Urteil
Entziehung des Merkzeichens H (Hilflosigkeit)

Gericht:

LSG Bayern


Aktenzeichen:

L 15 SB 124/07


Urteil vom:

23.02.2010


Leitsatz:

Der nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X beachtliche Vergleichsbescheid ist derjenige, in dem über die Voraussetzungen, hinsichtlich derer eine wesentliche Änderung eingetreten sein soll, letztmals entschieden wurde.

Rechtsweg:

SG Bayreuth Urteil vom 16.08.2007 - S 8 SB 356/05

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Tenor:

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 16. August 2007 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Entziehung des Merkzeichens H (Hilflosigkeit).

Der 1983 geborene Kläger leidet an einer angeborenen Fehlbildung der Wirbelsäule und des Rückenmarks (Meningomyelocele, Spina bifida) mit Teillähmung beider Beine und an einer Störung des Gehirnwasserkreislaufs (Hydrocephalus); ursprünglich lagen auch Klumpfüße und eine Hüftgelenksluxation vor. Er besuchte die Förderschule und beendete im Oktober 2002 eine Ausbildung zum Industriefachhelfer in R ... Die von Oktober 2004 bis November 2005 ausgeübte Beschäftigung als CNC-Fräser verlor er wegen Insolvenz der Firma. Seither ist er arbeitslos.

Auf Antrag der Eltern stellte der Beklagte mit Bescheid vom 24.11.1983 für die Behinderung "Statomotorischer und allgemeiner Entwicklungsrückstand bei Meningomyelocele und ventildrainiertem Hydrocephalus internus" eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE, jetzt Grad der Behinderung - GdB) von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und H fest.

Nach Beantragung des Merkzeichens RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) holte der Beklagte einen Befundbericht des Hausarztes Dr. P. ein, der am 01.06. 1987 mitteilte, dass der Kläger nach wie vor, auch nach der im Oktober 1986 durchgeführten Hüftgelenkoperation rechts, im Wesentlichen nicht gehfähig sei und der dauernden intensiven häuslichen Pflege bedürfe; die Benachteiligung gegenüber altersentsprechend normal entwickelten Kindern hätte sich eher noch verstärkt. Nach versorgungsärztlicher Begutachtung durch Dr. J., Arzt für Neurochirurgie, am 01.10.1987 erteilte der Beklagte den Änderungs-Bescheid vom 29.10.1987, mit dem folgende Behinderungen festgestellt wurden:
1. Statomotorischer und allgemeiner Entwicklungsrückstand bei Meningomyelocele und ventildrainiertem Hydrocephalus internus;
2. Klumpfuß rechts, operierte Hüftluxation rechts.

Der GdB betrage wie bisher 100, erfüllt seien die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G, H, nicht aber für die übrigen Merkzeichen, auch nicht für RF. Die dem Bescheid vom 24.11.1983 zugrunde liegenden Verhältnisse hätten sich durch Hinzukommen weiterer Behinderungen wesentlich geändert.

Nach Beantragung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) forderte der Beklagte einen aktuellen Befundbericht des Dr. P. an und stellte mit Bescheid vom 28.12.1989 fest, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG erfüllt seien. Im übrigen bleibe es bei der bisher gültigen Entscheidung.

Die vom Beklagten in den Jahren 1993, 1996, 1999 und 2001/2002 durchgeführten Nachprüfungsverfahren endeten jeweils mit der Nachricht, dass eine wesentliche Änderung nicht eingetreten sei. So wurde dem Kläger (auch) mit Schreiben vom 18.03.2002 mitgeteilt, "dass in den gesundheitlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheids vom 28.12.1989 vorgelegen haben, keine wesentliche Änderung eingetreten" sei. Zuvor hatte der Beklagte ein Gutachten des Berufsbildungswerks R. vom 17.12.1999 beigezogen, das anlässlich einer Berufsfindungsmaßnahme in der Zeit von 30.08.1999 bis 16.11.1999 erstellt worden war und in dem festgehalten ist, dass Hilfestellungen im Internatsalltag nicht nötig gewesen seien. Der Kläger könne mit Orthesen und Unterarmstützkrücken kurze Pendelwege zurücklegen und müsse für längere Entfernungen einen Rollstuhl benutzen.

