Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 14. Mai 2003 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 14. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2002 und des Teilanerkenntnisses vom 18. Februar 2003 verurteilt, für den Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens H ab dem 1. Juli 2003 anzuerkennen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger ein Viertel seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger begehrt vom Beklagten die Zuerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" (Hilflosigkeit) und des Merkzeichens "RF" (Befreiung von der Rundfundgebührenpflicht).
Der im Mai 1955 geborene, geschiedene Kläger, der alleine in einer 3-Zimmer-Wohnung im 1. Stock eines Siedlungshauses lebt, leidet an zahlreichen Erkrankungen, wobei im Mittelpunkt eine schwerwiegende Alkoholabhängigkeit und eine dadurch bedingte körperliche und geistige Schädigung steht. So besteht eine schwere toxische Polyneuropathie mit Teillähmung der Beine verbunden mit einer deutlichen Ataxie mit nahezu skurrilen Bewegungen. Auf internistischem Fachgebiet wurde eine chronische Alkoholkrankheit mit cerebralem Anfallsleiden sowie eine chronische Pankreatitis festgestellt und ein Verdacht auf eine ethyltoxische Leberzirrhose geäußert. Auf augenärztlichem Fachgebiet bestehen bei bestimmten Blickrichtungen nebeneinander stehende Doppelbilder und eine Gesichtsfeldeinschränkung wahrscheinlich aufgrund eines hirnorganischen Psychosyndroms.
Vom Versorgungsamt Oldenburg - Außenstelle Osnabrück - wurden mit Ausführungsbescheid vom 23. Oktober 2000 mit Wirkung ab dem 3. August 2000 ein Grad der Behinderung (
GdB) von insgesamt 80 und die Voraussetzungen des Merkzeichens "G"
festgestellt. Dem lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
1. Alkoholkrankheit, hirnorganische Anfälle, alkohol-toxische Polyneuropathie (Einzel-GdB: 60),
2. Gefügestörung und Verschleiß im Bereich der Wirbelsäule, operierter Bandscheibenvorfall (Einzel-GdB: 30),
3. Magengeschwürsleiden (Einzel-GdB: 20),
4. chronische Bronchitis (Einzel-GdB: 20).
Mit Neufeststellungsantrag vom 16. Februar 2001 hat der Kläger eine Erhöhung seines Gesamt-
GdB und die Zuerkennung der Merkzeichen "B", "aG", "H" und "RF" beantragt. Auf Veranlassung des Beklagten legte daraufhin der Facharzt für Innere Medizin
Dr. I., J., unter dem 8. Mai 2001 einen Befundbericht vor, dem als Anlagen ein sozialmedizinisches Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen in Niedersachsen von
Dr. K. vom 13. September 2000 sowie Arztbriefe der Neurologischen Abteilung des L. , J., Chefarzt
Dr. M./Assistenzärztin N. vom 9. Januar 2001 sowie ein Bericht der Inneren Abteilung des Christlichen Klinikums in O., Chefarzt
Dr. P./Oberärztin
Dr. Q. vom 2. März 2001 beigefügt waren. Nach dem Befundbericht des
Dr. I. bestehe beim Kläger eine inkomplette Parese beider Beine vom Unterschenkelbereich abwärts, so dass er ohne Gehhilfe nicht laufen könne. Bei einem Zustand nach zweimaligen Bandscheibenoperationen bestehe immer noch eine Neigung zu Schmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich und rezidivierenden Lumboischialgien im Sinne eines Postnukleotomie- Syndroms. Außerdem zog der Beklagte einen für die damalige Bundesversicherungsanstalt für Angestellte angefertigten Entlassungsbericht der R.,
S., des Facharztes für Innere Medizin und Psychiaters
Dr. T. und der Assistenzärztin U. vom 16. Mai 2001 bei, der nach einem stationären Aufenthalt des Klägers in der Zeit vom 22. Februar bis zum 2. Mai 2001 in der Klinik angefertigt worden war. Dort heißt es
u. a. hinsichtlich des Klägers: "Stand sicher, Gang breitbeinig, unsicher, ohne fremde Hilfe nicht möglich". Bei der Entlassung konnte der Kläger sich mit einem Rollator fortbewegen.
