Urteil
Aberkennung des Merkzeichen H (hilflos)

Gericht:

LSG Baden-Württemberg


Aktenzeichen:

L 8 SB 1421/06


Urteil vom:

15.06.2007


Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 8. Februar 2006 sowie der Bescheid des Beklagten vom 2. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2004 aufgehoben, soweit der Klägerin der Nachteilsausgleich H entzogen wurde.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.

Tatbestand:

Die am 26.08.1983 geborene Klägerin wendet sich (noch) gegen die Aberkennung des gesundheitlichen Merkmals (Merkzeichen) "H".

Für die Klägerin ist vom Amtsgericht - Vormundschaftsgericht - S. ihre Mutter E. D. zur Betreuerin bestellt worden. In der gesetzlichen Pflegeversicherung ist die Klägerin in die Pflegestufe 1 eingestuft. Sie besuchte die G.-v.-G.-Schule H. und zuletzt bis 17.07.2003 die S. Schule S., eine Sonderschule für geistig Behinderte, zu der die Klägerin innerhalb des Schuljahres 2002/2003 wechselte. Die Schulentlassung erfolgte nach 12 Schulbesuchsjahren. Ab September 2003 befand sich die Klägerin im Berufsförderungsbereich einer Werkstatt für Behinderte.

Das Versorgungsamt Rottweil stellte mit Bescheid vom 21.05.1992 wegen eines Williams-Beuren-Syndroms den Grad der Behinderung (GdB) mit 100 sowie die Merkzeichen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen "G", "B" und "H" fest. In einem Nachprüfungsverfahren stellte das zwischenzeitlich zuständig gewordene Versorgungsamt H. (VA) mit Bescheid vom 03.12. 1999 wegen des Williams-Beuren-Syndroms nunmehr den GdB mit 80 seit 10.12.1999 fest und lehnte einen Antrag der Klägerin auf Feststellung des Merkzeichens "RF" ab. Die zuerkannten Merkzeichen "G", "B" und "H" blieben weiterhin festgestellt. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, dem mit Bescheid des VA vom 09.10.2000 teilweise dahin abgeholfen wurde, dass der GdB weiterhin 100 seit dem 24.01.1992 beträgt. Die Klägerin erklärte ihren Widerspruch daraufhin für erledigt.

Am 27.05.2002 beantragte die Klägerin die Verlängerung ihres Ausweises sowie erneut die Feststellung des Merkzeichens "RF" und am 07.04.2003 außerdem die Erhöhung des GdB.

Die Klägerin musste am 27.02.2003 reanimiert werden, nachdem sie auf dem Schulweg ein Kammernflimmern erlitten hatte. Daraufhin wurde ihr am 27.03.2003 ein Pacer-Cardioverter-Defibrillator implantiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin bereits mehr als 20 Operationen gehabt (u.a. Schrittmacherimplantation 04/99, Mitralklappenrekonstruktion 10/98, Mitralklappenersatz 02/00). In der Zeit vom 05.06. bis zum 26.06.2003 befand sie sich in der Herz-Kreislauf-Klinik W. in Behandlung. Dort gab sie u.a. eine starke Beeinträchtigung durch Tinnitus an. Außerdem berichtete die Mutter der Klägerin über eine seit der Reanimation im Februar 2003 bestehende Sprachschwierigkeit der Klägerin, die sich in einer falschen Wortwahl, fehlerhafter Grammatik und erschwerter Formulierung geäußert habe.

