Urteil
Aberkennung des Merkzeichen H (hilflos)
Gericht:
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen:
L 8 SB 1421/06
Urteil vom:
15.06.2007
LSG Baden-Württemberg
L 8 SB 1421/06
15.06.2007
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 8. Februar 2006 sowie der Bescheid des Beklagten vom 2. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2004 aufgehoben, soweit der Klägerin der Nachteilsausgleich H entzogen wurde.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.
Die am 26.08.1983 geborene Klägerin wendet sich (noch) gegen die Aberkennung des gesundheitlichen Merkmals (Merkzeichen) "H".
Für die Klägerin ist vom Amtsgericht - Vormundschaftsgericht - S. ihre Mutter E. D. zur Betreuerin bestellt worden. In der gesetzlichen Pflegeversicherung ist die Klägerin in die Pflegestufe 1 eingestuft. Sie besuchte die G.-v.-G.-Schule H. und zuletzt bis 17.07.2003 die S. Schule S., eine Sonderschule für geistig Behinderte, zu der die Klägerin innerhalb des Schuljahres 2002/2003 wechselte. Die Schulentlassung erfolgte nach 12 Schulbesuchsjahren. Ab September 2003 befand sich die Klägerin im Berufsförderungsbereich einer Werkstatt für Behinderte.
Das Versorgungsamt Rottweil stellte mit Bescheid vom 21.05.1992 wegen eines Williams-Beuren-Syndroms den Grad der Behinderung (GdB) mit 100 sowie die Merkzeichen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen "G", "B" und "H" fest. In einem Nachprüfungsverfahren stellte das zwischenzeitlich zuständig gewordene Versorgungsamt H. (VA) mit Bescheid vom 03.12. 1999 wegen des Williams-Beuren-Syndroms nunmehr den GdB mit 80 seit 10.12.1999 fest und lehnte einen Antrag der Klägerin auf Feststellung des Merkzeichens "RF" ab. Die zuerkannten Merkzeichen "G", "B" und "H" blieben weiterhin festgestellt. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, dem mit Bescheid des VA vom 09.10.2000 teilweise dahin abgeholfen wurde, dass der GdB weiterhin 100 seit dem 24.01.1992 beträgt. Die Klägerin erklärte ihren Widerspruch daraufhin für erledigt.
Am 27.05.2002 beantragte die Klägerin die Verlängerung ihres Ausweises sowie erneut die Feststellung des Merkzeichens "RF" und am 07.04.2003 außerdem die Erhöhung des GdB.
Die Klägerin musste am 27.02.2003 reanimiert werden, nachdem sie auf dem Schulweg ein Kammernflimmern erlitten hatte. Daraufhin wurde ihr am 27.03.2003 ein Pacer-Cardioverter-Defibrillator implantiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin bereits mehr als 20 Operationen gehabt (u.a. Schrittmacherimplantation 04/99, Mitralklappenrekonstruktion 10/98, Mitralklappenersatz 02/00). In der Zeit vom 05.06. bis zum 26.06.2003 befand sie sich in der Herz-Kreislauf-Klinik W. in Behandlung. Dort gab sie u.a. eine starke Beeinträchtigung durch Tinnitus an. Außerdem berichtete die Mutter der Klägerin über eine seit der Reanimation im Februar 2003 bestehende Sprachschwierigkeit der Klägerin, die sich in einer falschen Wortwahl, fehlerhafter Grammatik und erschwerter Formulierung geäußert habe.