Nach Einleitung einer weiteren Nachprüfung von Amts wegen im November 2003 zog der Beklagte die Akten eines Pflegeversicherungs-Rechtsstreits am Sozialgericht Bayreuth (S 1 P 119/00) bei. Der Sachverständige Dr. G., Internist und Sozialmediziner, hatte nach einem Hausbesuch im Pflegegutachten vom 19.10.2001 (samt ergänzender Stellungnahme vom 30.09.2003) einen Hilfebedarf für die Grundpflege von 36 Minuten (Körperpflege 34 Minuten, Mobilität 2 Minuten) und für die hauswirtschaftliche Versorgung von 47 Minuten, insgesamt also 83 Minuten, bestätigt und festgestellt, dass eine Pflegebedürftigkeit im Sinn der Pflegeversicherung seit September 1999 nicht mehr vorliege. In den Verhältnissen, die für die Einordnung in die Pflegestufe III maßgeblich gewesen wären, sei eine wesentliche Änderung in Form einer günstigen körperlichen Entwicklung des Klägers und damit einhergehend eine Abnahme der Pflegebedürftigkeit eingetreten. Andererseits sei die damalige Einstufung in Pflegestufe III eindeutig unzutreffend gewesen. Der auf Antrag des Klägers gehörte Kinder- und Jugendarzt Dr. O. hatte nach einer ambulanten Untersuchung im Kinderzentrum im Gutachten vom 22.04.2003 Pflegestufe I seit September 1999 angenommen und dabei, ausgehend von den Schilderungen des Klägers und seiner Mutter, einen Hilfebedarf für die Grundpflege von 81 Minuten (43 Minuten Körperpflege, 38 Minuten Mobilität) und für die hauswirtschaftliche Versorgung von 66 Minuten, insgesamt also 147 Minuten, zugrunde gelegt.

Mit Anhörungsschreiben vom 17.02.2004 wurde dem Kläger mitgeteilt, dass durch Besserung der Gesundheitsstörungen der GdB nur noch 80 betrage und Merkzeichen aG und H ihm nicht mehr zustünden. Angekündigt wurden ein entsprechender Aufhebungsbescheid und eine den neuen Verhältnissen entsprechende Feststellung. Unter Berücksichtigung der Einwendungen im Anhörungsverfahren erfolgte der Änderungs-Bescheid vom 22.03.2004 nach § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Ausgegangen wurde nunmehr von der Gesundheitsstörung "Hydrozephalus (mit Ventil versorgt), Rückenmarksschaden". Der GdB betrage wie bisher 100, erfüllt seien weiterhin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und aG. Ab Bekanntgabe dieses Änderungs-Bescheids bestünde aber kein Anspruch mehr auf Merkzeichen H. Die gesundheitlichen Voraussetzungen, die dem Bescheid vom 28.12.1989 zugrunde lagen, hätten sich insofern wesentlich geändert, als die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H nicht mehr gegeben seien. Wie den ärztlichen Unterlagen zu entnehmen sei, habe sich der Kläger an seine Querschnittslähmung gut angepasst. Er sei im Alltag weitgehend selbstständig, benötige im pflegerelevanten Bereich geringe Unterstützung seiner Mutter und sei im Wohnbereich nicht auf den Rollstuhl angewiesen.

Im Widerspruchsverfahren wurde vorgebracht, dass der Kläger an einer angeborenen inkompletten Querschnittslähmung leide und bei einer Querschnittslähmung im allgemeinen ohne nähere Prüfung das Vorliegen von Hilflosigkeit angenommen werden könne. Außerdem sei eine dauernde Pflegebereitschaft seiner Mutter erforderlich. Er sei in allen Bereichen des täglichen Lebens auf Fremdhilfe angewiesen, insbesondere beim An- und Auskleiden, Körperpflege, Verrichten der Notdurft. Mit Widerspruchsbescheid vom 13.07.2005 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zum Zeitpunkt der Feststellung bzw. Bestätigung des Merkzeichens H hätten die Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen entsprechend dem Kapitel 22 der Anhaltspunkte gegolten. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres sei diese Voraussetzung entfallen. Merkzeichen H könne nicht über den Sachverhalt einer ständigen Rollstuhlgebundenheit begründet werden. Der Kläger sei in seiner Fortbewegung nicht ständig rollstuhlgebunden. Anders als beim komplett auf höherem lumbalem Niveau gelähmten Querschnittspatienten habe er das Gehen mit Hilfsmitteln erlernen können. Es sei vielmehr vom tatsächlichen Bedarf an Fremdhilfe im täglichen Leben auszugehen. Unter Berücksichtigung der Kriterien des Erwachsenenalters bestünde keine Hilflosigkeit im Sinn des Gesetzes.

Zur Begründung der mit beim Sozialgericht Bayreuth am 01.08.2005 eingegangenen Klage wurde vorgetragen, dass der Kläger an einer angeborenen, kompletten Querschnittslähmung leide und aus diesem Grund an den Rollstuhl gebunden sei. Ferner liege eine durch die Querschnittslähmung bedingte Blasen- und Mastdarminkontinenz vor. Er benötige Fremdhilfe sowohl beim An- und Auskleiden, bei der Körperpflege, beim Verrichten der Notdurft und bei jeglichen außerhäusigen Aktivitäten wie z.B. Besorgungsgänge, Spaziergänge oder Reisen. Bei einem Krankheitsbild wie bei dem des Klägers sei im Allgemeinen ohne nähere Prüfung anzunehmen, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilflosigkeit erfüllt sind. Dies sei bei Querschnittsgelähmten stets anzunehmen. Die inkomplette Querschnittslähmung sei der kompletten Querschnittslähmung gleichzusetzen. Außerdem lägen die Voraussetzungen für die Rücknahme eines Verwaltungsakts nicht vor.