Das VA zog ärztliche Befundberichte, das sozialmedizinische Gutachten des MDK, Dr. S., vom 15.03.1995 zur Pflegebedürftigkeit der Klägerin, Berichte (Zeugnisse) über die Leistungen der Klägerin in den Schuljahren 1999/2000 und 2001/2002 der Graf-von-Galen-Schule H., die Praktikumsbeurteilung der Werkstätte für Behinderte Kraichgau für den Zeitraum 10.02.2003 bis 21.02.2003 und das Schulentlassungszeugnis der Steinsbergschule in S. vom 17.07.2003 bei. Mit Anhörungsschreiben vom 30.10.2003 teilte das VA der Klägerin mit, dass ihr das Merkzeichen "H" entzogen werden solle und dass beabsichtigt sei, einen entsprechenden Neufeststellungsbescheid zu erteilen. Zur Begründung wurde ausgeführt, eine wesentliche Änderung sei insofern eingetreten, als die Klägerin altersentsprechend entwickelt sei und sich sicher und frei auch in fremder Umgebung bewege. Hierzu äußerte sich die Mutter der Klägerin mit Schreiben vom 06.11.2003. Sie wies darauf hin, dass die Klägerin außerhalb der Wohnung ohne Orientierung sei. Es stimme nicht, dass sich ihre Tochter frei bewegen könne. Das VA zog daraufhin weitere ärztliche Befundberichte (Universitätsklinikum H. - HNO-Klinik - vom 05.02. 2003, Herz- Kreislauf-Klinik W. vom 10.07. 2003) bei. Mit Bescheid vom 02.03.2004 stellte das VA gem. § 48 SGB X unter Aufhebung der Bescheide vom 21.05.1992 und 09.10.2000 wegen des William-Beuren-Syndroms (Teil-GdB 80), einer künstlichen Herzklappe und Kardioverter-Defibrillator (Teil-GdB 60) sowie Schwerhörigkeit beidseitig mit Ohrgeräuschen (Teil-GdB 20) den GdB mit 100 sowie die Merkzeichen "G" und "B" weiterhin fest. Die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens "H" lägen nicht mehr vor und die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens "RF" seien nicht erfüllt.

Hiergegen legte die Klägerin am 26.03.2004 Widerspruch ein. Sie machte geltend, die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "H" lägen vor. Sie benötige den größten Teil des Tages für die Alltagsbewältigung vieler Dinge ständiger Aufsicht. Sie sei in der Wohnung und auch außerhalb hilflos. Auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" lägen vor. Sie fügte zwei Arztbriefe bei. Das VA zog weitere Unterlagen bei und hörte die Klägerin mit Schreiben vom 16.06.2004 und 18. 08.2004 ergänzend an. Mit Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Baden-Württemberg vom 03.11.2004 wurde der Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Nach den getroffenen Feststellungen liege Hilflosigkeit nicht mehr vor. Nach dem Schulentlassungszeugnis vom 17.07.2003 sei die Klägerin ausreichend selbstständig und könne sich auch in fremder Umgebung sicher und frei bewegen. In ihrem Umgang mit den Dingen des täglichen Lebens sei sie selbstständig. Mithin stehe ihr das Merkzeichen "H" mangels Vorliegens von Hilflosigkeit nicht mehr zu. Die Klägerin gehöre auch nicht zu dem Personenkreis, der die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" erfülle.

Hiergegen erhob die Klägerin am 03.12.2004 beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage, mit dem Ziel, ihr weiterhin das Merkzeichen "H" zu gewähren. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" lägen weiterhin vor. Bei ihr liege die Pflegestufe I vor. Bei einem Williams-Beuren- Syndrom dürfte unstreitig ein höherer Betreuungsaufwand gegeben sein. Dies ergebe sich bereits aus dem Pflegegutachten vom 15.03.1995. Sie könne nicht einmal allein die Schule besuchen, was durchaus ein Indiz für ihre Hilflosigkeit sei. Eine Verbesserung in dem Sinne, dass das Merkzeichen "H" nun zu entziehen sei, sei nicht gegeben, weshalb ihr dieses Merkzeichen weiterhin zu gewähren sei. Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. K. vom 25.05.2005 und einer Kopie der Anlage 3 des Auszugs aus der Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA am 15. und 16.04.1997 entgegen. Das SG hat die Klägerin in der nichtöffentlichen Sitzung am 25.10.2005 persönlich angehört. Hierzu wird auf die Sitzungsniederschrift vom 25.10.2005 verwiesen. Mit Gerichtsbescheid vom 08.02.2006 wies das SG die Klage ab. Auf die Entscheidungsgründe wird verwiesen.

