Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht Berlin den Beklagten unter Änderung seiner Bescheide vom 29. September 2008 sowie vom 17. Dezember 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. März 2009 verurteilt festzustellen, dass die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" ab Antragstellung erfüllt. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF".
Nach
§ 69 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen sie auch insoweit die erforderlichen Feststellungen (§ 69
Abs. 4
SGB IX). Nach
§ 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen "RF" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.
Mit der Verweisung auf das Landesrecht sind heranzuziehen die Vorschriften des am 1. April 2005 in Kraft getretenen § 6
Abs. 1 Satz 1 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes (Gesetz zum Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrag) vom 27. Januar 2005 (GVBl.
S. 82), welches die bis dahin geltende Berliner Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 2. Januar 1992 (GVBl.
S. 3) aufhob. Spätere Änderungen, zuletzt im Dreizehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 3. Februar 2010 (GVBl.
S. 39), haben die hier maßgeblichen Voraussetzungen unberührt gelassen.
Der Senat lässt offen, ob er an seiner Rechtsauffassung, wonach die landesrechtlichen Regelungen über die Rundfundgebührenbefreiung aus gesundheitlichen Gründen anzuwenden sind, festhält (
vgl. Urteil des Senats vom 30. April 2009 -
L 11 SB 348/08 - juris - m. w. N. zum Meinungsstand). Auch in diesem Fall liegen deren Voraussetzungen hier jedenfalls nicht vor.
Nach § 6
Abs. 1 Satz 1
Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags (§ 6
Abs. 1 Satz 1
Nr. 7), der auf bestimmte Sehbehinderte und Hörgeschädigte zugeschnitten ist, kommt ersichtlich nicht in Betracht) werden auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht schwerbehinderte Menschen befreit, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Nach der ständigen Rechtsprechung des
BSG sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern. Öffentliche Veranstaltungen sind damit nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (
vgl. nur
BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 - 9/9a RVs 2/96 - SozR 3-3780 § 4
Nr. 17). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, das heißt allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann. Bei der vom
BSG vertretenen Auslegung muss der Schwerbehinderte praktisch an das Haus gebunden sein, um seinen Ausschluss an öffentlichen Veranstaltungen begründen zu können. Es kommt nicht darauf an, ob jene Veranstaltungen, an denen er noch teilnehmen kann, seinen persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen. Sonst müsste jeder nach einem anderen, in sein Belieben gestellten Maßstab von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Das wäre mit dem Gebührenrecht nicht vereinbar, denn die Gebührenpflicht selbst wird nicht bloß nach dem individuell unterschiedlichen Umfang der Sendungen, an denen die einzelnen Teilnehmer interessiert sind, bemessen, sondern nach dem gesamten Sendeprogramm. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der Nachteilsausgleich "RF" nur Personengruppen zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.
Nach diesen Grundsätzen, von den auch der Senat in seiner ständigen Rechtsprechung ausgeht, liegen die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" hier nicht vor. Denn die Klägerin ist nicht wegen ihres Leidens ständig, das heißt allgemein und umfassend, vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen ausgeschlossen.
Die Klägerin kann mithilfe ihres Rollstuhls öffentliche Veranstaltungen aufsuchen und an ihnen teilnehmen. Dass die Klägerin nicht länger als 30 Minuten im Rollstuhl sitzend an einer öffentlichen Veranstaltung teilnehmen kann, ist weder erkennbar noch vorgetragen. Soweit die Klägerin in ihrem Schreiben an das Sozialgericht vom 18. August 2009 generell von mehrmals täglich auftretenden Kreislaufstörungen in Kombination mit starken Schwindelanfällen berichtet und erklärt, dass in diesen Fällen ein Besuch öffentlicher Veranstaltungen nicht möglich sei, wobei diese Zustände gehäuft und unvorhersehbar auftreten würden, folgt daraus nichts anderes. Die vorgetragenen Kreislaufstörungen treten ausweislich eines Schreibens der Klägerin an den Beklagten vom 20. Oktober 2008 nur beim Gehen auf. Dies entspricht auch den Ausführungen in dem Pflegegutachten vom 6. Februar 2006, nach denen die Gleichgewichtsstörungen beim Gehen auftreten und daher eine Begleitung erforderlich sei. Andererseits wären auch die Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht nicht verständlich, nach denen sie innerhalb Berlins mit ihrem Ehemann Spaziergänge macht und die örtlichen Verhältnisse beim Sozialgericht Berlin im Vorfeld der mündlichen Verhandlung geprüft hat.
Solange aber ein schwerbehinderter Mensch mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er von der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen (
vgl. nur
BSG, Urteil vom 3. Juni 1987 -
9a RVs 27/85 - juris). Nach dem zitierten Urteil des
BSG, dem der Senat nach eigener Prüfung umfassend folgt, wird die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen durch Rollstuhlfahrer mit und ohne Begleitperson auch als normal empfunden und sind für diesen Personenkreis in den meisten Fällen auch entsprechende Vorkehrungen getroffen worden (Rampen, verbreiterte Türen, geeignete Toiletten). Auf das Alter und den Gesundheitszustand ihres Ehemannes als Begleitperson kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg berufen. Insoweit hat das
BSG in der genannten Entscheidung eine allein stehende Person darauf verwiesen, gegebenenfalls von der Möglichkeit eines Hin- und Rücktransportes durch die im allgemeinen gut organisierten Sozialdienste Gebrauch zu machen.
