Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin verhandeln und entscheiden (§ 153
Abs. 1 in Verbindung mit § 110
Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.
Zunächst leidet die Entscheidung des Sozialgerichts an mehreren Verfahrensmängeln.
Auf der Grundlage der Auffassung des Sozialgerichts, der Kläger begehre die Feststellung, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" vorlägen, hat es entgegen seiner Aufklärungspflicht gemäß § 103
SGG nicht hinreichend aufgeklärt, ob - wie der Kläger vorträgt - der nicht kontrollierbare Stuhldrang (
ca. zehnmal am Tag Durchfall) und die damit einhergehende Geruchsbelästigung den Besuch öffentlicher Veranstaltungen dauernd verhinderten. Allein auf die Angaben des behandelnden Arztes K im Befundbericht vom 24. Januar 2011 durfte das Sozialgericht nicht seine Entscheidung stützen. Auf die Fragen, wie sich die Behinderungen des Klägers auf seine Möglichkeit zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen auswirkten, ob er insbesondere unter schweren Bewegungsstörungen oder unüberwindbaren psychischen Hemmschwellen leide, ob er durch seine Behinderung unzumutbar abstoßen oder störend auf die Umgebung wirke und ob er deshalb dauernd daran gehindert sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, hat der Arzt lediglich "keine wesentliche Einschränkung" vermerkt, ohne dies auch nur ansatzweise zu erläutern. Im Übrigen verliert die Überzeugungskraft dieser Einschätzung dadurch, dass der Arzt die Frage nach den Funktionseinschränkungen des Klägers dahingehend beantwortet hat, er habe bisher keine wesentlichen Funktionseinschränkungen beobachtet. Der Widerspruch dieser ärztlichen Äußerung zu der - zwischen den Beteiligten unstreitigen - Feststellung eines
GdB von 100 hätte das Sozialgericht veranlassen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen, statt die Angaben des Arztes unkritisch zu übernehmen. Das Sozialgericht hat damit - auf der Grundlage seines Verständnisses des Klageantrags - verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter im Wege des Gerichtsbescheids ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12
Abs. 1 Satz 2
SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105
Abs. 1 Satz 1
SGG nicht vorgelegen haben, da der Sachverhalt nicht geklärt war.
Der Senat sieht jedoch von einer Zurückverweisung nach § 159
Abs. 1
Nr. 2
SGG an das Sozialgericht ab. Denn bei richtigem Verständnis des klägerischen Begehrens ist der Rechtsstreit entscheidungsreif, da keine weiteren tatsächlichen Ermittlungen erforderlich sind.
Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts hat der Kläger keine Verpflichtungsklage auf Verurteilung der Behörde erhoben, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" (neu) festzustellen. Auf den Wortlauf des Klageantrags kommt es hierbei nicht an. Maßgebend ist vielmehr das durch Auslegung zu ermittelnde Begehren des Klägers. Dieses richtet sich vorliegend darauf, dass das Merkzeichen "RF" in seinen Schwerbehindertenausweis einzutragen ist. Denn er bedarf keiner (erneuten) Feststellung durch den Beklagten, da der ursprüngliche Feststellungsbescheid vom 13. Juli 1993 hinsichtlich des hier streitgegenständlichen Merkzeichen "RF" noch wirksam ist und deshalb den Anspruch des Klägers auf Eintragung dieses Merkzeichens trägt.
Die seinerzeit von dem Beklagten getroffene Feststellung ist später nicht aufgehoben worden, insbesondere nicht durch den Bescheid vom 22. August 1996. Dieser (Teil-) Aufhebungsbescheid ist nicht wirksam geworden, da nicht nachgewiesen ist, dass er dem Kläger
bzw. dessen Mutter als gesetzlicher Vertreterin gegenüber bekannt gegeben wurde. An sich gilt der Bescheid nach § 37
Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (
SGB X) am 25. August 1996, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post (am 22. August 1996) als bekannt gegeben. Vorliegend greift diese gesetzliche Fiktion jedoch nicht, da Zweifel an dem Zugang des Verwaltungsakts bestehen (§ 37
Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2
SGB X). Die Mutter des Klägers hat nämlich ausdrücklich bestritten, den Bescheid vom 22. August 1996 erhalten zu haben. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, die Zweifel an dem Wahrheitsgehalt dieses Vorbringens begründen würden. Der Umstand, dass die Mutter des Klägers unter dem 5. Januar 1997 dem Beklagten den Schwerbehindertenausweis ihres Sohnes zur "Neustempelung" schickte, spricht nicht dafür, dass sie den Bescheid doch erhalten hatte. Denn der Beklagte hatte sie zuvor mit Schreiben vom 14. Oktober 1996 hierzu aufgefordert (ohne hierbei auf den Aufhebungsbescheid vom 22. August 1996 Bezug zu nehmen).
Ebensowenig weist auf den Zugang des Bescheides hin, dass die Mutter des Klägers die Streichung des Merkzeichens "RF" im Schwerbehindertenausweis hinnahm und im späteren Verfahren ausführte, dieses Merkzeichen sei dem Kläger "aberkannt" worden. Offenbar hat sie entweder das Anhörungsschreiben vom 14. Juni 1996 oder die Entstempelung des Ausweises (die sich lediglich als Vollzugsmaßnahme der Aberkennung, nicht aber als eine Regelung darstellt) unzutreffenderweise als Aufhebung der das Merkzeichen "RF" betreffenden Feststellung im ursprünglichen Bescheid verstanden. Dieses Missverständnis ändert jedoch nichts daran, dass dem Kläger gegenüber keine Aufhebung verfügt wurde, da der betreffende Bescheid vom 22. August 1996 nicht wirksam wurde.
Der Bescheid des Beklagten vom 29. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2009 ist aufzuheben, da er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Da - wie dargelegt - die ursprüngliche Feststellung, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" bei dem Kläger vorliegen, noch wirksam ist, stellt sich die gegenteilige Feststellung des Beklagten als Aufhebung des Feststellungsbescheides nach § 48
Abs. 1 Satz 1
SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine derartige Regelung wollte der Beklagte auf dem Boden der Annahme, dass dem Kläger das Merkzeichen "RF" bereits 1996 entzogen worden war, jedoch nicht treffen. Eine Umdeutung des Bescheides scheitert schon daran, dass nach der Auffassung des Beklagten die maßgebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse - dokumentiert durch das dem Beklagten im März 1996 übersandte MDK-Gutachten vom 20. November 1995 - bereits 1995 eingetreten ist. Die ab Kenntnis der die Aufhebung rechtfertigenden Tatsachen laufende Jahresfrist des § 44
Abs. 4 Satz 2 in Verbindung mit § 48
Abs. 4 Satz 1
SGB X ist damit weit überschritten.
Die Kostenentscheidung folgt dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2
SGG) sind nicht gegeben.