Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil den Beklagten im Ergebnis zu Recht verpflichtet, dem Kläger das Merkzeichen "G" zuzuerkennen. Die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Merkzeichens sind bei dem Kläger erfüllt.
Gemäß
§ 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (
§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach
§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -
BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987,
9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60
Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.
Denn
Nr. 30
Abs. 3 bis 5 der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (
AHP), wobei vorliegend entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der
AHP von 1996, 2004, 2005 und - zuletzt - 2008 heranzuziehen sind, gibt an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit tragen die Anhaltspunkte dem Umstand Rechnung, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die Anhaltspunkte beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (
BSG, Urteil vom 13. August 1997,
9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60
Nr. 2). Die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (
VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) festgelegten
"Versorgungsmedizinischen Grundsätze", die am 1. Januar 2009 in Form einer
Rechtsverordnung in Kraft getreten sind, enthalten hinsichtlich der Bewertung des Merkzeichens "G" keine grundsätzliche Änderungen, so dass es keiner Entscheidung darüber bedarf, ob sie mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage überhaupt Anwendung finden dürfen.
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G". Die Sachverständigen
Dr. R und
Dr. K haben übereinstimmend und überzeugend festgestellt, dass der Kläger eine Wegstrecke von 2000 m, die im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt wird, nicht innerhalb von 30 Minuten zurücklegen kann. Dieser Zustand besteht auch infolge einer Behinderung, die das Gehvermögen des Klägers einschränkt.
Allerdings lässt sich die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht allein auf eine behinderungsbedingte orthopädische Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei dem Kläger keine sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen
GdB von wenigstens 50 bedingen (
vgl. Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV). Zu Unrecht hat das Sozialgericht hierbei einen Einzel-
GdB für die Wirbelsäule von 40 herangezogen, da mit diesem Wert die gesamte Wirbelsäule zu bewerten ist. Hinsichtlich des Merkzeichens "G" ist allein auf die Lendenwirbelsäule abzustellen. Unter Berücksichtigung der gutachterlich erhobenen Befunde haben - wovon auch der Beklagte ausgeht - die Wirbelsäulenschäden an der Lendenwirbelsäule des Klägers schwere funktionelle Auswirkungen, die nach
Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-
GdB von 30 zu bewerten sind. Die übrigen Einschränkungen der unteren Extremitäten, nämlich die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke und des oberen Sprunggelenks links, erhöhen diesen
GdB von 30 nicht, und zwar unabhängig davon, ob sie zusammengefasst mit einem Einzel-
GdB von 10 oder jeweils mit einem Einzel-
GdB von 10 zu bewerten sind. Denn nach
Teil A Nr. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV führen (von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen abgesehen) zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen
GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Nach den Feststellungen der Gutachter sind bei dem Kläger auch keine Behinderungen an den unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule mit einem
GdB unter 50 gegeben, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, was beispielsweise bei einer Versteifung des Hüftgelenks, einer Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem
GdB von 40 anzunehmen wäre (
vgl. Teil D
Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2
VersMedV).
Eine rein orthopädische Betrachtungsweise wird den Behinderungen des Klägers jedoch nicht gerecht. Dementsprechend sieht Teil D
Nr. 1d Satz 3 der Anlage zu § 2
VersMedV vor, dass die Annahme einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit auch auf innere Leiden gestützt werden kann. Zu berücksichtigen ist vorliegend der chronisch rezidivierende Schwindel, an dem der Kläger leidet und den der Beklagte (unter "Gleichgewichtsstörungen") zu Recht im Ausführungsbescheid vom 14. Juni 2005 als Behinderung aufgeführt hat. Der Sachverständige
Dr. K hat nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass die Beeinträchtigung des Klägers bei der Teilnahme am Straßenverkehr durch mehrere Teilkomponenten verursacht wird. Dessen Gehfähigkeit wird insbesondere durch das Zusammenspiel der orthopädisch-funktionellen Defizite der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule mit dem Schwindel eingeschränkt. Denn nach den Feststellungen des Gutachters beeinflussen die Gleichgewichtsstörungen mit Desorientiertheit und teilweise erheblichen Schwindelattacken maßgeblich die sichere Fortbewegung vor allem im öffentlichen Raum. Hierbei ist es unerheblich, ob der Schwindel auf das hirnorganische Psychosyndrom, auf eine Erkrankung des Hörorgans oder - wie der Sachverständige B im Gutachten vom 17. Oktober 2011 gemeint hat - auf eine Somatisierungsstörung zurückzuführen ist. Denn nach
Teil A Nr. 2a der Anlage zu § 2 VersMedV ist der
GdB auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache (also final) bezogen. Abzustellen ist vielmehr auf die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Entgegen der Ansicht des Beklagten tritt der Schwindel bei dem Kläger auch nicht allein nachts beim Umdrehen auf. In der ergänzenden Stellungnahme zu seinem Gutachten hat der Sachverständige
Dr. K ausdrücklich dargelegt, der Kläger habe ihm gegenüber beschrieben, dass der Schwindel nicht nur beim nächtlichen Lagewechsel, sondern auch im Straßenverkehr auftrete. Auch wird den weiteren Bedenken des Beklagten nicht gefolgt, dass der Schwindel nur anamnestisch beschrieben worden ist. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger hieran leidet. Bereits in dem vom Sozialgericht eingeholten Gutachten des Orthopäden
Dr. R hat der Sachverständige, den Angaben des Klägers folgend, vorgeschlagen, die Gleichgewichtsstörungen mit leichter Unsicherheit und Schwindelerscheinungen als Behinderung aufzunehmen. Auch im Entlassungsbericht der Klinik S vom 22. September 2009 wird von häufiger Schwindligkeit und Gehunsicherheit berichtet. Schließlich hat der Gutachter
Dr. K dargelegt, gegen die Glaubhaftigkeit der vom Kläger gemachten Angaben spreche nicht, dass er bei der körperlichen Untersuchung keine Schwindelsymptome habe auslösen können. Denn die Ergebnisse der klinischen und röntgenologischen Untersuchung ließen eine derartige Einschätzung zu. Dem schließt der Senat sich an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits. Hinsichtlich der Kosten des Verfahrens vor dem Sozialgericht ist berücksichtigt, dass der Beklagte der während des Klageverfahrens eingetretenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers durch das Teilanerkenntnis hinsichtlich der Höhe des
GdB Rechnung getragen hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2
SGG) sind nicht erfüllt.