Daraufhin holte der Beklagte eine versorgungsärztliche Stellungnahme durch
Dr. V. unter dem 7. Mai 2002 ein, der einen Gesamt-
GdB von 90 und die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" vorschlug (1. Alkoholkrankheit, hirnorganische Anfälle, alkoholtoxische Neuropathie, Gleichgewichtsstörungen: Einzel-GdB: 70, 2. Gefügestörung und Verschleiß im Bereich der Wirbelsäule, operierter Bandscheibenvorfall: Einzel-GdB: 30, 3. Magengeschwürsleiden: Einzel-GdB: 20 und 4. Bronchitis: Einzel-
GdB 20). Daraufhin gab der Beklagte mit Bescheid vom 14. Mai 2002 dem Neufeststellungsbegehren des Klägers insoweit statt, dass der Gesamt-
GdB ab dem 20. Februar 2001 auf 90 angehoben und die Merkzeichen "G" und "B" zuerkannt wurden. Die Anerkennung der beantragten Merkzeichen "aG", "H" und "RF" wurden indessen abgelehnt. Dazu wurde in der Begründung des Bescheides ausgeführt, dass es für die Annahme einer dauernden Hilflosigkeit daran fehle, dass der Kläger nicht in erheblichem Umfange für die Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens einer umfangreichen Hilfe bedürfe. Dies komme nur dann in Betracht, wenn der Behinderte im Bereich der Grundpflege täglich mindestens zwei Stunden an Pflegeleistungen benötige. Auch sei er durch die anerkannten Funktionseinschränkungen nicht ständig außerstande, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Denn bei Zuhilfenahme einer Begleitperson und etwa eines Rollstuhls sei er nicht allgemein und umfassend von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen.
Dagegen legte der Kläger am 22. Mai 2002 Widerspruch ein und wies zur Begründung darauf hin, dass er Rollstuhlfahrer sei. Aufgrund seiner schweren Alkoholerkrankung und der ihm ständig drohenden epileptischen Anfälle sei er praktisch an seine Wohnung gebunden; daher müssten ihm die begehrten Merkzeichen zuerkannt werden. Der Beklagte zog daraufhin aus einem Verfahren, in dem es um die dem Kläger zustehende Pflegestufe ging, das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen, Frau
Dr. W., vom 19. September 2001 bei, in welchem der tägliche Pflegebedarf mit deutlich weniger als 90 Minuten angegeben wurde. Außerdem zog der Beklagte ein im vorgenannten Verfahren erstelltes Gutachten des staatlich anerkannten Krankenpflegers A. X. vom 11. August 2002 bei. In diesem Gutachten heißt es
u. a., dass der Kläger zwar gehen, stehen und Treppen steigen könne, dies jedoch nur, wenn er sich abstützen könne oder dabei massiv unterstützt werde, da sein Gangbild schwankend, breitbeinig und ataktisch geprägt sei. Ließe man ihn dabei los, würde er hinstürzen, ein freies Stehen und Gehen sei nicht möglich. Insgesamt wurde in diesem Gutachten der Grundpflegebedarf mit 56 Minuten in Ansatz gebracht. Nach Beteiligung seines versorgungsärztlichen Dienstes, in der
Dr. Y. unter dem 16. September 2002 seine Stellungnahme abgab, wies der Beklagten den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2002 als unbegründet zurück.
