Urteil
Anerkennung des Merkzeichen H während einer Weiterbildung

Gericht:

LSG Bayern 18. Senat


Aktenzeichen:

L 18 SB 88/03


Urteil vom:

21.09.2004


Tenor:

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10.07.2003 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem gehörlosen Kläger für den Zeitraum einer beruflichen Weiterbildung das Merkzeichen H erneut zusteht.

Bei dem 1975 geborenen Kläger sind mit Bescheid vom 30.01.1978 mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 als Behinderung anerkannt: "An Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beiderseits mit Retardierung der Sprachentwicklung".

Die Merkzeichen H und RF waren zuerkannt.

Der Beklagte entzog das Merkzeichen H mit Änderungsbescheid vom 02.04.1997 nach Abschluss der Berufsausbildung zum Elektroniker.

Am 09.12.2002 beantragte der Kläger, ihm das Merkzeichen H wieder zu gewähren. Zur Begründung gab er an, dass er im Oktober 2002 eine Fortbildung des D.-Technikums zum staatlich geprüften (Elektro-)Techniker begonnen habe. Die Lehrgangsdauer betrage 46 Monate. Die Fortbildung beinhalte Samstags- und Seminarunterricht im Umfang von mindestens 70 Unterrichtsstunden pro Semester. Zusätzlich erfolge ein Selbststudium mit dem Lehrmaterial des D.-Technikums. Der Beklagte lehnte die Wiedergewährung des Merkzeichens H mit Bescheid vom 13.02.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.03.2003 ab. Zur Begründung gab er an, die Fortbildung sei hinsichtlich der Dauer zwar einer beruflichen Erstausbildung vergleichbar. Hinsichtlich der Unterrichtsart unterscheide sie sich aber wesentlich von einer Erstausbildung. Unterricht finde nämlich nur an einem halben Tag pro Woche statt, später in zwei Kompaktseminaren pro Semester. Die typische zur Hilflosigkeit eines Gehörlosen führende Situation einer Ausbildung - Unterricht grundsätzlich jeden Tag bzw praktische Anleitung bei einer Lehre - sei hier nicht gegeben. Das Leben des Klägers werde nicht - wie sonst bei einer Ausbildung - überwiegend davon bestimmt, dass er auf mündliche Kommunikation ständig und besonders angewiesen sei. Eine der allgemeinen Definition von Hilflosigkeit vergleichbare Situation (Notwendigkeit fremder Hilfe in erheblichem Umfang dauernd im Ablauf eines jeden Tages bei einer Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz) bestehe daher beim Kläger nicht.

Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg erhoben. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 10.07.2003 den Beklagten verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 13.02.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.03.2003 beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens H ab Oktober 2002 anzuerkennen. Es hat unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Auffassung vertreten, dass nicht wesentlich auf die Unterrichtsart, sondern auf die Intensität des Lernens und Fertigkeitserwerbs abzustellen sei. Die Intensität bei der Weiterbildung zum staatlich geprüften Elektrotechniker sei mindestens genauso, wenn nicht sogar höher einzuordnen, als bei der Ausbildung zum Elektroniker. Der Kommunikationsbedarf des Klägers im Rahmen seiner Weiterbildung komme dem Kommunikationsbedarf während einer Erstausbildung gleich, auch wenn ein solcher im Rahmen seiner Weiterbildung nicht täglich bestehe.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und geltend gemacht, dass während der Fortbildung nicht die gesamte Lebensführung des Klägers durch Hilfsbedürftigkeit geprägt sei. Es sei nicht die Situation wie bei einer Erstausbildung gegeben, in der das Leben überwiegend auf Ausbildung ausgerichtet sei. Während Schule, Lehre oder Studium werde die ganze Arbeitskraft vollzeitig auf den Erwerb von Kenntnissen bzw Fertigkeiten gerichtet. Dabei spiele die mündliche Kommunikation eine besondere Rolle. Während der Schulzeit und des Studiums seien grundsätzlich an 5 Tagen in der Woche Unterricht bzw Vorlesungen. Bei einer Lehre finde Berufsschulunterricht zwar nur an ein oder zwei Tagen in der Woche oder geblockt statt, doch sei auch in der praktischen Ausbildung mündliche Kommunikation von besonderer Bedeutung, und zwar wegen der Anleitungen durch den Meister oder sonstige Ausbilder, eventueller Fehlerkorrektur und anderer Rückmeldungen, sowie der Kommunikation mit Kollegen, die auch dem Lernprozess diene. Im Gegensatz dazu sei der Kläger vollzeitig berufstätig. Die Weiterbildung finde in der Freizeit durch Selbststudium statt, sowie zunächst am Samstagvormittag durch Unterricht. Während der Berufstätigkeit und des Selbststudiums bestehe kein zur Hilflosigkeit führender Kommunikationsbedarf. Kontakt mit Kommilitonen im Rahmen des Selbststudiums könne zwar sicher sinnvoll sein, ein besonders umfangreiches Kommunikationsbedürfnis bestehe aber nicht. Das Kommunikationsdefizit vom Umfang eines halben Tages pro Woche präge nicht die gesamte Lebensführung des Klägers. Für den Kläger stelle der mündliche Wissenstransfer keinen zentralen Punkt seines Lebens mehr dar.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10.07.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10.07.2003 zurückzuweisen.