Gegen den am 20.02.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15.03.2006 (durch ihren neuen Prozessbevollmächtigten) Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, im Verhältnis zu dem vormals ergangenen Bescheid, in dem ihr das Merkzeichen "H" zuerkannt worden sei, habe sich eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen nicht ergeben. Von einer Verbesserung ihrer Situation könne nicht die Rede sein. Die bei ihr vorliegenden gesundheitlichen Einschränkungen bedingten einen erhöhten Betreuungsaufwand. Hilflosigkeit liege auch dann vor, wenn ein psychisch oder geistig behinderter Mensch bei den zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens keiner Handreichungen bedürfe, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornehme. Gerade diese Situation sei bei ihr gegeben. Sie sei nicht in der Lage, ihr Leben und ihren Tagesablauf selbst zu organisieren. Sie brauche dazu ständige Hilfe. Es komme zu unkontrolliertem Verlassen des Wohnbereiches. Es komme zu Situationen, wo sie etwa bei kleineren Einkäufen in einem Geschäft in der Nähe ihrer Wohnung nicht wieder zur Wohnung zurückfinde. Sie sei nicht in der Lage, sie gefährdende Situationen zu erkennen und deren Entstehung zu vermeiden.

Sie sei unfähig, ihre eigenen körperlichen und psychischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen. Es bestünden Probleme bei der Bewältigung sozialer Alltagsleistungen. Sie sei nicht fähig, eigenständig ihren Tagesablauf zu planen und danach zu handeln. Es bestehe ein ausgeprägtes labiles und unkontrolliertes emotionelles Verhalten. Sie leide unter Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit in zeitlich überwiegenden Umfang. In Alltagssituationen reagiere sie unerwartet und in Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten. An dieser Situation habe sich auch mit dem Eintritt ihrer Volljährigkeit nichts geändert. Die Klägerin hat sich auf die Einschätzung ihrer behandelnden Ärzte berufen. Die Schulzeugnisse und die Bescheinigungen der Werkstätte für Behinderte stünden dem nicht entgegen. Sie wäre ohne die Hilfe ihrer Mutter überhaupt nicht in der Lage, ihren Alltag zu meistern und ihr Leben so zu führen, wie dies tatsächlich geschehe. Sie könne sicher einzelne Verrichtungen, die in ihrem täglichen Lebensablauf vorgenommen werden müssten, tatsächlich alleine und ohne Hilfe leisten. Ganz entscheidende Verrichtungen würden und müssten jedoch von dritten Personen übernommen werden. Hierzu gehörten das Aufstehen, Ankleiden, die Körperpflege sowie die gesamte Gestaltung des Tagesablaufes. Hierbei sei sie dauernd und ohne Ausnahme auf Hilfe angewiesen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 8. Februar 2006 sowie den Bescheid des Beklagten vom 2. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2004 aufzuheben, soweit ihr die Zuerkennung des Merkzeichens "H" entzogen wurde.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Durch den Eintritt in das Erwachsenenalter sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse der Gestalt eingetreten, dass die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "H" nicht mehr erfüllt seien.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat auf Nachfrage des Senates ergänzend vorgetragen, die Klägerin sei nach wie vor in der Pflegestufe 1 eingruppiert. Ein Antrag auf Höherstufung sei erfolglos geblieben. Im Zusammenhang mit dem Antragsverfahren seien Prüfungen durch den MDK vorgenommen worden.

Der Senat hat die Verwaltungsakte der Klägerin betreffend ihres Antrages auf Höherstufung in die Pflegestufe 2 von der AOK Rhein-Neckar beigezogen. Aus dieser Akte geht hervor, dass der Antrag der Klägerin auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung Höherstufung nach Stufe II vom 19.04.2002 durch Urteil des SG vom 10.11.2003 (S 10 P 1781/03) nach Einholung der Gutachten des MDK vom 14.06.2002 und 22.04. 2003 im Verwaltungsverfahren, Anhörung der behandelnden Ärzte Dr. L. vom 15.10.2002 im Verwaltungsverfahren und vom 06.09.2003 im Klageverfahren und Dr. G. vom 19.09.2003 im Klageverfahren sowie der Vernehmung der Zeugin M. in der öffentlichen Sitzung des SG am 10.11. 2003 abgewiesen wurde. Dr. L., Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, hat ausgeführt, er sehe sich nicht in der Lage, eine vernünftige Zeugenaussage über den Umfang der Pflegebedürftigkeit der Klägerin zu machen. Die Angaben der Klägerin selbst seien wegen des bestehenden Entwicklungsrückstands nicht verwertbar. Dr. G., Facharzt für Innere Medizin/Sozialmedizin, hat den Hilfebedarf ausführlich geschildert und die Auffassung vertreten, die Hilfebedürftigkeit der Klägerin liege in der mentalen Retardierung begründet, die jedoch fast ständiges Anleiten oder Beaufsichtigen notwendig erscheinen lasse.