Dagegen hat der Kläger am 16. Oktober 2002 Klage zum Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben. Er hat vorgetragen: Innerhalb seiner nur 53 qm großen Wohnung könne er sich nicht mit einem Rollator oder einem Rollstuhl fortbewegen, da dies die Wohnverhältnisse nicht zuließen. Auch benötige er bei den wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, wie
z. B. dem An- und Ausziehen sowie den hauswirtschaftlichen Versorgungen, erhebliche Hilfe, so dass er als hilflos im Sinne der Vorschriften anzusehen sei. Wegen seiner Erkrankungen sei er auch ständig an die Wohnung gebunden, so dass die Rundfunkgebühren-Befreiung gerechtfertigt sei. Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Chefarztes der Neurologischen Abteilung des L. in J.,
Dr. Z., der unter dem 20. Dezember 2002 im Ergebnis die begehrte Zuerkennung der Merkzeichen bejahte. Zwar könne der Kläger noch einen Teil der täglichen Verrichtungen selbst durchführen (wie etwa das Waschen, Rasieren, Zerkleinern und Einnehmen der Speisen oder ähnliches), jedoch bedürfe er bei anderen Dingen (wie
z. B. dem An- und Auskleiden, dem Verrichten der Notdurft und der Bewegung im Freien) dauernd fremder Hilfe. Außerdem müsse eine fremde Hilfsperson in ständiger Bereitschaft stehen, so dass das Merkzeichen "H" angebracht sei. Ebenso sei die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" gerechtfertigt, da es bei einer Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen erhebliche Schwierigkeiten beim Transport mit dem Rollstuhl geben würde, was in diesem Falle wohl nicht zumutbar sei. Nach Beteiligung des versorgungsärztlichen Dienstes gab daraufhin der Beklagte hinsichtlich des ebenfalls streitigen Begehrens auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG" unter dem 18. Februar 2003 ein Teil-Anerkenntnis ab und erstellte am 26. Februar 2003 einen entsprechenden Ausführungsbescheid. In diesem Bescheid wurde zugleich der Gesamt-
GdB auf 100 erhöht und hinsichtlich der anerkannten Funktionsstörungen unter der
Nr. 1 als weitere Beeinträchtigung "Gleichgewichtsstörungen" hinzugefügt. Der Kläger hat das Teil-Anerkenntnis angenommen und sein weiteres Begehren im sozialgerichtlichen Streitverfahren verfolgt.
Mit Urteil vom 14. Mai 2003 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Kläger zwar auf einen Rollstuhl angewiesen sei und unter zahlreichen Erkrankungen leide, indessen aber nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der beiden noch streitigen Merkzeichen erfülle. Denn aus den beiden vorliegenden pflegerischen Gutachten ergebe sich, dass der Zeitaufwand hinsichtlich der Grundpflege unter der Mindestgrenze von einer Stunde liege, was aber nach der Rechtsprechung gefordert werden müsse. Die im Gutachten des Sachverständigen
Dr. Z. angesprochene ständige Hilfebereitschaft durch die Lebensgefährtin des Klägers führe nicht zu einer anderen Beurteilung, weil nicht jederzeit eine konkrete und akute Lebensgefahr aufgrund des Anfallsleidens des Klägers oder einer Gefahr von Stürzen bestehe. Auch könne die Rundfunkgebühren- Befreiung nicht gewährt werden, weil die vom Gutachter
Dr. Z. angeführten allgemeinen Schwierigkeiten bei der Nutzung eines Rollstuhls nicht ausreichten. Tatsächlich könne der Kläger aber mit einem Rollstuhl und in Begleitung durch andere Personen durchaus in zumutbarer Weise an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen.
Gegen dieses ihm am 23. Juni 2003 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. Juli 2003 eingelegte Berufung des Klägers. Er macht geltend: Aufgrund seiner Multimorbidität und zunehmenden Verwahrlosung sei er ständig an einen Aufenthalt in seiner Wohnung gebunden. Er sei daher hilflos im Sinne der Vorschriften. Auch könne er nicht allein mit dem Rollstuhl an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, so dass ihm die Rundfunkgebühren-Befreiung zu gewähren sei.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 14. Mai 2003 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, für ihn die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" und des Merkzeichens "H" ab dem Februar 2001 festzustellen sowie den Bescheid des Beklagten vom 14. Mai 2002 und dessen Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2002 in der Gestalt des Teilanerkenntnisses vom 18. Februar 2003 abzuändern, soweit sie dem entgegenstehen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er wiederholt und vertieft die Begründung der angefochtenen Bescheide und verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Im Berufungsverfahren wurden Befundberichte des
Dr. Z. vom AA. in J. vom 26. September 2003, des behandelnden Internisten
Dr. I., J., vom 11. Oktober 2003 und der Orthopäden AB./
Dr. AC. vom 9. Oktober 2003 eingeholt. Ferner wurde der Sozialmediziner
