Urteil
Keine Rundfunkgebührenbefreiung für Rollstuhlfahrerin

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 11. Senat


Aktenzeichen:

L 11 SB 115/10


Urteil vom:

19.05.2011


Grundlage:

Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtlichen Kosten für das Klage- und für das Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten. Die mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2009 getroffene Kostenentscheidung bleibt hiervon unberührt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen "RF").

Die 1929 geborene Klägerin erlitt im Jahr 2003 einen Schlaganfall. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 18. Februar 2004 stellte der Beklagte antragsgemäß einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) und "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) fest. Als Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigte er einen Hirninfarkt mit Halbseitenschwäche links (Einzel-GdB 80) und Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck (Einzel-GdB 10).

Am 12. Juni 2008 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten unter anderem die Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Sie gab als Behinderungen und Leiden eine linksseitige Lähmung, eine Gleichgewichtsstörung sowie eine Überbelastung der rechten (Körper)Hälfte an. Als orthopädische Hilfsmittel verwende sie neben Rollstuhl und Gehstock einen Haltegriff am WC sowie ein elektrisches Bett. Der Beklagte holte einen Befundbericht bei dem die Klägerin behandelnden Hausarzt und Facharzt für Innere Medizin Dr. S ein. Diesen nebst Anlagen - Arztbrief des RMB vom 10. Januar 2008 und ein korrigierter Arztbrief der B Klinik vom 11. Oktober 2006 über eine stationäre neurologische Frührehabilitation vom 20. September 2006 bis zum 11. Oktober 2006 - legte der Beklagte der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. H vor, die mitteilte, eine Befundänderung liege nicht vor. Inkontinenz und psychische Auffälligkeiten würden nicht beschrieben, so dass die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" nicht begründet sei. Allerdings sei das Merkzeichen "T" (Teilnahme am Sonderfahrdienst) zuzuerkennen. Mit Bescheid vom 29. September 2008 stellte der Beklagte den Gesamt-GdB weiter mit 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "B", "aG" und "T" fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" lägen dagegen nicht vor.

Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein. Sie brauche ständige Begleitung. Ganz besonders beim Gang zur Toilette brauche sie Hilfe mit der Kleidung, da sie keine Windeln tragen müsse, sondern die Toilette aufsuchen könne. Ihr Mann könne sie nicht begleiten, da er täglich rund um die Uhr mit ihr beschäftigt sei, dies auch in der Nacht, wenn sie auf die Toilette müsse. Zudem sei ihr Mann auch nicht mehr vollkommen gesund.

Der Beklagte forderte bei der Pflegekasse der Klägerin das Gutachten der Pflegefachkraft T zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI vom 6. Februar 2006 (Begutachtungsdatum 19. Januar 2006) an. Danach liegen die Voraussetzungen zur Anerkennung einer Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufe II (weiter) vor. In dem Gutachten heißt es, die linke Körperhälfte sei bei schlaffer Hemiparese links völlig funktionslos. Mit dem rechten Arm und der rechten Hand seien alle Griffe möglich. Bei mäßiger Kraft sei Greifen und Halten möglich. Aufstehen und Hinsetzen sei mit Abstützen möglich. Die Klägerin laufe mit Gehstock und 4-Punkt-Gehbock ein paar Schritte. Aufgrund von Gleichgewichtsstörungen mit Schwindel sei eine Begleitung nötig. Längere Wege würden mit Rollstuhl zurückgelegt. Sie könne sich, wenn sie in der Wohnung im Rollstuhl sitze, teilweise allein fortbewegen. Sie schiebe sich mit dem rechten Fuß vorwärts. Freies Stehen sei nicht möglich. Inkontinenz bestehe nicht. Im Denken wirke die Klägerin leicht verlangsamt. Sie müsse etwas länger überlegen, bevor sie Fragen beantworte. Sie sei in allen Bereichen orientiert, Gedächtnisstörungen lägen nicht vor. Aufgrund der Hemiplegie links sowie einer Adipositas sei eine Hilfestellung beim Aufstehen und Zu-Bett-Gehen erforderlich. Sie müsse an- und ausgekleidet und zu den gesetzlichen Verrichtungen zehn Mal täglich begleitet werden. Nachts brauche sie zwei Mal Hilfe auf den Toilettenstuhl.

