbescheid für zutreffend und nimmt zur Begründung ergänzend Bezug auf die von ihm im Berufungsverfahren veranlassten versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Ärztin für Augenheilkunde L vom 12. März 2010, der Ärztin für Chirurgie Dr. H vom 29. März 2010 sowie der Ärztin für Innere Medizin Dr. G vom 12. April 2010 und 12. Mai 2010.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakte, die Gerichtsakte S 46 SB 1475/04 und die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Rechtsweg:

SG Berlin Urteil vom 30.09.2008 - S 46 SB 745/08

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung hat der Senat zu entscheiden. Mit dem Wechsel des zuständigen Senats ist der Beschluss des 13. Senats vom 22. Dezember 2008, mit dem er den vorliegenden Rechtsstreit der damals zuständigen Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen hat, gegenstandslos geworden. Lediglich vorsorglich hat der Senat den Beschluss auch deshalb aufgehoben, weil die Voraussetzungen des § 153 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) heute nicht mehr vorliegen; denn nach der Entscheidung des 13. Senats hat sich die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung ergeben. Die Beteiligten sind hierzu angehört worden.

Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 14. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF". Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen zu Gunsten des Klägers nach § 48 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ist insoweit nicht eingetreten.

Nach § 69 Abs. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen sie auch insoweit die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 SchwbAwV ist im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen "RF" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

Mit der Verweisung auf das Landesrecht sind heranzuziehen die Vorschriften des am 1. April 2005 in Kraft getretenen § 6 Abs. 1 Satz 1 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes (Gesetz zum Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrag) vom 27. Januar 2005 (GVBl. Seite 82), welches die bis dahin geltende Berliner Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 2. Januar 1992 (GVBl. Seite 3) aufhob. Spätere Änderungen, zuletzt im Dreizehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 3. Februar 2010 (GVBl. Seite 39), haben die hier maßgeblichen Voraussetzungen unberührt gelassen.

Der Senat lässt offen, ob er an seiner Rechtsauffassung, wonach die landesrechtlichen Regelungen über die Rundfundgebührenbefreiung aus gesundheitlichen Gründen anzuwenden sind, festhält (vgl. Urteil des Senats vom 30. April 2009 - L 11 SB 348/08 - juris - m. w. N. zum Meinungsstand). Auch in diesem Fall liegen deren Voraussetzungen hier jedenfalls nicht vor.

Der Kläger erfüllt zunächst nicht die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags. Danach werden auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht befreit:

a) blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 60 vom Hundert allein wegen der Sehbehinderung und

b) hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist.

Zu diesen Personen gehört der Kläger nicht.

Der Kläger leidet insbesondere nicht an einer nicht nur vorübergehenden wesentlichen Sehbehinderung mit einem Einzel-GdB von 60. Wie dem vom Sozialgericht in dem Gerichtsverfahren S 46 SB 1475/04 veranlassten Gutachten des Arztes für Allgemeinmedizin M vom 28. Juni 2005 und dem Befundbericht des Augenarztes Dr. P vom 9. Februar 2005 sowie dem im vorliegenden Verfahren eingeholten Befundbericht des behandelnden Augenarztes Dr. J vom 11. Februar 2010 zu entnehmen ist, leidet der Kläger an einem Linsenverlust des linken Auges (korrigiert durch eine intraokulare Kunstlinse) mit einer Sehschärfe weniger als 0,1, die nach Teil A Nr. 26.4 der hier für den Zeitraum bis zum 31. Dezember 2008 zu berücksichtigenden AHP 2005 und 2008 (jeweils Seite 51, zur grundsätzlichen Anwendbarkeit der AHP als antizipierte Sachverständigengutachten vgl. z. B. Bundessozialgericht - BSG -, BSGE 91, 205) und Teil B Nr. 4.2 der für den Zeitraum ab 1. Januar 2009 maßgeblichen Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV, Seite 29) mit einem GdB von 25 bis 30 zu bewerten ist. Das rechte Auge wies nach den vorstehend genannten ärztlichen Unterlagen mit einem Sehvermögen von 1,0 durchweg einen Normalbefund aus (vgl. Teil A Nr. 26.4 AHP 2005 und 2008, jeweils Seite 52, Teil B Nr. 4.3 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 30). Danach ist die Sehbehinderung des Klägers mit einem GdB von 25 = 30 zu bewerten, wie der Arzt für Allgemeinmedizin Min seinem Gutachten vom 28. Juni 2005 und die Augenärztin L in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 12. März 2010 ausgeführt haben. Die in dem Befundbericht des behandelnden Augenarztes Dr. J vom 11. Februar 2010 erstmals ärztlich dokumentierte Schmerzsymptomatik des linken Auges aufgrund eines erhöhten Augendrucks, die sich unter augenärztlicher Behandlung verringert hat, und die nach den Angaben des Klägers vorübergehend auftretenden Sehbeeinträchtigungen des rechten Auges rechtfertigen als zusätzliche Beeinträchtigungen nach Teil A Nr. 26.4 AHP 2005 und 2008 (jeweils Seite 55) und Teil B Nr. 4 der Anlage zu § 2 VersMedV (Seite 29 ff.) jedenfalls keine Erhöhung des GdB für das Augenleiden auf 60.