Der Sachverständige Dr. H., Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Sozialmedizin, Umweltmedizin, besuchte den Kläger zu Hause und berichtete im Gutachten vom 13.12.2006, dass der Kläger sich selbstständig vom Stuhl erhebe und mit zwei Unterarmgehstützen vom Esszimmer ins Wohnzimmer gehe. Er trage eine Oberschenkelorthese rechts und eine Unterschenkelorthese links. Er ziehe sich zur Untersuchung weitgehend selbst aus. Beim Ablegen der Orthesen sei ihm die Mutter behilflich. Es handele sich, so der Sachverständige, um eine operierte Meningomyelocele mit inkompletter Lähmung der Beine und einem ventilversorgtem Hydrocephalus, derzeit gut kompensiert, Blasen- und Mastdarmentleerungsstörungen sowie sekundären Hüft-, Knie- und Sprunggelenkskontrakturen (mehrfach operiert). Die Hüftbeuger und die Kniestrecker seien noch teilweise erhalten, links stärker als rechts, während Kniebeuger und Hüftstrecker und die gesamte Unterschenkel- und Fußmuskulatur gelähmt seien. Trotz dieser Lähmungserscheinungen sei eine Fortbewegung in der Wohnung möglich. Ein Rollstuhl werde in der Regel nur außerhalb des Hauses eingesetzt. Die vom Kläger bzw. der Mutter angegebenen Hilfen beim An- und Auskleiden, bei der Körperpflege und bei der Darm- und Blasenentleerung seien auf Grund des medizinischen Befundes nicht nachvollziehbar. Die beim Kläger vorliegende Querschnittslähmung bedinge keine permanente Benutzung eines Rollstuhls, insbesondere nicht innerhalb des Wohnraums. Der Kläger benötige zwar regelmäßig Hilfe in Form von Unterstützung bei der Körperpflege, beim Anziehen und teilweise Übernahme der Verrichtungen bei der Darm- und Blasenentleerung. Insgesamt sei diese Hilfe aber nicht so erheblich, dass damit die medizinischen Voraussetzungen für Merkzeichen H erfüllt wären. Hilflosigkeit im Sinn der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit könne ab September 1999 nicht mehr angenommen werden. Bei Zusammenschau der vorliegenden Befunde werde deutlich, dass sich eine wesentliche Besserung gegenüber den früheren Verhältnissen bereits bis zum Jahre 1999 eingestellt habe. Danach sei keine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers mehr eingetreten. Mit ergänzender Stellungnahme vom 10.04.2007 blieb der Sachverständige dabei, dass die weitere Zuerkennung des Merkzeichens H nicht gerechtfertigt sei. Neben den genannten Hilfen sei Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung erforderlich (Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Waschen der Kleidung). Den Hilfebedarf einschließlich der hauswirtschaftlichen Versorgung veranschlagte er auf eineinhalb Stunden täglich und stellte klar, dass der Hilfebedarf des Klägers nicht als wirtschaftlich erheblich anzusehen sei.

Das Sozialgericht Bayreuth wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 16.08.2007 ab. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H lägen nicht mehr vor. Eine Querschnittslähmung im Sinn der Anhaltspunkte, die ohne nähere Prüfung die Zuerkennung des Merkzeichens H rechtfertigen würde, läge nicht vor, da der Kläger innerhalb des Wohnraums nicht auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen sei. Der konkrete Hilfebedarf des Klägers sei nicht so erheblich, dass damit die medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen H gegeben wären. Der Beklagte habe das Merkzeichen H mit Wirkung für die Zukunft gemäß § 48 SGB X aberkennen können. Es sei eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, die für die Zuerkennung des Merkzeichens H im Jahr 1983 bzw. 1989 maßgeblich gewesen seien. Im Rahmen des § 48 SGB X sei ein Vergleich der Lebenssituation des Klägers zwischen den Jahren 1989 und 2004 vorzunehmen. Die Feststellungen des Beklagten, dass nach Nachprüfung von Amts wegen weiterhin der bisherige GdB sowie die Nachteilsausgleiche zuerkannt blieben, hätten keine eigenständige Regelungsqualität. Der Gerichtsbescheid wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 23.08.2007 zugestellt.