Nach Einholung einer Stellungnahme bei dem Versorgungsarzt S vom 8. Dezember 2008 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 17. Dezember 2008 bei sonst unveränderten Feststellungen das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" (Hilflosigkeit) fest. Im Übrigen wies er den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 2. März 2009 zurück. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen würden zur Hälfte erstattet.

Hiergegen hat die Klägerin am 31. März 2009 Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben. Sie hat unter anderem vorgetragen, dass der aufwändige Transport zu öffentlichen Veranstaltungen nur "gut geplant" möglich sei. Ihre linke Körperhälfte sei von der Schulter an gelähmt. Wenn sie zu einer Veranstaltung begleitet werde, müsse sie von der Begleitperson unter anderem auch auf die Toilette begleitet werden, um ihr in jeglicher Angelegenheit Hilfe zu leisten. Dies setze voraus, dass sich am Veranstaltungsort eine gut ausgestattete, behindertengerechte Toilette befinde, was nur bei den wenigsten Veranstaltungsorten der Fall sei. Zu berücksichtigen seien auch die mehrfach täglich auftretenden Kreislaufstörungen in Kombination mit starken Schwindelanfällen. In diesen Fällen sei der Besuch öffentlicher Veranstaltungen völlig ausgeschlossen.

Mit Schreiben vom 25. Januar 2010 hat die Klägerin ergänzend ausgeführt, dass ihr (zum Zeitpunkt des Schreibens) 76 Jahre alter Mann selbst oft krank sei und sie nicht auch noch begleiten könne. Während einer Veranstaltung müsse sie mindestens vier bis fünf Mal die Toilette aufsuchen, da sie viel trinken solle. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 31. März 2010 hat die persönlich erschienene Klägerin erklärt, dass sie die Toilette aufgesucht habe, bevor sie die Wohnung verlassen habe und nach Ankunft beim Sozialgericht gleich wieder die Toilette habe aufsuchen müssen. Bei einer früheren Prüfung der örtlichen Verhältnisse des Sozialgerichts habe sie sich prompt eingenässt, weil eine Toilette nicht schnell genug verfügbar gewesen sei. Spaziergänge innerhalb Berlins würden sie und ihr Mann so planen, dass bekannte behindertengerechte Toiletten - etwa in Baumärkten - auf dem Weg liegen.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht bei Dr. S vom 28. Mai 2009 eingeholt.

Mit Urteil vom 31. März 2010 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Änderung seiner Bescheide vom 29. September 2008 sowie vom 17. Dezember 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. März 2009 verurteilt festzustellen, dass die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" ab Antragstellung erfülle. Im Wesentlichen hat das Sozialgericht zur Begründung ausgeführt, dass die Klägerin nicht auf das Tragen von Windelhosen verwiesen werden könne, weil die darauf zielende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu Schwerbehinderten ergangen sei, die - anders als die Klägerin - unter unwillkürlichem Harnabgang leiden. Bestehe eine ausgesprochen eingeschränkte Möglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen - wie dies bei der Klägerin der Fall sei - vermöge die objektiv bestehende Teilnahmemöglichkeit im Rollstuhl und in Begleitung die Zumutbarkeit des Besuchs der Veranstaltung für den Behinderten nicht zu begründen. Das Gericht folge insoweit der Ansicht des 11. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, wonach in Grenzbereichen ein Rückgriff auf notwendigerweise subjektive Einschätzungen des Betroffenen erforderlich sei, wenn es um die ohnehin stark eingeschränkte Möglichkeit des Schwerstbehinderten gehe. Dass die Klägerin an der mündlichen Verhandlung habe teilnehmen können, stehe diesem Ergebnis nicht entgegen, weil gelegentliche, von einem Ausnahmecharakter geprägte Veranstaltungen, die nicht ins Gewicht fallen, unschädlich seien.