Wegen Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, die beigezogenen Akten der AOK Rhein-Neckar und zwei Band Akten des Beklagten verwiesen.

Rechtsweg:

SG Mannheim Gerichtsbescheid vom 08.02.2006 - S 10 SB 3694/04

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß den §§ 143, 144 SGG zulässig und begründet. Bei der Klägerin liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "H" auch weiterhin vor.

Der Beklagte wird seit 01.01.2005 wirksam durch das Regierungspräsidium Stuttgart (Abteilung 10) vertreten. Nach § 71 Abs. 5 SGG wird in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts das Land durch das Landesversorgungsamt oder durch die Stelle, der dessen Aufgaben übertragen worden sind, vertreten. In Baden Württemberg sind die Aufgaben des Landesversorgungsamts durch Art 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform der Verwaltungsstruktur, zur Justizreform und zur Erweiterung des kommunalen Handlungsspielraums (Verwaltungsstruktur-Reformgesetz -VRG-) vom 01.07.2004 (GBl S. 469) mit Wirkung ab 01.01.2005 (Art 187 VRG) auf das Regierungspräsidium Stuttgart übergegangen.

Zwischen den Beteiligten ist vorliegend nur streitig, ob bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleiches "H" (Hilflosigkeit) weiterhin vorliegen. Die von der Klägerin erhobene Klage richtet sich ausschließlich gegen die Aberkennung des Merkzeichens "H". Soweit ihrem weiteren Antrag auf Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" im streitgegenständlichen Bescheid vom 02.03.2004 nicht entsprochen wurde, hat die Klägerin diese Ablehnung nach ihrem eindeutigen Klageantrag und ihrem hierzu gemachten Klagevorbringen nicht in die Klage beim SG mit einbezogen, so dass dieser Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.11.2004 insoweit teilweise bestandskräftig geworden ist.

Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist nicht formell rechtswidrig, denn die Klägerin ist vor dem Erlass des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides ordnungsgemäß angehört worden (§ 24 Abs. 1 SGB X), er ist aber materiell rechtswidrig. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin nicht erfüllt. Dabei geht der Senat davon aus, dass sich die Begründetheit der gegen die Aufhebung erhobenen Anfechtungsklage nach dem Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens beurteilt, der vorliegend durch den Erlass des Widerspruchsbescheides vom 03.11.2004 gegeben ist (vgl. BSG Urteil vom 10.12.2003 - B 9 SB 4/02 R -).