Ergänzend wird auf die Schwerbehindertenakte des Klägers sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Würzburg Urteil vom 10.07.2003 - S 5 SB 272/03
BSG Urteil vom 24.11.2005 - B 9a SB 1/05 R

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens H für die Zeit seiner Weiterbildung zum staatlichen Elektrotechniker im Rahmen eines Fernstudiums. Das zusprechende Urteil des Sozialgerichts Würzburg war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen gemäß § 69 Abs 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) vom 19.06.2001, in Kraft getreten am 01.07.2001 (Art 68 Abs 1 SGB IX), die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen. Demgemäß entscheiden diese Behörden auch darüber, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen der vom Kläger beanspruchten steuerrechtlichen (vgl § 33 b Abs 3 Satz 2, Abs 6 Satz 3 Einkommensteuergesetz - EStG - idF vom 15.12.2003) Förderung bei Hilflosigkeit gegeben sind. Im Schwerbehindertenausweis ist das Merkzeichen H einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33 b EStG oder entsprechender Vorschriften ist (§ 3 Abs 1 Nr 2 der aufgrund von § 70 SGB IX ergangenen Schwerbehindertenausweisverordnung). Durch das seit Juli 2001 geltende neue Recht hat sich vorliegend in der Sache keine Änderung ergeben gegenüber dem bis dahin geltenden § 4 Abs 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG).

Eine Person ist hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf (§ 33 b Abs 6 Satz 3 EStG). Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu dem in Satz 3 in dieser Vorschrift genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfestellung erforderlich ist (§ 33 Abs 6 Satz 4 EStG). Diese Fassung des Begriffs der Hilflosigkeit geht auf Umschreibungen zurück, die von der Rechtsprechung im Schwerbehindertenrecht bezüglich der steuerlichen Vergünstigung und im Versorgungsrecht hinsichtlich der gleichlautenden Voraussetzungen für die Pflegezulage nach § 35 Bundesversorgungsgesetz entwickelt worden sind. Dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 14, 15 Elftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) angelehnt (vgl BSG Urteil vom 10.12.2003, Az: B 9 SB 4/02 R im VersorgVerw 2004, 65 bis 67 mwN). Gehörlos geborene oder vor Spracherwerb ertaubte Personen können auch hilflos im Sinne dieser Vorschrift sein, obwohl sie nur bei e i n e r Verrichtung des täglichen Lebens - nämlich bei der ständig erforderlichen Kommunikation - fremder Hilfe bedürfen; inwieweit das Kommunikationsdefizit fremde Hilfe in erheblichem Umfang erforderlich macht, lässt sich nicht schematisch nach der Anzahl der Verrichtungen festlegen. Die Hilfsbedürftigkeit in einem solchen entscheidenden Punkt kann ausreichen, wenn dieser Hilfebedarf die gesamte Lebensführung prägt (BSG aaO). Das Kommunikationsdefizit der vor Spracherwerb Ertaubten prägt deren gesamte Lebensführung aber regelmäßig nur bis zum Ablauf einer ersten Berufsausbildung, mithin in der von Lernen, Kenntnis- und Fähigkeitserwerb geprägten Lebensspanne (st. Rechtsprechung des BSG aaO mwN). Das BSG hat aber grundsätzlich anerkannt, dass (erneute) Hilflosigkeit zB bei einer langzeitigen beruflichen Weiterbildung vorliegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 15). Dies gilt jedoch nicht unterschiedslos für jede berufliche Weiterbildung. Das Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 27.04.1994 (BArbBL 1994, 6/69) trägt dem Umstand Rechnung, dass während einer beruflichen Weiterbildung wieder diejenigen Bedingungen eintreten können, die schon während der Erstausbildung zur Hilflosigkeit geführt haben. Das ist aber nur der Fall, wenn die Weiterbildung gleich hohe Anforderungen an Lernen und Fertigkeitserwerb stellt und wie eine Erstausbildung länger als 6 Monate dauert. Außerdem muss es sich um eine institutionalisierte Weiterbildung handeln. Um Hilfslosigkeit für eine weitere Ausbildung anzunehmen, bedarf es besonderer Umstände des Einzelfalles (aaO).

