Urteil
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H bei Vorliegen einer geistigen Behinderung

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat


Aktenzeichen:

L 13 SB 10/08


Urteil vom:

15.04.2010


Grundlage:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 30. Oktober 2007 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Aberkennung des Nachteilsausgleichs "H" (hilflos) durch den Beklagten.

Die im Jahre 1984 geborene Klägerin ist geistig behindert, schwerhörig und leidet unter den Folgen einer (operierten) Kiefer-Gaumenspalte. Mit Bescheid vom 29. April 1993 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest und erkannte die Merkzeichen H, G, B und RF zu.

Nachdem die Klägerin im März 2002 das 18. Lebensjahr vollendet hatte, leitete der Beklagte von Amts wegen eine Überprüfung des vorgenannten Bescheides ein. Nach Einholung eines Befundberichts der behandelnden Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. R und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme senkte der Beklagte mit Bescheid vom 18. November 2003 unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 29. April 1993 den GdB auf 80 ab und hob die Zuerkennung der Merkzeichen H und RF auf. Im Widerspruchsverfahren reichte die Klägerin ein privat erstattetes Gutachten des Pflegesachverständigen M vom 20. Oktober 2003 zu den Akten. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08. Oktober 2004 mit der Begründung zurück, es sei im Hinblick auf die geistige Behinderung eine Besserung eingetreten.

Im anschließenden Verfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat das Gericht einen Befundbericht der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. R vom 26. September 2006 eingeholt. Aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C am 24. Februar 2007 ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin hat er ausgeführt, die Klägerin sei im Sinne der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) nicht hilflos.

Mit Schriftsatz vom 24. April 2007 hat der Beklagte einen GdB von 100 für den gesamten streitbefangenen Zeitraum anerkannt. Die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis angenommen und ihre Klage im Hinblick auf das Merkzeichen RF zurückgenommen; im Übrigen hat sie ihr Begehren weiter verfolgt.

Mit Urteil vom 30. Oktober 2007 hat das Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 18. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. Oktober 2004 in der Fassung des angenommenen Anerkenntnisses vom 24. April 2007 insoweit aufgehoben, als der Beklagte dort feststelle, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H nicht mehr vorlägen: Die Voraussetzungen für eine Entziehung des Merkzeichens H gemäß § 48 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) seien nicht erfüllt. Die Klägerin sei weiterhin hilflos im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Schwerbehinderten-Ausweisordnung (SchwbAVO), 33 Einkommensteuergesetz (EStG). Zwar habe der Sachverständige die Voraussetzungen nach den AHP verneint. Jedoch habe die Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung für die Kammer überzeugend dargelegt, dass die Klägerin bei einer Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfe und somit ein Regelfall der Nr. 21.6 AHP vorliege.

Gegen dieses ihm am 13. Dezember 2007 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 10. Januar 2008 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt: Auch wenn es bei dem bindenden Teilanerkenntnis vom 24. April 2007 verbleibe, seien tatsächlich nur die Voraussetzungen für einen GdB von 80 gegeben. In jedem Falle habe das Merkzeichen H aberkannt werden müssen, wie sich auch aus dem überzeugenden Gutachten des Dr. C ergebe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 30. Oktober 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlage sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Rechtsweg:

SG Frankfurt (Oder), Urteil vom 30.10.2007 - S 5 SB 165/04

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist jedoch nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide des Beklagten, mit denen die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs der Hilflosigkeit aufgehoben worden war, aufgehoben.

Die Voraussetzungen einer Aufhebung des vorliegenden begünstigenden Verwaltungsaktes vom 29. April 1993 nach § 48 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) waren nicht erfüllt. Maßgeblich ist dabei allein der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, das heißt des Widerspruchsbescheides vom 08. Oktober 2004, weil vorliegend allein eine Anfechtungsklage statthaft ist.