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass sich im Gesundheitszustand der Klägerin und in den sich daraus ergebenden Beeinträchtigungen seit Dezember 1999 keine wesentliche Änderung ergeben hat. Die Behinderung der Klägerin resultiert vornehmlich aus dem Williams-Beuren- Syndrom. Dabei handelt es sich um eine Erbkrankheit, die idR mit einer geistigen Behinderung unterschiedlichen Schweregrades sowie einer Vielzahl körperlicher Defekte, vor allem Anomalien des Herzens, verbunden ist. Da die Erkrankung genetisch bedingt ist, ist sie nicht ursächlich heilbar. Der Behinderungszustand kann aber durch unterschiedliche Therapiemaßnahmen gebessert werden. Zwar muss in den Fällen, in denen bei Kindern und Jugendlichen Hilflosigkeit festgestellt worden ist (vgl. hierzu AHP Nr. 22 Abs. 4a, Seite 29), bei der Beurteilung der Frage einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse auch beachtet werden, dass die Voraussetzungen für die Annahme von Hilflosigkeit nicht nur infolge einer Besserung der Gesundheitsstörungen, sondern auch dadurch entfallen können, dass der behinderte Mensch infolge des Reifungsprozesses ausreichend gelernt hat, wegen der Behinderung erforderliche Maßnahmen, die vorher von Hilfspersonen geleistet oder überwacht werden mussten, selbständig und eigenverantwortlich durchzuführen (vgl. AHP Nr. 22 Abs. 6, Seite 33). Diese Überlegungen greifen aber nicht, wenn wie im Falle der Klägerin eine ursächlich nicht behandelbare Erkrankung vorliegt, die auch zu einer geistigen Entwicklungsverzögerung führt. In einem solchen Fall ist das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze nach Ansicht des Senats keine wesentliche Änderung. Vielmehr bedarf es des Nachweises, dass sich der Behinderungszustand z.B. aufgrund der eingeleiteten Therapiemaßnahmen wesentlich gebessert hat. Diesen Nachweis sieht der Senat im Falle der Klägerin nicht als geführt an. Der Gesundheitszustand der Klägerin hat sich sogar insofern eher verschlechtert, als es im Februar 2003 zu einem Kammerflimmern ( Herzstillstand) gekommen ist, so dass die Kläger hat reanimiert werden müssen. Deshalb ist bei der Klägerin in der Auskunft des Dr. G. ( Herz-Kreislauf-Klinik W.) vom 19.09. 2003 eine zusätzliche hypoxische (d.h. durch Sauerstoffmangel bedingte) hirnorganische Schädigung diagnostiziert worden.

Darüber hinaus ist der Senat davon überzeugt, dass bei der Klägerin auch im maßgeblichen Zeitpunkt - November 2004 - die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "H" vorgelegen haben. Nach § 69 Absatz 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) vom 19. Juni 2001 hat der Beklagte über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleiches "H" zu entscheiden. Im Schwerbehindertenausweis ist das Merkzeichen "H" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b EStG oder entsprechender Vorschriften ist (§ 3 Absatz 1 Nr. 2 Schwerbehindertenausweisverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991 (BGBl. I S. 1739), zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 2. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2742). Gemäß § 33b Absatz 6 Satz 3 EStG in der ab 20.12.2003 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes vom 15.12.2003 (BGB I S. 2645) ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages dauernd fremder Hilfe bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 3 dieser Vorschrift genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (§ 33b Absatz 6 Satz 4 EStG). Dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit iSd SGB XI angelehnt (BSG aaO). Die in § 33b Abs. 6 EStG normierten Voraussetzungen der Hilflosigkeit entsprechen denen, die auch für die Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) gelten.

Bei den gemäß § 33 Absatz 6 EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren.

Dazu zählen zunächst die auch von der Pflegeversicherung (vgl. § 14 Absatz 4 SGB XI) erfassten Bereiche der Körperpflege ( Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm und Blasenentleerung), Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Diese Bereiche werden unter dem Begriff der sogenannten Grundpflege zusammengefasst ( vergleiche § 4 Absatz 1 Satz 1, § 15 Absatz 3 SGB XI; und § 37 Absatz 1 Satz 2 SGB V). Hinzu kommen nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSGE 72, 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr. 6; vgl. auch Nr. 21 Absatz 3 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2004" - AHP -) Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistige Anregungen und Kommunikation (Sehen, Hören, Sprechen und Fähigkeit zu Interaktionen). Vom Begriff der Hilflosigkeit nicht umfasst ist der Hilfebedarf bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen ( vgl. z.B. zu § 35 BVG: BSG, Urteil vom 2. Juli 1997 SozR 3-3100 § 35 Nr. 6).