Der Kläger erfüllt die von der Rechtsprechung des BSG aufgestellten Voraussetzungen für die Gewährung des Nachteilsausgleichs H für das von ihm absolvierte Fernstudium nicht. Zwar handelt es sich bei diesem Fernstudium - wie vom BSG gefordert - um eine institutionalisierte Weiterbildung, die länger als 6 Monate dauert. Auch ist die Intensität des Lernens und Fertigkeitserwerbs nach Auffassung des erkennenden Senats durchaus mit den Anforderungen der Erstausbildung vergleichbar, der erforderliche Hilfebedarf ist aber im Gegensatz zu den Umständen der Erstausbildung nicht prägend für die gesamte Lebensführung des Klägers. Zu Recht weist der Beklagte darauf hin, dass das Leben des bereits berufstätigen Klägers nicht überwiegend auf Ausbildung ausgerichtet ist. Seine Weiterbildung findet in der Freizeit durch Selbststudium und vorwiegend durch Seminarunterricht an Samstagen statt. Der mündliche Wissenstransfer stellt daher keinen zentralen Rahmen des Fernstudiums dar.

Die Voraussetzungen für das Merkzeichen H liegen auch deshalb nicht vor, weil hilflos im Sinne von § 33 b Abs 6 EStG nur ist, wer bei den von dieser Vorschrift erfassten Verrichtungen für mindestens 2 Stunden am Tag fremde Hilfe dauernd bedarf (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 1). Zwar kann die Bedeutung des Kommunikationsdefizits nicht schematisch nach der Anzahl der Verrichtungen oder nach dem ermittelten Zeitbedarf festgelegt werden. Die Hilfsbedüftigkeit in dem entscheidenden und zentralen Punkt des Kommunikationsdefizits reicht für die Bejahung der Hilfsbedürftigkeit aber nur aus, wenn der Hilfebedarf für die gesamte Lebensführung prägend ist. Das während der Arbeitswoche absolvierte Fernstudium löst einen entsprechenden Hilfebedarf nicht aus, da der Kläger mittels elektronischer Medien jederzeit mit Studienkollegen kommunizieren kann. Somit fällt das Kommunikationsdefizit lediglich an Samstagen und bei 2 Kompaktseminaren pro Semester an. Es fehlt somit an dem erforderlichen t ä g l i c h e n Hilfebedarf.

Nach alledem war das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Er hält es für klärungsbedürftig, ob durch die vom BSG geforderte gesamte Prägung der Lebensführung durch den Hilfebedarf die berufliche Qualifizierung von Gehörlosen unzumutbar erschwert wird.

Referenznummer:

R/R4765


Informationsstand: 14.09.2010