Gegen das ihm am 26. April 2010 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 20. Mai 2010 Berufung eingelegt. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" lägen nicht vor. Die Klägerin könne auf das Tragen von Windelhosen verwiesen werden. Ungeachtet dessen sei die von der Klägerin vorgetragene Notwendigkeit häufiger Toilettengänge nicht medizinisch belegt. Der Hinweis auf eine Entscheidung des 11. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg gehe fehl, weil dieser Entscheidung eine andere Fallgestaltung zugrunde gelegen habe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Verweis auf das Tragen von Windelhosen stelle einen Verstoß gegen die Menschenwürde dar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Berlin Urteil vom 31.10.2010 - S 161 SB 1068/09

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht Berlin den Beklagten unter Änderung seiner Bescheide vom 29. September 2008 sowie vom 17. Dezember 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. März 2009 verurteilt festzustellen, dass die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" ab Antragstellung erfüllt. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF".

Nach § 69 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen sie auch insoweit die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen "RF" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

Mit der Verweisung auf das Landesrecht sind heranzuziehen die Vorschriften des am 1. April 2005 in Kraft getretenen § 6 Abs. 1 Satz 1 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes (Gesetz zum Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrag) vom 27. Januar 2005 (GVBl. S. 82), welches die bis dahin geltende Berliner Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 2. Januar 1992 (GVBl. S. 3) aufhob. Spätere Änderungen, zuletzt im Dreizehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 3. Februar 2010 (GVBl. S. 39), haben die hier maßgeblichen Voraussetzungen unberührt gelassen.

Der Senat lässt offen, ob er an seiner Rechtsauffassung, wonach die landesrechtlichen Regelungen über die Rundfundgebührenbefreiung aus gesundheitlichen Gründen anzuwenden sind, festhält (vgl. Urteil des Senats vom 30. April 2009 - L 11 SB 348/08 - juris - m. w. N. zum Meinungsstand). Auch in diesem Fall liegen deren Voraussetzungen hier jedenfalls nicht vor.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7), der auf bestimmte Sehbehinderte und Hörgeschädigte zugeschnitten ist, kommt ersichtlich nicht in Betracht) werden auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht schwerbehinderte Menschen befreit, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern. Öffentliche Veranstaltungen sind damit nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. nur BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 - 9/9a RVs 2/96 - SozR 3-3780 § 4 Nr. 17). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, das heißt allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann. Bei der vom BSG vertretenen Auslegung muss der Schwerbehinderte praktisch an das Haus gebunden sein, um seinen Ausschluss an öffentlichen Veranstaltungen begründen zu können. Es kommt nicht darauf an, ob jene Veranstaltungen, an denen er noch teilnehmen kann, seinen persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen. Sonst müsste jeder nach einem anderen, in sein Belieben gestellten Maßstab von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Das wäre mit dem Gebührenrecht nicht vereinbar, denn die Gebührenpflicht selbst wird nicht bloß nach dem individuell unterschiedlichen Umfang der Sendungen, an denen die einzelnen Teilnehmer interessiert sind, bemessen, sondern nach dem gesamten Sendeprogramm. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der Nachteilsausgleich "RF" nur Personengruppen zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.

Nach diesen Grundsätzen, von den auch der Senat in seiner ständigen Rechtsprechung ausgeht, liegen die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" hier nicht vor. Denn die Klägerin ist nicht wegen ihres Leidens ständig, das heißt allgemein und umfassend, vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen ausgeschlossen.