Der Kläger gehört auch nicht zur Personengruppe der hörgeschädigten Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist. So leidet der Kläger nach den Ausführungen des Arztes für Allgemeinmedizin Min seinem Gutachten vom 28. Juni 2005 lediglich an einer leichten Hörminderung rechts und Ohrgeräuschen rechts, die das Hörvermögen nicht wesentlich beeinträchtigen. Hiervon konnte sich der Senat auch in der mündlichen Verhandlung überzeugen, in der eine Verständigung mit dem Kläger über das Gehör problemlos möglich war.

Der Kläger erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags. Danach werden behinderte Menschen auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht befreit, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern. Öffentliche Veranstaltungen sind damit nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. nur BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 - 9/9a RVs 2/96 - SozR 3-3780 § 4 Nr. 17). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, das heißt allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann. Bei der vom BSG vertretenen Auslegung muss der Schwerbehinderte praktisch an das Haus gebunden sein, um seinen Ausschluss an öffentlichen Veranstaltungen begründen zu können. Es kommt nicht darauf an, ob jene Veranstaltungen, an denen er noch teilnehmen kann, seinen persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen. Sonst müsste jeder nach einem anderen, in sein Belieben gestellten Maßstab von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Das wäre mit dem Gebührenrecht nicht vereinbar, denn die Gebührenpflicht selbst wird nicht bloß nach dem individuell unterschiedlichen Umfang der Sendungen, an denen die einzelnen Teilnehmer interessiert sind, bemessen, sondern nach dem gesamten Sendeprogramm. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der Nachteilsausgleich "RF" nur Personengruppen zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.

Nach diesen Grundsätzen, von denen auch der Senat in seiner ständigen Rechtsprechung ausgeht, ist der Kläger wegen seiner Leiden nicht ständig, das heißt allgemein und umfassend, vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen ausgeschlossen. Der Kläger, der nach eigenen Angaben noch in der Lage ist, sich mit Hilfe eines Fahrrades fortzubewegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, könnte - ggf. auch mit Hilfe eines Rollstuhls - öffentliche Veranstaltungen aufsuchen und an ihnen teilnehmen. Dass der Kläger nicht länger als 30 Minuten sitzend an einer öffentlichen Veranstaltung teilnehmen kann, ist weder erkennbar noch vorgetragen. Soweit der Kläger - zuletzt belegt durch den ärztlichen Entlassungsbericht der M Klinik H vom 12. Januar 2011 über den stationären Aufenthalt des Klägers in der Zeit vom 22. Dezember 2010 bis 12. Januar 2011 - Bewegungseinschränkungen in den Knien und im Wirbelsäulenbereich, Orientierungsschwierigkeiten in der Dunkelheit aufgrund von Gleichgewichtsstörungen und Drehschwindelattacken sowie Tinnitus und Schwerhörigkeit rechts, Atemnot und Bluthochdruck geltend macht, folgt daraus nichts anderes. Denn solange ein schwerbehinderter Mensch mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er von der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen. Dabei kann er bei fehlender Verfügbarkeit von Hilfsmitteln oder einer Begleitperson auch auf die Möglichkeit eines Hin- und Rücktransports durch die im allgemeinen gut organisierten Sozialdienste verwiesen werden (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 3. Juni 1987 - 9a RVs 27/85 - SozR 3870 § 3 Nr. 25; Urteil vom 12. Februar 1997 - 9 RVs 2/96 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 17).