Das VA zog ärztliche Befundberichte, das sozialmedizinische Gutachten des MDK, Dr. S., vom 15.03.1995 zur Pflegebedürftigkeit der Klägerin, Berichte (Zeugnisse) über die Leistungen der Klägerin in den Schuljahren 1999/2000 und 2001/2002 der Graf-von-Galen-Schule H., die Praktikumsbeurteilung der Werkstätte für Behinderte Kraichgau für den Zeitraum 10.02.2003 bis 21.02.2003 und das Schulentlassungszeugnis der Steinsbergschule in S. vom 17.07.2003 bei. Mit Anhörungsschreiben vom 30.10.2003 teilte das VA der Klägerin mit, dass ihr das Merkzeichen "H" entzogen werden solle und dass beabsichtigt sei, einen entsprechenden Neufeststellungsbescheid zu erteilen. Zur Begründung wurde ausgeführt, eine wesentliche Änderung sei insofern eingetreten, als die Klägerin altersentsprechend entwickelt sei und sich sicher und frei auch in fremder Umgebung bewege. Hierzu äußerte sich die Mutter der Klägerin mit Schreiben vom 06.11.2003. Sie wies darauf hin, dass die Klägerin außerhalb der Wohnung ohne Orientierung sei. Es stimme nicht, dass sich ihre Tochter frei bewegen könne. Das VA zog daraufhin weitere ärztliche Befundberichte (Universitätsklinikum H. - HNO-Klinik - vom 05.02. 2003, Herz- Kreislauf-Klinik W. vom 10.07. 2003) bei. Mit Bescheid vom 02.03.2004 stellte das VA gem. § 48 SGB X unter Aufhebung der Bescheide vom 21.05.1992 und 09.10.2000 wegen des William-Beuren-Syndroms (Teil-GdB 80), einer künstlichen Herzklappe und Kardioverter-Defibrillator (Teil-GdB 60) sowie Schwerhörigkeit beidseitig mit Ohrgeräuschen (Teil-GdB 20) den GdB mit 100 sowie die Merkzeichen "G" und "B" weiterhin fest. Die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens "H" lägen nicht mehr vor und die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens "RF" seien nicht erfüllt.
Hiergegen legte die Klägerin am 26.03.2004 Widerspruch ein. Sie machte geltend, die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "H" lägen vor. Sie benötige den größten Teil des Tages für die Alltagsbewältigung vieler Dinge ständiger Aufsicht. Sie sei in der Wohnung und auch außerhalb hilflos. Auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" lägen vor. Sie fügte zwei Arztbriefe bei. Das VA zog weitere Unterlagen bei und hörte die Klägerin mit Schreiben vom 16.06.2004 und 18. 08.2004 ergänzend an. Mit Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Baden-Württemberg vom 03.11.2004 wurde der Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Nach den getroffenen Feststellungen liege Hilflosigkeit nicht mehr vor. Nach dem Schulentlassungszeugnis vom 17.07.2003 sei die Klägerin ausreichend selbstständig und könne sich auch in fremder Umgebung sicher und frei bewegen. In ihrem Umgang mit den Dingen des täglichen Lebens sei sie selbstständig. Mithin stehe ihr das Merkzeichen "H" mangels Vorliegens von Hilflosigkeit nicht mehr zu. Die Klägerin gehöre auch nicht zu dem Personenkreis, der die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" erfülle.
Hiergegen erhob die Klägerin am 03.12.2004 beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage, mit dem Ziel, ihr weiterhin das Merkzeichen "H" zu gewähren. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" lägen weiterhin vor. Bei ihr liege die Pflegestufe I vor. Bei einem Williams-Beuren- Syndrom dürfte unstreitig ein höherer Betreuungsaufwand gegeben sein. Dies ergebe sich bereits aus dem Pflegegutachten vom 15.03.1995. Sie könne nicht einmal allein die Schule besuchen, was durchaus ein Indiz für ihre Hilflosigkeit sei. Eine Verbesserung in dem Sinne, dass das Merkzeichen "H" nun zu entziehen sei, sei nicht gegeben, weshalb ihr dieses Merkzeichen weiterhin zu gewähren sei. Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. K. vom 25.05.2005 und einer Kopie der Anlage 3 des Auszugs aus der Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA am 15. und 16.04.1997 entgegen. Das SG hat die Klägerin in der nichtöffentlichen Sitzung am 25.10.2005 persönlich angehört. Hierzu wird auf die Sitzungsniederschrift vom 25.10.2005 verwiesen. Mit Gerichtsbescheid vom 08.02.2006 wies das SG die Klage ab. Auf die Entscheidungsgründe wird verwiesen.
Gegen den am 20.02.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15.03.2006 (durch ihren neuen Prozessbevollmächtigten) Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, im Verhältnis zu dem vormals ergangenen Bescheid, in dem ihr das Merkzeichen "H" zuerkannt worden sei, habe sich eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen nicht ergeben. Von einer Verbesserung ihrer Situation könne nicht die Rede sein. Die bei ihr vorliegenden gesundheitlichen Einschränkungen bedingten einen erhöhten Betreuungsaufwand. Hilflosigkeit liege auch dann vor, wenn ein psychisch oder geistig behinderter Mensch bei den zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens keiner Handreichungen bedürfe, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornehme. Gerade diese Situation sei bei ihr gegeben. Sie sei nicht in der Lage, ihr Leben und ihren Tagesablauf selbst zu organisieren. Sie brauche dazu ständige Hilfe. Es komme zu unkontrolliertem Verlassen des Wohnbereiches. Es komme zu Situationen, wo sie etwa bei kleineren Einkäufen in einem Geschäft in der Nähe ihrer Wohnung nicht wieder zur Wohnung zurückfinde. Sie sei nicht in der Lage, sie gefährdende Situationen zu erkennen und deren Entstehung zu vermeiden.