Die Klägerin kann mithilfe ihres Rollstuhls öffentliche Veranstaltungen aufsuchen und an ihnen teilnehmen. Dass die Klägerin nicht länger als 30 Minuten im Rollstuhl sitzend an einer öffentlichen Veranstaltung teilnehmen kann, ist weder erkennbar noch vorgetragen. Soweit die Klägerin in ihrem Schreiben an das Sozialgericht vom 18. August 2009 generell von mehrmals täglich auftretenden Kreislaufstörungen in Kombination mit starken Schwindelanfällen berichtet und erklärt, dass in diesen Fällen ein Besuch öffentlicher Veranstaltungen nicht möglich sei, wobei diese Zustände gehäuft und unvorhersehbar auftreten würden, folgt daraus nichts anderes. Die vorgetragenen Kreislaufstörungen treten ausweislich eines Schreibens der Klägerin an den Beklagten vom 20. Oktober 2008 nur beim Gehen auf. Dies entspricht auch den Ausführungen in dem Pflegegutachten vom 6. Februar 2006, nach denen die Gleichgewichtsstörungen beim Gehen auftreten und daher eine Begleitung erforderlich sei. Andererseits wären auch die Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht nicht verständlich, nach denen sie innerhalb Berlins mit ihrem Ehemann Spaziergänge macht und die örtlichen Verhältnisse beim Sozialgericht Berlin im Vorfeld der mündlichen Verhandlung geprüft hat.

Solange aber ein schwerbehinderter Mensch mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er von der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen (vgl. nur BSG, Urteil vom 3. Juni 1987 - 9a RVs 27/85 - juris). Nach dem zitierten Urteil des BSG, dem der Senat nach eigener Prüfung umfassend folgt, wird die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen durch Rollstuhlfahrer mit und ohne Begleitperson auch als normal empfunden und sind für diesen Personenkreis in den meisten Fällen auch entsprechende Vorkehrungen getroffen worden (Rampen, verbreiterte Türen, geeignete Toiletten). Auf das Alter und den Gesundheitszustand ihres Ehemannes als Begleitperson kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg berufen. Insoweit hat das BSG in der genannten Entscheidung eine allein stehende Person darauf verwiesen, gegebenenfalls von der Möglichkeit eines Hin- und Rücktransportes durch die im allgemeinen gut organisierten Sozialdienste Gebrauch zu machen.

Nichts anderes folgt hier aus der von der Klägerin vorgetragenen Notwendigkeit häufiger Toilettengänge. Die Klägerin ist insoweit auf das Anziehen von einmal zu tragenden Windelhosen zu verweisen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen (vgl. hierzu und zum Folgenden nur BSG, Urteil vom 11. September 1991 - 9a RVs 1/90 - juris). Das Tragen solcher Slips ist zumutbar. Es verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Artikel 1 des Grundgesetzes (GG)) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz (Artikel 20 Abs. 1 GG). Dass diese Rechtsprechung des BSG nur zu schwerbehinderten Menschen ergangen ist, die unter Harninkontinenz leiden, steht dem - anders als das Sozialgericht und die Klägerin meinen - nicht entgegen. Zur Frage eines Verstoßes gegen die Menschenwürde führt das BSG aus, dass der schwerbehinderte Mensch mit seiner schweren Behinderung anerkannt werde, die schicksalhafter Teil des menschlichen Lebens sei und als solche ebensowenig gegen die Menschenwürde verstoße wie das Leben unter anderen beschwerlichen Umständen (vgl. BSG, Urteil vom 9. August 1995 - 9 RVs 3/95 - juris). Die Notwendigkeit, Windelhosen zu tragen, sei nur eine Auswirkung dieser Behinderung. Es handele sich dabei um ein übliches, behindertengerechtes Hilfsmittel, dessen funktionsgerechte Benutzung als solche keine Verletzung der Menschenwürde darstellen könne, weil sie den behinderten Menschen nicht zusätzlich herabmindere, sondern im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen seiner Behinderung mildere. Das subjektive Empfinden des Behinderten, der dies als unangenehm empfinden mag, sei eine verständliche Begleiterscheinung seiner Erkrankung, habe aber nicht zur Folge, ihm deswegen überhaupt nicht mehr den Besuch öffentlicher Veranstaltungen zuzumuten. Diese Ausführungen, denen der Senat nach eigener Prüfung vollumfänglich folgt, können ohne weiteres auch auf solche schwerbehinderten Menschen übertragen werden, die auf das Tragen von Windelhosen nicht infolge Harninkontinenz angewiesen sind. Namentlich ist nicht erkennbar, dass für schwerbehinderte Menschen mit und ohne Harninkontinenz unterschiedliche Maßstäbe für die Bestimmung ihrer Menschenwürde zu gelten haben.