Dr. AD., AE., mit der Erstellung eines Gutachtens zu den medizinischen Voraussetzungen der streitigen Merkzeichen beauftragt, das dieser unter dem 3. Februar 2004 nach einer Untersuchung des Klägers erstellte. Danach bedürfe der Kläger bei einigen regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens der Fremdhilfe, bei zahlreichen anderen Verrichtungen aber nicht. Eine ständige Bereitschaft zu Hilfeleistungen sei nicht erforderlich. Innerhalb der Wohnung bewege er sich überwiegend auf dem Gesäß rutschend; außerhalb des Hauses sei mit Fremdhilfe die Nutzung eines Rollstuhls möglich. Der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten wurde dazu angehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Die form- und fristgerechte eingelegte, statthafte Berufung (
vgl. §§ 143, 144
Abs. 1, 151
Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -), über die der Senat
gem. §§ 153
Abs. 1, 124
Abs. 2
SGG im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist teilweise begründet. Die angefochtenen Bescheide begegnen insoweit keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, als die Zuerkennung des Merkzeichen "RF" versagt wurde. Indessen hat er aber Anspruch auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" ab Juli 2003. Dazu im Einzelnen:
Gemäß § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch -
SGB IX - in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Juni 2001 ( BGBl. I,
S. 1046, zuletzt geändert durch Gesetz vom 14. August 2006, BGBl. I,
S. 1897, 1909) stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Gesetzes zuständigen Behörden über das Vorliegen der Behinderung und den Grad der Behinderung einen Ausweis entsprechend der Schwerbehindertenausweisverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991 (BGBl. I,
S. 1739, zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Juli 2004, BGBl. I,
S. 1950, 2009) aus. Im Interesse der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen erfolgt die konkrete Festsetzung nach Maßgabe der in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (
AHP, herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, aktuelle Ausgabe: 2005) niedergelegten Maßstäben. Diese sind zwar kein Gesetz und auch nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen. Es handelt sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhenden Ausarbeitung, die die möglichst gleichmäßige Anwendung dieser Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat. Die
AHP engen das Ermessen der Verwaltung und von Ärzten ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich von diesen auszugehen ( Bundessozialgericht -
BSG -, Urteil vom 18. September 2003, BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69
Nr. 2 Rdn. 18). Deshalb stützt sich der erkennende Senat in seiner ständigen Rechtsprechung auf die genannten
AHP.
1. Entgegen der Ansicht des Klägers erfüllt er nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF", wie es in
§ 3 Nr. 5 Schwerbehindertenausweisverordnung angesprochen ist. Danach ist für den schwerbehinderten Menschen dieses Merkzeichen dann einzutragen, wenn er die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfundgebührenpflicht erfüllt. Nach § 6 Ziffer 8 des Gesetzes zum Rundfundgebühren-Staatsvertrag ( RGebStV) vom 31. August 1991 (NdsGVBl.
S. 311, zuletzt geändert durch
Art. 7 des Staatsvertrages vom 31. Juli 2006, NdsGBVl. 2007,
S. 54) werden auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht natürliche Personen befreit, die als behinderte Menschen wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können und deren
GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt.
Dabei hat der Senat keine Bedenken, die betreffenden Vorschriften anzuwenden und als gültige Anspruchsnorm für das Begehren des Klägers anzusehen. Zwar wird vereinzelt die Auffassung vertreten, die landesrechtlichen Regelungen über die Rundfundgebührenbefreiung aus gesundheitlichen Gründen würden nicht der bundesrechtlichen Ermächtigungsnorm (hier
§ 126 Abs. 1 SGB IX) entsprechen, weil ein durch Gebührenbefreiung ausgleichbarer Mehraufwand behinderter Rundfunk- und Fernsehteilnehmer nicht mehr vorhanden sei, da der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung - völlig unabhängig von Behinderungen - nahezu vollständig Rundfunk höre und fernsehe (so
LSG Hamburg, Urteil vom 8. August 2006 - L 4 SB 22/05 - in: Sozialrecht aktuell 2007, 71). Indessen überzeugt diese Ansicht nicht. Selbst wenn man meinen sollte, eine Rundfunkgebührenbefreiung von behinderten Menschen letztlich zu Lasten der übrigen Pflichtigen bei der Bezahlung von Rundfunkgebühren sei rechtlich nicht geboten, weil fast die gesamte Bevölkerung diesen Mehraufwand trage, so könnte sich allenfalls ein nicht begünstigter Rundfunkgebührenzahler darauf berufen, dass behinderte Menschen unter bestimmten Voraussetzungen von der Rundfunkgebührenpflicht befreit seien. Aber auch dies würde nicht weiter führen, da für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund - nämlich die schwerwiegende Behinderung der betreffenden Befreiten - gegeben ist. Von einer rechtswidrigen Gebührenbefreiung kann mithin keine Rede sein.