Eine ständige Hinderung an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen des Klägers, an einem obstruktiven Schlafapnoesyndrom mit Tagesmüdigkeit, mehrmals täglich unvermittelt auftretenden Schlafattacken (narkoleptischer Schlafzwang) und unter Konzentrationsstörungen zu leiden. Denn den Nachteilsausgleich "RF" können nur solche Behinderte beanspruchen, die physisch an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen können. Dabei ist unter "Teilnahme" die körperliche Anwesenheit ohne Rücksicht darauf zu verstehen, ob der Teilnehmer geistig in der Lage ist, dem Dargebotenen zu folgen (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 11. September 1991 - 9a/9 RVs 15/89 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 2; Urteil vom 28. Juni 2000 - 9 SB 2/00 R - SozR 3-3870§ 4 Nr. 26). Dies folgt daraus, dass Einschränkungen der geistigen Aufnahmefähigkeit gleichermaßen sowohl bei öffentlichen Veranstaltungen und auch vor den Rundfunk- und Fernsehgeräten in der eigenen Wohnung wirksam werden können.

Psychische Störungen, die den Kläger ständig daran hindern könnten, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28. Juni 2000 - 9 SB 2/00 R - a. a. O.), hat der Kläger nicht vorgetragen; für das Vorliegen einer solchen Erkrankung ist auch sonst nichts ersichtlich.

Abschließend kann dahinstehen, ob für die näheren Einzelheiten über die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" auf die zuletzt in Teil B Nr. 33 AHP 2005 (Seite 141 f.) - unter Bezugnahme auf landesrechtliche Vorschriften und ergänzende Rechtsprechung - niedergelegten Maßstäbe zurückzugreifen ist. Denn auch unter Berücksichtigung dieser Kriterien hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF". Danach gehören zu den behinderten Menschen, die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können, regelhaft Menschen mit einem GdB von wenigstens 80,

- bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) - bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können,

- die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken (z. B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können),

- mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose,

- nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden,

- geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören.

Zu den vorgenannten Personengruppen, bei denen regelhaft anzunehmen ist, dass diese allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sind, gehört der Kläger ersichtlich nicht. Er ist nach Teil B Nr. 33 AHP 2005 auch nicht wegen sonstiger Leiden von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen, weil er, wie bereits oben dargelegt, noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung seines Fahrrades im öffentlichen Personennah- und Fernverkehr. Denn für eine solche Feststellung des Beklagten fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Eine solche lässt sich insbesondere nicht § 69 Abs. 4 SGB IX i. V. m. § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SchwbAwV entnehmen. Danach hat das Versorgungsamt bei Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen des § 146 Abs. 1 SGB IX - wie beim Kläger geschehen - das gesundheitliche Merkmal "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" festzustellen und im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen "G" als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen einzutragen. Als Nachteilsausgleich werden Schwerbehinderte mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nach § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, im Nahverkehr unentgeltlich befördert; im Nah- und Fernverkehr sind die Unternehmer nach § 145 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX zudem u. a. verpflichtet, Handgepäck, einen mitgeführten Krankenfahrstuhl, soweit die Beschaffenheit des Verkehrsmittels dies zulässt, und sonstige orthopädische Hilfsmittel unentgeltlich zu befördern.

Danach hat das Versorgungsamt im Hinblick auf das Merkzeichen "G" allein darüber zu entscheiden, ob das diesem Merkzeichen zu Grunde liegende gesundheitliche Merkmal (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) vorliegt. Hingegen ist das Versorgungsamt nicht legitimiert, die von dem Kläger begehrte Feststellung eines Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung seines Fahrrades im öffentlichen Personennah- und Fernverkehr zu treffen. Denn eine solche die Unternehmer des öffentlichen Personenverkehrs bindende Feststellung würde eine entsprechende gesetzliche Grundlage voraussetzen, an der es hier fehlt.

Eine andere Anspruchsgrundlage kommt für das Begehren des Klägers nicht in Betracht. Soweit er geltend macht, er habe einen Anspruch auf unentgeltliche Beförderung seines Fahrrades als orthopädisches Hilfsmittel im Sinne des § 145 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX (vgl. auch §§ 13, 24a Buchst. a und b BVG, §§ 12 Abs. 5, 18 Abs. 5, 22 Abs. 1 Nr. 6 der Verordnung über die Versorgung mit Hilfsmitteln und über Ersatzleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz - Orthopädieverordnung -), ist er darauf zu verweisen, sein Begehren gegenüber dem bzw. den Beförderungsunternehmen geltend zu machen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R3745


Informationsstand: 09.12.2011