Die Berufung ist beim Bayerischen Landessozialgericht am 30.08.2007 eingelegt worden. Zur Begründung wird vorgebracht, dass der Kläger an einer angeborenen Querschnittslähmung leide, bei der nach den Anhaltspunkten per se von dem Vorliegen der Voraussetzungen der Hilflosigkeit auszugehen sei. Die inkomplette Querschnittslähmung sei der kompletten Querschnittslähmung gleichzusetzen. Der Kläger könne zwar kleine Teilstrecken auch ohne Rollstuhl zurücklegen. Dies gelte jedoch ausschließlich für kurze Strecken. Die Benutzung des Rollstuhls sei daher permanent erforderlich. Der Kläger benutze zwar im Haushalt überwiegend Orthesen und Unterarmgehstützen. Dies liege aber an den zu engen Wohnverhältnissen, die eine Rollstuhlnutzung nicht zuließen. Außerdem sei das Merkzeichen H auch anhand der individuellen Prüfung zu bejahen. Bei dieser schweren Behinderung seien regelmäßige Hilfeleistungen in erheblichem Umfang erforderlich. Der Gesamthilfebedarf betrage 147 Minuten täglich. Auch die Voraussetzungen für die Rücknahme des Verwaltungsakts gemäß § 48 SGB X lägen nicht vor. Es sei keine wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse gegeben. Es sei beim Kläger keine Besserung der Selbstständigkeit eingetreten. Bei der Nachprüfung vom 18.03.2002 sei noch festgestellt worden, dass in den gesundheitlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheids vom 28.12.1989 vorgelegen haben, keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Merkzeichen H sei bestätigt worden. Der Bescheid vom 18.03.2002 stelle einen Verwaltungsakt im Sinn des § 31 SGB X dar. Es sei beschieden worden, dass keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Somit komme dem Bescheid ein Rechtsbindungswille zu. Da der Gutachter Dr. H. ausgeführt habe, dass eine Veränderung gegenüber 2002 nicht eingetreten sei, komme eine Streichung des Merkzeichens H nicht in Betracht. H Hinzu komme, dass sich der Zustand des Klägers fortlaufend verschlechtere. In den letzten Jahren sei es keinesfalls zu einer Verbesserung, allenfalls zu einer leichten Verschlechterung der Mobilität des Klägers gekommen. Dazu wird eine ärztliche Bescheinigung der Frau Dr. S. (Spina bifida Ambulanz) vom 24.03.2009 vorgelegt, in der ausgeführt ist:

"Die Gehstrecke mit Orthesen ist in den letzten Jahren deutlich kürzer geworden (früher ca. 500 Meter, jetzt nur noch ca. 100 Meter, wegen zunehmender Rückenschmerzen). Ohne Orthesen (im häuslichen Bereich) ist freies Stehen nicht möglich, das Gehen ist unsicher. Daher benötigt (er) regelmäßig Hilfe und Unterstützung z.B. beim Duschen. Wegen einer Sensibilitätsstörung (Schmerzunempfindlichkeit) im Rahmen der Grunderkrankung besteht ein hohes Risiko für Druckgeschwüre im Bereich des Gesäßes und der Füße. Da diese Stellen nicht selbst eingesehen werden können, ist regelmäßig Fremdhilfe zur Kontrolle auf Druckstellen erforderlich. Gehen außerhalb des Hauses ist nur mit Unterarm-Gehstützen möglich. Deshalb benötigt (er) auch regelmäßig Hilfe, den für längere Strecken benötigten Rollstuhl für den Transport im Auto ein- oder auszuladen."

Zur mündlichen Verhandlung ist für den Kläger niemand erschienen.


Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid vom 16.08.2007 und den Bescheid des Beklagten vom 22.03.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 13.07.2005 aufzuheben.


Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Bei der Mitteilung vom 18.03.2002 handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt im Sinn von § 31 SGB X. Es sei mitgeteilt worden, dass gerade kein Anlass für eine Neuregelung bestanden habe. Dies stelle eine schlichte Verwaltungsäußerung dar. Es handele sich um eine Mitteilung bzw. Benachrichtigung ohne eigene Regelung. Sie ersetze infolgedessen gerade nicht den früheren Bescheid und sei damit nicht die maßgebliche Vergleichsgrundlage für Änderungsfeststellungen nach § 48 SGB X. Damit sei die maßgebliche Vergleichsgrundlage für die Prüfung der Frage, ob eine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse eingetreten sei, die Befunde, die dem Bescheid vom 28.12.1989 zugrunde lagen.

Der Sachverständige Dr. C., Internist und Arbeitsmediziner, besuchte den Kläger anlässlich der Begutachtung am 10.06.2009 zu Hause. Im Gutachten vom 14.06.2009 schildert er, inwieweit ein behinderungsbedingter Hilfebedarf bei Teilverrichtungen der Körperpflege und der Mobilität besteht, und kommt zu dem Ergebnis, dass der Hilfebedarf gemessen der Zahl der Verrichtungen und der Häufigkeit nicht als erheblich zu bezeichnen sei. Das An- und Auskleiden sei ohne Hilfe möglich, einschließlich der Orthesen, der Socken und der Schuhe. Für die Nahrungsaufnahme sei keine Hilfe nötig. Im Bereich der Körperpflege sei eine gewisse Hilfe nötig beim Einsteigen und Verlassen der Badewanne und beim Abtrocknen des Unterkörpers und der Beine. Die Reinigung am Waschbecken könne der Kläger mit Stehhilfe allein bewältigen. Wegen der Gefahr von Druckstellen verursacht durch die beim Gehen verwendeten Stützapparate sei eine tägliche Inspektion der Beine nötig. Eine Hilfe beim Verrichten der Notdurft sei seines Erachtens nicht erforderlich, auch nicht bei der Reinigung. Der Kläger könne sich mit angelegten Stützapparaten und zwei Unterarmstützkrücken in der Wohnung fortbewegen. Ohne Hilfe könne er sich aus dem Sitzen bzw. aus dem Liegen hinstellen bzw. erheben. Nach seinen Angaben betrage die Gehstrecke etwa 100 m. Beim Verstauen des Rollstuhls wie auch beim Verstauen der stets mitgeführten Unterarmgehstützen benötige er Hilfe. Für außerhäusige Aktivitäten stehe dem Kläger ein Pkw zur Verfügung. Soweit in der Vergangenheit ein darüber hinausgehender Hilfebedarf beschrieben worden sei, bestehe dieser jetzt nicht mehr, möglicherweise durch einen Zugewinn an Selbstständigkeit. Der Sachverständige weist darauf hin, dass bereits 1999 bei der Internatsunterbringung Hilfestellungen nicht mehr nötig gewesen seien. Zur Frage der Rollstuhlbindung führt er aus, dass der Kläger querschnittsgelähmt sei insofern die sensiblen, motorischen und vegetativen Leitungsbahnen in Höhe des fünften Lendensegments unterbrochen sind. Gleichwohl sei er nicht ständig auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Die Tatsache, dass die Wohnung nicht rollstuhlgerecht ist und allein aus diesem Grund ein Rollstuhl in der Wohnung nicht verwendet wird, hält der Sachverständige für sekundär. Selbst wenn die Wohnung rollstuhlgeeignet wäre und der Kläger in der Wohnung tatsächlich den Rollstuhl benutzen würde, könnte angesichts seines körperlichen Zustands aus ärztlicher Sicht nicht bestätigt werden, dass die Benutzung eines Rollstuhls auf Dauer und ständig erforderlich ist.