Zu Recht wird im angefochtenen Urteil auch davon ausgegangen, dass der Kläger das Merkmal des "ständig-nicht-teilnehmen- Könnens an öffentlichen Veranstaltungen" nicht erfüllt. Nach
Nr. 33
Abs. 2 c der
AHP sind davon diejenigen behinderten Menschen betroffen, bei denen schwere Bewegungsstörungen bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder technischen Hilfsmitteln - wie
z. B. einem Rollstuhl - tatsächlich öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können. Mit anderen Worten kommt es also darauf an, ob die behinderten Menschen allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sind. Dazu genügt es also nicht, wenn die Teilnahme an einzelnen, oder auch zahlreichen Veranstaltungen dem Betreffenden nicht möglich ist.
Ausgehend von diesen Grundsätzen wurde zutreffend im angefochtenen Urteil dargelegt, dass es dem Kläger durchaus möglich
ist, mit Hilfe einer Begleitperson und eines Rollstuhls seine Wohnung zu verlassen und dann als Rollstuhlfahrer am Leben in der Gesellschaft und an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Dies wird überzeugend und schlüssig im Gutachten von
Dr. AD. vom 3. Februar 2004 dargelegt. Wenn demgegenüber der Gutachter
Dr. Z. in seinem Gutachten vom 20. Dezember 2002 und im späteren Befundbericht vom 26. September 2003 im Ergebnis eine andere Ansicht vertritt, so überzeugt dies nicht. Denn er knüpft in seiner Betrachtung an die tatsächlichen Wohn- und Verhaltensweisen des Klägers an, ohne auf die körperlichen und/ oder geistigen Fähigkeiten des Klägers einzugehen. Die tatsächlichen Verhaltensweisen sind aber nicht entscheidungserheblich, vielmehr kommt es darauf an, ob es dem Kläger möglich wäre, die Wohnung mit Hilfe einer Begleitperson im Rollstuhl zu verlassen. Eine ungünstige Wohnsituation kann- schon aus Gründen der Gleichbehandlung - keinen Einfluss auf die Anerkennung des Merkzeichens "RF" haben. Nach der Rechtsprechung des
BSG (
vgl. BSG, Urteil vom 3. Juni 1987 -
9a RVs 27/85 - in SozR 3870 § 3
Nr. 25 = BehindR 1988, 143, Urteil vom 9. August 1995 -
9 RVs 3/95 - BehindR 1996, 50), der sich der Senat aus eigener Überzeugung angeschlossen hat (so bereits Urteil vom 08.05.2007 - Az. L 13/2 SB 34/06, V. n. b.), ist das Risiko einer ungünstig geschnittenen Wohnung oder einer ungünstigen Wohnlage von jedermann selbst zu tragen. Solange ein Schwerbehinderter mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er daher von der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen. Dass möglicherweise Transportmöglichkeiten durch Sozialdienste nicht rund um die Uhr, sondern nur auf jeweilige Anforderung und manchmal nicht in den späten Abendstunden zur Verfügung stehen, ist dabei unerheblich. Denn auch nicht behinderte Menschen ohne eigenes Kraftfahrzeug und in einer ungünstigen Wohnlage sind von ähnlichen Schwierigkeiten betroffen.