Die tatbestandlich vorausgesetzte "Reihe von Verrichtungen" kann regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen (vgl. BSG SozR 3- 3100 § 35 Nr. 6; Urteil vom 02.07.1997 - 9 RVs 9/96 -, VersorgVerw 1997, 94; vgl. auch BT-Drucks 12/5262 S 164). Die Beurteilung der Erheblichkeit orientiert sich an dem Verhältnis der dem Betroffenen nur noch mit fremder Hilfe möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann. In der Regel ist dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen. Mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in der sozialen Pflegeversicherung (vgl. § 15 SGB XI) ist die Erheblichkeit des Hilfebedarfs in erster Linie nach dem täglichen Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen zu beurteilen. Danach ist nicht hilflos, wer nur in relativ geringem Umfange, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist (vgl. BSGE 67, 204, 207 = SozR 3-3870 § 4 Nr. 1; BSG SozR 3- 3870 § 4 Nr. 12; BSG SozR 3-3100 § 35 Nr. 6; Urteil vom 10.09.1997 - 9 RV 8/96 -).

Daraus ergibt sich jedoch nicht schon, dass bei einem Überschreiten dieser Mindestgrenze in jedem Fall Hilflosigkeit zu bejahen ist. Ein täglicher Zeitaufwand ist - für sich genommen - vielmehr erst dann erheblich, wenn dieser mindestens zwei Stunden erreicht. Da die Begriffe der Pflegebedürftigkeit (vgl. §§ 14, 15 SGB XI) und der Hilflosigkeit (vgl. § 35 BVG, § 33b EStG) nicht völlig übereinstimmen ( vgl. dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 12), können die zeitlichen Grenzwerte der sozialen Pflegeversicherung zwar nicht unmittelbar übernommen werden, sie lassen sich jedoch als gewisse Orientierungspunkte nutzen. Zusätzlich sind noch die Bereiche der geistigen Anregung und Kommunikation und - ebenfalls anders als grundsätzlich in der Pflegeversicherung (vgl. BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 8) - Anleitung, Überwachung und Bereitschaft zur Hilfe zu berücksichtigen. Da im Hinblick auf den insoweit erweiterten Maßstab bei der Prüfung von Hilflosigkeit leichter ein größerer Zeitaufwand für fremde Betreuungsleistungen erreicht wird als im Bereich der Grundpflege bei der Pflegeversicherung, ist von einer Zwei-Stunden-Grenze auszugehen, was dem Grundpflegeerfordernis für die Pflegestufe II der Pflegeversicherung entspricht (vgl. § 15 Absatz 3 Nr. 2 SGB XI).

Um den individuellen Verhältnissen eines Behinderten Rechnung tragen zu können, ist es notwendig, bei der Beurteilung von Hilflosigkeit nicht allein auf den zeitlichen Betreuungsaufwand abzustellen. Vielmehr kommt dabei auch weiteren Umständen der Hilfeleistung, insbesondere ihrem wirtschaftlichen Wert, Bedeutung zu. Dieser Wert wird wesentlich durch die Zahl und die zeitliche Verteilung der Verrichtungen mitbestimmt, bei denen fremde Hilfe erforderlich ist. Denn eine Hilfsperson kann regelmäßig nur für zusammenhängende Zeitabschnitte, nicht jedoch für einzelne Handreichungen herangezogen bzw. beschäftigt werden. Dieser Umstand rechtfertigt es, Hilflosigkeit im hier geforderten Sinne bereits bei einem täglichen Zeitaufwand für fremde Hilfe zwischen einer und zwei Stunden dann anzunehmen, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege ( wegen der Zahl der Verrichtungen bzw. ungünstiger zeitlicher Verteilung der Hilfeleistungen) besonders hoch ist (vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urteil vom 12.02.2003 - B 9 SB 1/02 R -).

Ein solcher Sachverhalt ist hier gegeben. Dabei kann offen bleiben, ob die Klägerin zu dem Personenkreis gehört, bei dem nach den AHP Nr. 21 Abs. 6 (Seite 28) im Allgemeinen ohne nähere Prüfung angenommen werden kann, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilflosigkeit erfüllt sind. Dies gilt u.a. für Behinderungen durch Hirnschäden, Anfallsleiden, geistige Behinderung und Psychosen, wenn diese Behinderungen allein einen GdB von 100 bedingen. Nach dem vom Senat von der AOK Rhein-Neckar beigezogenen Pflegegutachten des MDK vom 14. 06. 2002, das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet, bestand bei der Klägerin im Bereich der täglichen Grundpflege ein zu berücksichtigender Zeitaufwand von täglich 99 Minuten (Körperpflege 34 Minuten, Ernährung 6 Minuten und Mobilität 59 Minuten). Nach dem weiteren vom Senat von der AOK Rhein-Neckar beigezogenen Pflegegutachten des MDK vom 22.04.2003 hat sich bei der Klägerin im Bereich der täglichen Grundpflege der zu berücksichtigender Zeitaufwand auf täglich 67 Minuten verringert (Körperpflege 32 Minuten, Ernährung 6 Minuten und Mobilität 29 Minuten, davon 22 Minuten für Arztbesuche). Ein täglicher Zeitaufwand für die Durchführung von Verrichtungen des täglichen Lebens von mindestens zwei Stunden (im Durchschnitt) ist damit bei der Klägerin zwar nicht erreicht.