Der Senat hat außer den Akten des Sozialgerichts Bayreuth und des Beklagten die Akten des Pflegeversicherungs-Rechtsstreits beigezogen. Nach klageabweisendem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 03.05.2004 (S 1 P 119/00) ist vor dem Bayerischen Landessozialgericht in der mündlichen Verhandlung am 30.11.2004 aufgrund des Hinweises des Senats auf § 45 SGB X ein Vergleich über Leistungen nach Pflegestufe I abgeschlossen worden (L 7 P 26/04).

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Berufungsakte und der beigezogenen Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann in Abwesenheit des Klägers und seines Prozessbevollmächtigten verhandeln und entscheiden, da sein Prozessbevollmächtigter mit Schreiben vom 03.02.2010 über den Termin zur mündlichen Verhandlung informiert wurde mit Hinweis darauf, dass auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne (§ 110 Abs. 1 Satz 2, § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Sozialgericht Bayreuth hat die Klage gegen den Bescheid vom 22.03.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.07.2005 zutreffend mit Gerichtsbescheid vom 16.08.2009 abgewiesen. Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Zu Recht hat der Beklagte mit dem auf § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützten Bescheid die frühere Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen H mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben und festgestellt, dass ein Anspruch auf das Merkzeichen H nicht mehr besteht. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB X erforderliche Anhörung ist erfolgt.

Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Sinn des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist nicht der im streitgegenständlichen Bescheid zitierte Bescheid vom 28.12.1989, der lediglich eine Regelung zu Merkzeichen aG trifft, sondern der Bescheid vom 29.10.1987, mit dem neben anderen Regelungen auch die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen H festgestellt worden sind. Der nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X beachtliche Vergleichsbescheid ist derjenige, in dem über die Voraussetzungen, hinsichtlich derer eine wesentliche Änderung eingetreten sein soll, letztmals entschieden wurde (vgl. Kasseler Kommentar, Stand Juli 2009, § 48 SGB X, Rn. 16), hier also der (Änderungs-) Bescheid vom 29.10.1987. Nach Beiziehung der hausärztlichen Befunde ("Er ist nach wie vor im Wesentlichen nicht gehfähig ... und bedarf der dauernden intensiven häuslichen Pflege ... eher hat sich die Benachteiligung gegenüber altersentsprechend normal entwickelten Kindern noch verstärkt.") und versorgungsärztlicher Begutachtung am 01.10.1987 wurden mit diesem Bescheid die Behinderungen neu formuliert und erneut festgestellt, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und H erfüllt sind. Unschädlich ist, dass der Beklagte den Vergleichsbescheid nicht korrekt bezeichnet hat (vgl. Kasseler Kommentar, a.a.O. Rn. 21). Es ist ausreichend, dass der Wille des Beklagten, den früher ergangenen Verwaltungsakt über die Anerkennung des Merkzeichens H aufheben zu wollen, ohne weiteres erkennbar wurde.

Die Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheids vom 22.03.2004 scheitert nicht daran, dass ein ausdrücklicher Verfügungssatz über die Aufhebung fehlt. Denn der Einleitungssatz " ... erlassen wir nach § 48 SGB X folgenden Änderungs-Bescheid ...", die nachfolgende Regelung "Ab Bekanntgabe dieses Änderungs-Bescheids haben Sie keinen Anspruch mehr auf das Merkzeichen H" und die verständlichen Erläuterungen zu § 48 SGB X in der Begründung lassen keinen Zweifel daran, dass mit diesem Bescheid der frühere Verwaltungsakt aufgehoben wird. Schon bei flüchtiger Lektüre lässt sich unschwer erkennen, dass es gerade darum geht, die frühere Zuerkennung des Merkzeichens H zu beseitigen.