Nichts anderes folgt hier aus der von der Klägerin vorgetragenen Notwendigkeit häufiger Toilettengänge. Die Klägerin ist insoweit auf das Anziehen von einmal zu tragenden Windelhosen zu verweisen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen (
vgl. hierzu und zum Folgenden nur
BSG, Urteil vom 11. September 1991 -
9a RVs 1/90 - juris). Das Tragen solcher Slips ist zumutbar. Es verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Artikel 1 des Grundgesetzes (
GG)) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz (Artikel 20
Abs. 1
GG). Dass diese Rechtsprechung des
BSG nur zu schwerbehinderten Menschen ergangen ist, die unter Harninkontinenz leiden, steht dem - anders als das Sozialgericht und die Klägerin meinen - nicht entgegen. Zur Frage eines Verstoßes gegen die Menschenwürde führt das
BSG aus, dass der schwerbehinderte Mensch mit seiner schweren Behinderung anerkannt werde, die schicksalhafter Teil des menschlichen Lebens sei und als solche ebensowenig gegen die Menschenwürde verstoße wie das Leben unter anderen beschwerlichen Umständen (
vgl. BSG, Urteil vom 9. August 1995 -
9 RVs 3/95 - juris). Die Notwendigkeit, Windelhosen zu tragen, sei nur eine Auswirkung dieser Behinderung. Es handele sich dabei um ein übliches, behindertengerechtes Hilfsmittel, dessen funktionsgerechte Benutzung als solche keine Verletzung der Menschenwürde darstellen könne, weil sie den behinderten Menschen nicht zusätzlich herabmindere, sondern im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen seiner Behinderung mildere. Das subjektive Empfinden des Behinderten, der dies als unangenehm empfinden mag, sei eine verständliche Begleiterscheinung seiner Erkrankung, habe aber nicht zur Folge, ihm deswegen überhaupt nicht mehr den Besuch öffentlicher Veranstaltungen zuzumuten. Diese Ausführungen, denen der Senat nach eigener Prüfung vollumfänglich folgt, können ohne weiteres auch auf solche schwerbehinderten Menschen übertragen werden, die auf das Tragen von Windelhosen nicht infolge Harninkontinenz angewiesen sind. Namentlich ist nicht erkennbar, dass für schwerbehinderte Menschen mit und ohne Harninkontinenz unterschiedliche Maßstäbe für die Bestimmung ihrer Menschenwürde zu gelten haben.
Offen bleiben kann daher, ob der offenbar nicht harninkontinenten Klägerin vor der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen eine Reduzierung der Flüssigkeitsaufnahme zugemutet werden kann (
vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 -
9 RVs 2/96 - juris).
Zu Unrecht beruft sich das Sozialgericht für seine Entscheidung auf ein Urteil des Senats vom 30. April 2009 (
L 11 SB 348/08 - juris). Dort hatte der Senat für einen Grenzbereich, in dem es trotz der Funktion des Schwerbehindertenrechts, die Eingliederung behinderter Menschen zu fördern und nicht deren Ausgrenzung, nahe liegend erscheint, dass der behinderte Mensch zum Objekt auf ihn einwirkender äußerer Einflüsse werden kann, entschieden, dass die Zumutbarkeit der Teilnahme vor dem Hintergrund der durch Artikel 1
GG geschützten Menschenwürde nur subjektiv aus der Sicht des Schwerstbehinderten beurteilt werden könne. Diesen Grenzbereich hat der Senat als erreicht angesehen, wenn der Betroffene nur in einem Rollstuhl fixiert an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Die Situation eines so schwer behinderten Menschen sei mit der eines "normalen" Rollstuhlfahrers nicht zu vergleichen. Es handelt sich mithin um eine Einzelfallentscheidung, die auf eine extreme Situation zugeschnitten und auf die vorliegende Fallkonstellation mit der Klägerin als "normaler" Rollstuhlfahrerin nicht übertragbar ist.
Abschließend kann dahinstehen, ob für die näheren Einzelheiten über die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" auf die in den "Anhaltspunkte[n] für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (
AHP, letzte Ausgabe 2008 herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Ausgaben zuvor herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung) niedergelegten Maßstäbe zurückzugreifen ist, wobei hier nur auf die
AHP 2005 (
Nr. 33,
S. 141 f.) zurückgegriffen werden könnte, weil weder die
AHP 2008 noch die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1
Abs. 1 und 3, des § 30
Abs. 1 und des § 35
Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (
Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) Aussagen über das Merkzeichen "RF" enthalten. Nach
Nr. 33 der
AHP 2005, der seinerseits landesrechtliche Vorschriften und ergänzende Rechtsprechung in Bezug nimmt, sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" immer erfüllt bei behinderten Menschen
- bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) - bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (
z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können,
- die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken
(z. B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können),
- mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose,
- nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden,
- geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören.
Dieser Personenkreis muss allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte Menschen, die noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, erfüllen die Voraussetzungen nicht.
Auch unter Berücksichtigung dieser in
Nr. 33 der
AHP 2005 genannten Kriterien hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF". Denn die Klägerin ist - wie dargelegt - nicht allgemein von öffentlichen Zusammenkünften und Veranstaltungen ausgeschlossen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG). Die mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2009 getroffene Kostenentscheidung war hierbei auch insoweit unangetastet zu lassen, als der Beklagte hiermit eine die Klägerin teilweise begünstigende Regelung getroffen hat. Der begünstigende Teil der Kostengrundentscheidung des Widerspruchsbescheides ist bei verständiger Würdigung des Klagebegehrens nicht Gegenstand des Klage- und Berufungsverfahrens gewesen und somit in Bestandskraft erwachsen (§ 77
SGG).
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160
Abs. 2
Nr. 1 und 2
SGG nicht vorliegt.