2. Indessen ist die Entscheidung des Beklagten, dem Kläger des Merkzeichen "H" zu versagen, rechtlich zu beanstanden. Nach § 3
Nr. 2 d. Schwerbehindertenausweisverordnung erhält das Merkzeichen "H" der schwerbehinderte Mensch, der hilflos im Sinne von § 33 b Einkommenssteuergesetz oder entsprechender Vorschriften ist. Zur näheren Bestimmung der Hilflosigkeit kann dabei auf die
AHP - dort Teil A
Nr. 21 - zurückgegriffen werden. Nach
Nr. 21.2 der
AHP ist als hilflos derjenige Mensch anzusehen, der infolge von Gesundheitsstörungen nicht nur vorübergehend für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Fachrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Diese ständige Bereitschaft ist
z. B. anzunehmen, wenn Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist (
vgl. Nr. 21.3 der
AHP).
Dabei muss der Umfang der notwendigen Hilfe erheblich sein; hauswirtschaftliche Versorgungstätigkeiten müssen außer Betracht bleiben (
vgl. Nr. 21.4 der
AHP). Hinsichtlich des Ausmaßes des angesprochenen Hilfebedarfs kann dieses erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen und zudem dieser regelmäßig einen täglichen Zeitaufwand von mindestens zwei Stunden erreicht (
vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2005 -
B 9a SB 1/05 R - in: SozR 4-3250 § 69
Nr. 3; Urteil vom 12. Februar 2003 -
B 9 SB 1/02 R - in: SozR 4-3250 § 69
Nr. 1). Zutreffend hat zwar das SG zur Ausfüllung dieses Begriffs im angefochtenen Urteil darauf hingewiesen, dass die unterste Grenze für die Grundpflege im Umfang von mindestens täglich etwa einer Stunde für die Frage der Hilflosigkeit mit von Bedeutung ist. Dabei hat das SG in überzeugender Weise festgestellt, dass diese zeitlichen Voraussetzungen beim Kläger nicht erfüllt werden, da er in verschiedenster Hinsicht durchaus noch in der Lage ist, die täglichen Verrichtungen bei der Körperpflege, der Ernährung und der Kommunikation selbst durchzuführen. Soweit sich
Dr. Z. in seinem Gutachten vom 20. Dezember 2002, welches vom SG eingeholt wurde, hinsichtlich des Merkzeichens "H" für eine Zuerkennung ausspricht, bleibt die Begründung völlig allgemein und vage und orientiert sich in keiner Weise am erforderlichen zeitlichen Aufwand der notwendigen Grundpflege für den Kläger. Insbesondere überzeugt es nicht, wenn in diesem Gutachten von einer ständigen Bereitschaft durch eine Betreuungsperson die Rede ist. Denn aus dem Gutachten ergibt sich keineswegs eine ständige drohende Sturzgefahr oder sonstwie jederzeit möglicherweise eintretende Lebensgefährdung für den Kläger. Ein nur allgemein praktischer und wünschenswerter Hilfebedarf vermag aber nicht dazu zuführen, das Merkzeichen "H" zuzuerkennen. Denn praktische Hilfeleistungen und persönliche Ansprache können - so wünschenswert sie sind - nicht die Annahme begründen, der Kläger sei ohne sie hilflos.