Offen bleiben kann daher, ob der offenbar nicht harninkontinenten Klägerin vor der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen eine Reduzierung der Flüssigkeitsaufnahme zugemutet werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 - 9 RVs 2/96 - juris).

Zu Unrecht beruft sich das Sozialgericht für seine Entscheidung auf ein Urteil des Senats vom 30. April 2009 (L 11 SB 348/08 - juris). Dort hatte der Senat für einen Grenzbereich, in dem es trotz der Funktion des Schwerbehindertenrechts, die Eingliederung behinderter Menschen zu fördern und nicht deren Ausgrenzung, nahe liegend erscheint, dass der behinderte Mensch zum Objekt auf ihn einwirkender äußerer Einflüsse werden kann, entschieden, dass die Zumutbarkeit der Teilnahme vor dem Hintergrund der durch Artikel 1 GG geschützten Menschenwürde nur subjektiv aus der Sicht des Schwerstbehinderten beurteilt werden könne. Diesen Grenzbereich hat der Senat als erreicht angesehen, wenn der Betroffene nur in einem Rollstuhl fixiert an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Die Situation eines so schwer behinderten Menschen sei mit der eines "normalen" Rollstuhlfahrers nicht zu vergleichen. Es handelt sich mithin um eine Einzelfallentscheidung, die auf eine extreme Situation zugeschnitten und auf die vorliegende Fallkonstellation mit der Klägerin als "normaler" Rollstuhlfahrerin nicht übertragbar ist.

Abschließend kann dahinstehen, ob für die näheren Einzelheiten über die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" auf die in den "Anhaltspunkte[n] für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP, letzte Ausgabe 2008 herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Ausgaben zuvor herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung) niedergelegten Maßstäbe zurückzugreifen ist, wobei hier nur auf die AHP 2005 (Nr. 33, S. 141 f.) zurückgegriffen werden könnte, weil weder die AHP 2008 noch die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) Aussagen über das Merkzeichen "RF" enthalten. Nach Nr. 33 der AHP 2005, der seinerseits landesrechtliche Vorschriften und ergänzende Rechtsprechung in Bezug nimmt, sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" immer erfüllt bei behinderten Menschen

- bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) - bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können,

- die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken (z. B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können),

- mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose,

- nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden,

- geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören.

Dieser Personenkreis muss allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte Menschen, die noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, erfüllen die Voraussetzungen nicht.

Auch unter Berücksichtigung dieser in Nr. 33 der AHP 2005 genannten Kriterien hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF". Denn die Klägerin ist - wie dargelegt - nicht allgemein von öffentlichen Zusammenkünften und Veranstaltungen ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die mit Widerspruchsbescheid vom 2. März 2009 getroffene Kostenentscheidung war hierbei auch insoweit unangetastet zu lassen, als der Beklagte hiermit eine die Klägerin teilweise begünstigende Regelung getroffen hat. Der begünstigende Teil der Kostengrundentscheidung des Widerspruchsbescheides ist bei verständiger Würdigung des Klagebegehrens nicht Gegenstand des Klage- und Berufungsverfahrens gewesen und somit in Bestandskraft erwachsen (§ 77 SGG).

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

Referenznummer:

R/R3744


Informationsstand: 09.12.2011