Zu vergleichen sind also die Verhältnisse, die dem Verwaltungsakt von 1987 zugrunde lagen, mit den Verhältnissen bei Erteilung des Aufhebungsbescheids im Jahr 2004. Fehl geht die Auffassung des Klägers, dass das Schreiben des Beklagten vom 18.03.2002 der maßgebliche Vergleichsbescheid sei, so dass die Verhältnisse in den Jahren 2002 einerseits und 2004 andererseits zu vergleichen wären. Im konkreten Fall würde dies zur Unanwendbarkeit des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X führen. Mit zutreffender Argumentation wendet sich der Beklagte gegen diese Auffassung.

Das Schreiben vom 18.03.2002 ist nicht der nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X beachtliche Vergleichsbescheid, weil sein Inhalt nicht als Verwaltungsakt qualifiziert werden kann. Es fehlt an der für einen Verwaltungsakt unverzichtbaren Voraussetzung der Regelung. Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist (§ 31 Satz 1 SGB X). Einen Verfügungssatz bzw. eine Regelung enthält das Schreiben vom 18.03.2002 nicht, weder ausdrücklich noch konkludent. Vielmehr wurde das Nachprüfungsverfahrens mit der Information an den Kläger abgeschlossen, dass in den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem Erlass des Bescheids vom 28.12.1989 zugrunde lagen, eine wesentliche Änderung nicht eingetreten ist. Der Beklagte machte damit deutlich, dass die Nachprüfung keinen Anlass für eine neue Regelung und für eine Abänderung früherer Feststellungen ergeben habe (zur Abgrenzung vgl. BSG vom 07.07.2005, B 3 P 8/04 R, Rn. 18, zitiert nach iuris). Der Kläger kann das nicht anders verstanden haben, zumal dem Schreiben eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht beigefügt war.

Die wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen des Jahres 2004 im Vergleich zu den Verhältnissen im Jahr 1987 besteht darin, dass der 1983 geborene Kläger erwachsen geworden war und deswegen nicht mehr die nach den Anhaltspunkten beachtlichen Besonderheiten zur Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen anwendbar waren, sondern die allgemein für Hilflosigkeit gemäß § 33b Abs. 6 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) geltenden Kriterien, die der Kläger nicht erfüllt.

Sind neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen (Merkzeichen), treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch, SGB IX, bis 30.06. 2001 § 4 Abs. 4 Schwerbehindertengesetz, SchwbG). Diese Behörden entscheiden auch darüber, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für die vom Kläger beanspruchte steuerrechtliche Förderung bei Hilflosigkeit gemäß § 33b Abs. 6 Sätze 2 und 3 Einkommensteuergesetz (EStG) gegeben sind. Für Verwaltung und Gerichte gleichermaßen beachtlich sind dabei die Bewertungsmaßstäbe der seit 01.01.2009 geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung. Die VG lösen die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) ab, die für die Zeit vor 01.01.2009 als antizipierte Sachverständigengutachten beachtlich sind und normähnliche Wirkung entfalten (vgl. BSG vom 18.09.2003, B 9 SB 3/02 R; vom 24.04.2008, B 9/9a SB 10/06 R; BVerfG vom 06.03.1995, 1 BvR 60/95). Die Anhaltspunkte wie auch nunmehr die Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind ein auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhendes Regelwerk, das die möglichst gleichmäßige Anwendung der Bewertungsmaßstäbe im Bundesgebiet bezweckt und dem Ziel des einheitlichen Verwaltungshandelns und der Gleichbehandlung dient.

Nach Nr. 22 AHP (in allen Fassungen seit 1983) bzw. Nr. A.5 VG ist bei Beurteilung der Hilflosigkeit von Kindern und Jugendlichen nicht nur maßgeblich, ob die Behinderten für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen (§ 33b Abs. 6 Satz 2 EStG). Vielmehr ist auch "die Anleitung zu diesen Verrichtungen und die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung (z.B. durch Anleitung im Gebrauch der Gliedmaßen oder durch Hilfen zum Erfassen der Umwelt und zum Erlernen der Sprache) sowie die notwendige Überwachung" für die Frage der Hilflosigkeit von Bedeutung (so Nr. 22 Abs. 1 AHP 1983).

Unter Beachtung der Anhaltspunkte anerkannte der Beklagte 1983 den Anspruch des seit Geburt körperlich schwerstbehinderten Klägers auf Merkzeichen H und bestätigte diese Entscheidung 1987, als der Kläger vier Jahre alt war. Unschädlich ist dabei, dass weder im Bewilligungsbescheid von 1983 noch im Bescheid von 1987 das Alter des Klägers als maßgeblicher Gesichtspunkt ausdrücklich genannt war. Für die Anwendbarkeit des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X kommt es nur darauf an, dass das Lebensalter nach den Anhaltspunkten objektiv bedeutsam war (vgl. BSG vom 12.11.1996, 9 RVs 18/94).