Allerdings kann nach
Nr. 21
Abs. 6 der
AHP bei einer Reihe schwerer Behinderungen, die aufgrund ihrer Art und besonderen Auswirkungen regelhaft Hilfeleistungen in erheblichen Umfang erfordern, im Allgemeinen ohne nähere Prüfung angenommen werden, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilflosigkeit erfüllt sind, dies gilt
u. a. stets bei Querschnittslähmung und "anderen Behinderungen, die auf Dauer und ständig auch innerhalb des Wohnraums - die Benutzung eines Rollstuhls erfordern". Diese Voraussetzungen sind hier nach Ansicht des Senates erfüllt. Im Befundbericht des
Dr. Z. vom AA. in J. vom 26. September 2003, der an eine Untersuchung des Klägers im Juli 2003 anknüpft, wird von einer nunmehr eingetretenen "Rollstuhlpflichtigkeit" des Klägers gesprochen. Ausweislich der Ausführungen des Sachverständigen
Dr. AD. in seinem Gutachten vom 3. Februar 2004 bewegt sich der Kläger innerhalb seiner Wohnung ganz überwiegend auf dem Gesäß rutschend; außerhalb der Wohnung wird ein Rollstuhl genutzt, der überwiegend von Hilfspersonen geschoben wird. Nach den überzeugenden Feststellungen dieses Sachverständigen ist der Kläger nicht in der Lage, ohne Fremdhilfe oder Fixierung an festen Gegenständen zu stehen. Selbst bei Hilfe und Abstützen durch eine Hilfsperson ist ein Stehen nur kurzfristig möglich. Beim Steh-Geh-Versuch anlässlich der ambulanten Begutachtung wurde der Kläger mit Fremdhilfe und gleichzeitigem Abstützen mit dem rechten Arm in die aufrechte Position gebracht. Er stand dann, einseitig am linken Arm gestützt durch einen Bekannten, in leicht vornübergebeugter Haltung. So konnten nach dem Gutachten nur zwei, drei Schritte mit sehr grobschlägigem Tremor und massiver Ataxie zurückgelegt werden. Dann setzte ein verstärkter Tremor in beiden Beinen ein mit Einsacken in den Kniegelenken. Im Gutachten kommt
Dr. AD. zu dem Ergebnis, dass beim Kläger eine Steh- und Gehunfähigkeit im täglichen Leben bestehe. Dies belegt nach Ansicht des Senates, dass der Kläger - entsprechend dem Regelbeispiel - auf die Benutzung eines Rollstuhles auch innerhalb der Wohnung ständig angewiesen ist.
Dass der Kläger tatsächlich in der Wohnung keinen Rollstuhl oder ein ähnliches Hilfsmittel benutzt, spricht nicht gegen die hier vom Senat vorgenommene Annahme der "Erforderlichkeit" der Nutzung eines Rollstuhles. Denn bei diesem Merkmal in den
AHP kommt es rechtslogisch nicht darauf an, ob tatsächlich ein Rollstuhl genutzt wird. Auch ist es entgegen der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20. April 2007 nicht von ausschlaggebender Bedeutung, dass das Gehvermögen des Klägers nicht wie bei einem Querschnittsgelähmten vollständig aufgehoben ist. Zwar gibt es nach dem Gutachten des
Dr. AD. eine unauffällige Spontanmotorik beim Überschlagen der Beine und es können die Beine in gestreckter Haltung im Sitzen angehoben werden. Dies betrifft aber jeweils nur die sitzende Haltung, widerlegt aber zur Überzeugung des Senats nicht, dass der Kläger nicht mehr stehen und gehen kann und damit nicht mehr in der Lage ist, sich mit Gehhilfen oder Ähnlichen innerhalb der Wohnung von einem Ort zum anderen Ort zu bewegen.
Da bereits der Vorgutachter
Dr. Z. im Befundbericht vom 26. September 2003 dem Kläger inzwischen "Rollstuhlpflichtigkeit" attestiert hat und dieser Bericht sich auf eine Untersuchung vom 1. Juli 2003 bezieht, ist der Senat der Überzeugung, dass ab diesem Zeitpunkt die Zuerkennung des Merkzeichens "H" wegen Erfüllung des Regelbeispiels zu erfolgen hat. Für eine frühere Zuerkennung fehlt es aber an hinreichend überzeugenden Erkenntnissen. So konnte der Kläger
z. B. bei der ambulanten Begutachtung durch
Dr. Z. im Dezember 2002 nach eigenen Angaben sich noch mit einem Gehstock fortbewegen; auch war nach Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme im Mai 2001 noch ein Gehen mit dem Rollator und im September 2001 ein Treppensteigen möglich. Daher kann nach Überzeugung des Senates die Zuerkennung des Merkzeichens "H" erst ab dem 1. Juli 2003 erfolgen. Denn erst zu diesem Zeitpunkt wurde erstmals die Rollstuhlpflichtigkeit des Klägers festgestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG. Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass die Berufung des Klägers hinsichtlich des Merkzeichens "RF" keinen und hinsichtlich des Merkzeichens "H" nur ab einem deutlich späteren Zeitpunkt Erfolg hatte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Gründe, die Berufung zuzulassen, liegen nicht vor (
vgl. § 160
Abs. 2 Nrn. 1 und 2
SGG).