Sie sei unfähig, ihre eigenen körperlichen und psychischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen. Es bestünden Probleme bei der Bewältigung sozialer Alltagsleistungen. Sie sei nicht fähig, eigenständig ihren Tagesablauf zu planen und danach zu handeln. Es bestehe ein ausgeprägtes labiles und unkontrolliertes emotionelles Verhalten. Sie leide unter Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit in zeitlich überwiegenden Umfang. In Alltagssituationen reagiere sie unerwartet und in Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten. An dieser Situation habe sich auch mit dem Eintritt ihrer Volljährigkeit nichts geändert. Die Klägerin hat sich auf die Einschätzung ihrer behandelnden Ärzte berufen. Die Schulzeugnisse und die Bescheinigungen der Werkstätte für Behinderte stünden dem nicht entgegen. Sie wäre ohne die Hilfe ihrer Mutter überhaupt nicht in der Lage, ihren Alltag zu meistern und ihr Leben so zu führen, wie dies tatsächlich geschehe. Sie könne sicher einzelne Verrichtungen, die in ihrem täglichen Lebensablauf vorgenommen werden müssten, tatsächlich alleine und ohne Hilfe leisten. Ganz entscheidende Verrichtungen würden und müssten jedoch von dritten Personen übernommen werden. Hierzu gehörten das Aufstehen, Ankleiden, die Körperpflege sowie die gesamte Gestaltung des Tagesablaufes. Hierbei sei sie dauernd und ohne Ausnahme auf Hilfe angewiesen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 8. Februar 2006 sowie den Bescheid des Beklagten vom 2. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2004 aufzuheben, soweit ihr die Zuerkennung des Merkzeichens "H" entzogen wurde.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Durch den Eintritt in das Erwachsenenalter sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse der Gestalt eingetreten, dass die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "H" nicht mehr erfüllt seien.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat auf Nachfrage des Senates ergänzend vorgetragen, die Klägerin sei nach wie vor in der Pflegestufe 1 eingruppiert. Ein Antrag auf Höherstufung sei erfolglos geblieben. Im Zusammenhang mit dem Antragsverfahren seien Prüfungen durch den MDK vorgenommen worden.
Der Senat hat die Verwaltungsakte der Klägerin betreffend ihres Antrages auf Höherstufung in die Pflegestufe 2 von der AOK Rhein-Neckar beigezogen. Aus dieser Akte geht hervor, dass der Antrag der Klägerin auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung Höherstufung nach Stufe II vom 19.04.2002 durch Urteil des SG vom 10.11.2003 (S 10 P 1781/03) nach Einholung der Gutachten des MDK vom 14.06.2002 und 22.04. 2003 im Verwaltungsverfahren, Anhörung der behandelnden Ärzte Dr. L. vom 15.10.2002 im Verwaltungsverfahren und vom 06.09.2003 im Klageverfahren und Dr. G. vom 19.09.2003 im Klageverfahren sowie der Vernehmung der Zeugin M. in der öffentlichen Sitzung des SG am 10.11. 2003 abgewiesen wurde. Dr. L., Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, hat ausgeführt, er sehe sich nicht in der Lage, eine vernünftige Zeugenaussage über den Umfang der Pflegebedürftigkeit der Klägerin zu machen. Die Angaben der Klägerin selbst seien wegen des bestehenden Entwicklungsrückstands nicht verwertbar. Dr. G., Facharzt für Innere Medizin/Sozialmedizin, hat den Hilfebedarf ausführlich geschildert und die Auffassung vertreten, die Hilfebedürftigkeit der Klägerin liege in der mentalen Retardierung begründet, die jedoch fast ständiges Anleiten oder Beaufsichtigen notwendig erscheinen lasse.
Wegen Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, die beigezogenen Akten der AOK Rhein-Neckar und zwei Band Akten des Beklagten verwiesen.
SG Mannheim Gerichtsbescheid vom 08.02.2006 - S 10 SB 3694/04
R/R2825
Informationsstand: 07.01.2008