Doch nach dem Pflegegutachten des MDK vom 22.04.2003 bewirkt eine Störung der höheren Hirnfunktion bei der Klägerin Probleme bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen, weiter ist die Klägerin nicht in der Lage, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren und sie verkennt Alltagssituationen bzw. reagiert in Alltagssituationen inadäquat. Die Klägerin kann deshalb - wie ihre Mutter und Betreuerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben hat - maximal ein bis zwei Stunden zu Hause unbeaufsichtigt gelassen werden. Außerhalb der Wohnung findet sie sich aufgrund von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht alleine zurecht. Zwar kann sie hin und wieder im nahe gelegenen Einkaufszentrum kleinere persönliche Einkäufe tätigen, muss aber jedes Mal vorher von Neuem auf diese für die Klägerin schwierige Aufgabe vorbereitet werden. Eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist ihr alleine nicht möglich und auch ein gelegentlicher Besuch in einer Diskothek ist ihr nur in Begleitung durchzuführen.

Aus medizinischer Sicht wird der Hilfebedarf der Klägerin bestätigt durch die bereits erwähnte Stellungnahme des Dr. G., der ausgeführt hat, dass bei der Klägerin gemessen an Patienten mit schwersten Behinderungen wie Lähmungen oder Inkontinenz zwar ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand nicht vorliegt, aber eine in der mentalen Retardierung begründete Hilfsbedürftigkeit gegeben ist, die ein fast ständiges Anleiten oder Beaufsichtigen notwendig erscheinen lasse. Auch der Medizinisch-Pädagogische Fachdienst des Landratsamtes Rhein-Neckar-Kreis hat nach einem Besuch in der Wohnung der Klägerin am 19.12.2006 im Zusammenhang mit der Bewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe in seinem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Schreiben vom 17.01.2007 das Fazit gezogen, die Klägerin sei derzeit auf eine häusliche bzw. vollstationäre Betreuung angewiesen, ambulant betreute Wohnmaßnahmen seien nicht ausreichend.

Es ist aus der Sicht des Senats offensichtlich und bedarf deshalb keines Beweises, dass der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege bzw. die Unterstützung der Klägerin bei der Bewältigung des Alltags besonders hoch ist.

Dem stehen die vom Beklagten herangezogenen Schulzeugnisse der Klägerin nicht entgegen. Der dort beschriebene Lernerfolg bezieht sich auf Leistungen in einer besonderen, von Verständnis und gezielter Förderung geprägten Umgebung und lässt keine Schlüsse für die Bewältigung von Alltagssituationen zu. Auch die Angaben der Klägerin vor dem SG, die auf den ersten Blick gegen das Vorliegen von Hilflosigkeit zu sprechen scheinen, stehen der der vom Senat vertretenen Ansicht nicht entgegen. Der vom SG in anderem Zusammenhang (höhere Pflegestufe) als sachverständiger Zeuge gehörte Dr. L. hat angegeben, er sehe sich nicht in der Lage, eine vernünftige Zeugenaussage über den Umfang der Pflegebedürftigkeit der Klägerin zu machen und die Angaben der Klägerin selbst seien wegen des bestehenden Entwicklungsrückstands nicht verwertbar. Auf nicht verwertbare Angaben kann die Entziehung des Nachteilsausgleichs nicht gestützt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R2825


Informationsstand: 07.01.2008