Der Senat hat keine Zweifel, dass der Kläger es mit zunehmendem Alter gelernt hat, behinderungsbedingt erforderliche Maßnahmen, für die er als Kind Hilfe benötigte, selbstständig und eigenverantwortlich durchzuführen, soweit dies objektiv möglich ist. Darin liegt die wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnisse im Sinn des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, ohne dass eine Besserung des Gesundheitszustands festgestellt werden müsste (Nr. 22 am Ende AHP, Nr. A.5e VG; vgl. auch BSG vom 12.11.1996, 9 RVs 18/94). Der Senat stützt sich dabei in erster Linie auf die schlüssigen Feststellungen des Sachverständigen Dr. H. (Gutachten vom 13.12. 2006, ergänzende Stellungnahme vom 10.04.2007), der zu dem Ergebnis kam, dass bei Zusammenschau der vorliegenden Befunde und Gutachten bis 1999 eine wesentliche Besserung gegenüber den früheren Verhältnissen eingetreten sei. Diese Einschätzung korrespondiert mit der Mitteilung im Gutachten des Berufsbildungswerks R. vom 17.12.1999, dass im Internatsalltag (August bis November 1999) Hilfestellungen nicht nötig gewesen seien. Damals war der Kläger 16 Jahre alt. In diesem Alter kann man es durchaus gelernt haben, behinderungsbedingt erforderliche Maßnahmen weitgehend selbstständig zu erledigen. Dass die damals gewonnene größere Selbstständigkeit des Klägers fortbesteht, bestätigt die Begutachtung durch Dr. C. im Juni 2009.

Bei Erteilung der streitgegenständlichen Bescheide (Bescheid vom 22.03.2004, Widerspruchsbescheid vom 13.07.2005) erfüllte der Kläger nicht die Kriterien für Hilflosigkeit gemäß § 33b Abs. 6 Sätze 2 und 3 EStG, so dass er diesen Nachteilsausgleich nicht etwa mit anderer Begründung weiterhin verlangen kann. Ebenso wenig liegen die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Merkzeichen H gemäß Nr. 21 Abs. 5 AHP bzw. Nr. A.4 VG (Rollstuhlpflichtigkeit bei Querschnittslähmung) vor. Ohne rechtliche Relevanz ist die vom Kläger im Berufungsverfahren aufgeworfene Frage einer zwischenzeitlichen Verschlimmerung der Situation. Denn bei Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheids ist die Sach- und Rechtslage (nur) bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens maßgeblich (vgl. Kasseler Kommentar, § 48 SGB X Rn. 11; Meyer-Ladewig, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 9. Aufl. 2008, § 54 Rn. 33; BSG vom 10.12.2003, B 9 SB 4/02 R), hier also die Zeit März 2004/ Juli 2005.

Der Senat ist davon überzeugt, dass beim Kläger Hilflosigkeit im Sinn des § 33b Abs. 6 Sätze 2 und 3 EStG nicht besteht. Denn er ist nicht eine Person, die für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Die von ihm benötigten Hilfen machen keinen Zeitaufwand von mindestens zwei Stunden täglich aus. Lässt man den nicht unerheblichen, aber nicht berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung außer Acht, ist nicht einmal ein Mindestaufwand von einer Stunde täglich bewiesen. § 33b Abs. 6 Sätze 2 und 3 EStG erfasst Hilfemaßnahmen insbesondere im Bereich der sog. Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität), die täglich und regelmäßig erforderlich sind. Hinzu kommen Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistige Anregungen und Kommunikation. Im Unterschied zur Pflegeversicherung bleibt der Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung außer Betracht. Die Beurteilung der Erheblichkeit orientiert sich an dem Verhältnis der dem Behinderten nur noch mit fremder Hilfe möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann. In der Regel ist auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen. Es muss sich um mindestens drei Verrichtungen handeln, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen. Nicht hilflos ist, wer nur in relativ geringem Umfang, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist. Hinreichend erheblich ist ein täglicher Zeitaufwand von mindestens zwei Stunden, was dem Grundpflegeerfordernis für die Pflegestufe II in der Pflegeversicherung entspricht. Bei einem täglichen Zeitaufwand für fremde Hilfe zwischen einer und zwei Stunden liegt Hilflosigkeit dann vor, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege (wegen der Zahl der Verrichtungen bzw. ungünstiger zeitlicher Verteilung der Hilfeleistungen) besonders hoch ist (zum Ganzen BSG vom 12.02.2003, B 9 SB 1/02 R).

Der Senat gewinnt seine Überzeugung aus den Gutachten des Dr. C., des Dr. H. und des Dr. G ... Der von Dr. C. im Juni 2009 beobachtete Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) ist nach Zahl der betroffenen Verrichtungen und deren Häufigkeit nicht erheblich. Er macht keinen Mindestaufwand von einer Stunde täglich aus. Kein Hilfebedarf besteht nach Beurteilung des Sachverständigen beim An- und Auskleiden, bei der Nahrungsaufnahme, beim Verrichten der Notdurft und im Bereich der geistigen Anregung und Kommunikation. Fremde Hilfe benötigt der Kläger dagegen bei Teilverrichtungen der Körperpflege (Hilfe beim Einsteigen und Verlassen der Badewanne und beim Abtrocknen des Unterkörpers, tägliche Inspektion der Beine wegen etwaiger Druckstellen) und der Mobilität (Hilfe beim Verstauen des Rollstuhls wie auch beim Verstauen der stets mitgeführten Unterarmgehstützen im Auto). Die Würdigung des Sachverständigen steht im Einklang mit der ärztlichen Bescheinigung der Frau Dr. S. (Spina bifida Ambulanz) vom 24.03.2009. Die Rede ist hier von einem Hilfebedarf beim Duschen, bei der Kontrolle von Druckstellen im Bereich des Gesäßes und der Füße sowie beim Ein- und Ausladen des Rollstuhls.

Nach den Beobachtungen der Sachverständigen Dr. H. im Dezember 2006 und Dr. G. im Oktober 2001 war der Hilfebedarf damals etwas größer, erreichte aber gleichwohl - bei Außerachtlassung der hauswirtschaftlichen Versorgung - nicht den Umfang von einer Stunde täglich. Dr. H. hob im Gutachten vom 13.12.2006 hervor, dass der Umfang der vom Kläger und seiner Mutter angegebenen Hilfen beim An- und Auskleiden, bei der Körperpflege und bei der Darm- und Blasenentleerung auf Grund des medizinischen Befundes nicht nachvollziehbar sei. Plausibel ist nach seiner Einschätzung eine regelmäßige Hilfe beim Ankleiden, beim Baden und eine teilweise Übernahme beim Stuhlgang und bei der Blasenentleerung. Diese Hilfe ist aber, so Dr. H., nicht so erheblich, dass Hilflosigkeit im Sinn der Anhaltspunkte angenommen werden könnte. Dr. G. wies nach einem Hausbesuch im Pflegegutachten vom 19.10.2001 einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 36 Minuten (Körperpflege 34 Minuten, Mobilität 2 Minuten) aus. Die deutlich abweichende Beurteilung des Dr. O. im Gutachten vom 22.04.2003 (43 Minuten Körperpflege, 38 Minuten Mobilität, 66 Minuten hauswirtschaftliche Versorgung), auf die der Kläger offensichtlich Bezug nimmt, wenn er in der Berufungsbegründung einen Hilfebedarf von 147 Minuten erwähnt, kann schon deswegen nicht überzeugen, weil Dr. O. das Gutachten ohne vorherigen Hausbesuch erstellt hat und seine Einschätzung zum Hilfebedarf nach eigenem Bekunden nur auf die Angaben des Klägers und seiner Mutter stützte. Im übrigen sind die Kriterien der Hilflosigkeit im Sinn des § 33b Abs. 6 Sätze 2 und 3 EStG selbst nach den Zeitangaben des Dr. O. nicht erfüllt.

Entgegen der nachhaltigen Forderung des Klägers im Widerspruchs-, Klage- und nun auch Berufungsverfahren kann der Anspruch auf Merkzeichen H nicht aus Nr. 21 Abs. 5 AHP bzw. Nr. A.4 VG abgeleitet werden. Danach kann bei einer Reihe schwerer Behinderungen, die aufgrund ihrer Art und besonderen Auswirkungen regelhaft Hilfeleistungen in erheblichem Umfang erfordern, im Allgemeinen ohne nähere Prüfung angenommen werden, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilflosigkeit erfüllt sind; dies gilt stets bei Querschnittslähmung und anderen Behinderungen, die auf Dauer und ständig - auch innerhalb des Wohnraums - die Benutzung eines Rollstuhls erfordern (vgl. dazu die Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen vom 28.06.2007, L 13 SB 87/03).

Trotz der beim Kläger vorliegenden Querschnittslähmung lässt sich eine ständige Rollstuhlgebundenheit im Sinn dieser Regelung nicht feststellen. Das erklärt sich dadurch, dass er an einer inkompletten Querschnittslähmung leidet und Teilfunktionen erhalten sind, wie dies der Sachverständige Dr. H. näher beschrieben hat. Deswegen kann er sich selbstständig von einem Stuhl erheben und sich innerhalb der Wohnung ohne Rollstuhl mit Hilfe einer Oberschenkelorthese rechts und einer Unterschenkelorthese links und/ oder mit seinen Unterarmgehstützen fortbewegen. Die Sachverständigen Dr. H. und Dr. C. lassen keinen Zweifel daran, dass der Kläger trotz der bestehenden Lähmungserscheinungen nicht ständig auf die Benutzung des Rollstuhls angewiesen ist und er sich in der Wohnung ohne Rollstuhl, für kürzere Strecken auch außerhalb der Wohnung ohne Rollstuhl, fortbewegen kann. Der Rollstuhl wird in der Regel nur außerhalb des Hauses eingesetzt. Mit Rücksicht auf die entsprechende Argumentation des Klägers weist Dr. C. darauf hin, dass auch dann, wenn die Wohnung rollstuhlgeeignet wäre und der Kläger in der Wohnung tatsächlich den Rollstuhl benutzen würde, angesichts seines körperlichen Zustands aus ärztlicher Sicht nicht bestätigt werden könnte, dass die Benutzung eines Rollstuhl auf Dauer und ständig erforderlich sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R3406


Informationsstand: 18.01.2011