Nach § 48 SGB X ist zunächst eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse erforderlich, die zur Rechtswidrigkeit des ursprünglich rechtmäßigen begünstigenden Bescheides geführt haben muss. Diese Voraussetzungen haben sich im Ergebnis nicht nachweisen lassen; die Beweislosigkeit geht im Ergebnis nach den Regeln der objektiven Beweislast zum Nachteil des Beklagten, der die belastende Aufhebungsentscheidung getroffen hat. Zwar steht für den Senat fest, dass in der Zeit nach dem Erlass des ursprünglichen begünstigenden Bescheides vom 29. April 1993 infolge des fortschreitenden Alters und der Reifung der Klägerin eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist, doch es ist nicht erweislich, dass jedenfalls im Oktober 2004 die Voraussetzungen für eine Zuerkennung des Nachteilsausgleichs der Hilflosigkeit nicht mehr vorlagen.

Der Begriff der Hilflosigkeit ist definiert im § 145 Abs. 1 SGB IX und in den §§ 33 a und 33 b des Einkommensteuergesetzes. Als hilflos ist dabei derjenige anzusehen, der infolge von Gesundheitsstörungen nicht nur vorübergehend für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist.

Bei der Ausfüllung der vorgenannten Merkmale sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in der Fassung von 2004. Zwar sind in den Jahren 2005 und 2008 jeweils erneuerte Anhaltspunkte veröffentlicht worden, und seit dem 01. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (Bundesgesetzblatt I S. 2412) festgelegten "versorgungsmedizinische Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP - ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten ist - abgelöst haben. Aus den vorgenannten Gründen, weil allein der Zeitpunkt der Behördenentscheidung im Jahre 2004 maßgeblich ist, sind vorliegend die AHP 2004 heranzuziehen.

Nach den AHP 2004 Nr. 21 Abs. 6 S. 28 kann bei einer Reihe schwererer Behinderungen, die aufgrund ihrer Art und besonderen Auswirkungen regelhaft Hilfeleistungen in erheblichem Umfang erfordern, im Allgemeinen ohne nähere Prüfung angenommen werden, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen von Hilflosigkeit erfüllt sind. Dies gilt in der Regel auch bei geistiger Behinderung, wenn diese Behinderung allein einen GdB-Grad von 100 bedingt.

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Falle der Klägerin erfüllt. Sie verfügt über einen GdB von 100, der allein auf die bestehende geistige Behinderung zurückzuführen ist. Zwar hat der Beklagte zunächst in den angefochtenen Bescheiden den GdB auf 80 abgesenkt, er hat diese Absenkung jedoch später bindend zurückgenommen und ein diesbezügliches prozessuales Teilanerkenntnis abgegeben. Hierdurch ist der Beklagte aus Rechtsgründen daran gehindert, von einem niedrigeren GdB als 100 auszugehen. Dies gilt im Hinblick auf sämtliche rechtlichen Folgeeinwirkungen, die sich aus dem hohen GdB von 100 ergeben, weil ansonsten keine weitere Einschränkung in dem prozessualen Teilanerkenntnis des Beklagten und in dem korrigierenden Bescheid des Beklagten enthalten sind. Selbst wenn der Beklagte nunmehr den Standpunkt einnimmt, dass tatsächlich nur die Voraussetzungen für den GdB von 80 bestanden hätten, sind diese Einwände im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung. Im Übrigen weist der Senat aber auch darauf hin, dass der Beklagte sein Teilanerkenntnis auf der Grundlage umfangreicher medizinischer Ermittlungen des erstinstanzlichen Gerichts und nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme abgegeben hat. Vor diesem Hintergrund spricht jedenfalls vieles dafür, dass auch inhaltlich die Zuerkennung eines GdB von 100 gerechtfertigt gewesen sein dürfte, auch wenn dies - aus den genannten Gründen - für den vorliegenden Rechtsstreits in rechtlicher Hinsicht nicht von Bedeutung ist.

Vor dem Hintergrund der vorgenannten Regelungen der AHP 2004 und der bindenden Feststellung eines GdB von 100 wäre die Aberkennung des Nachteilsausgleichs der Hilflosigkeit nur dann möglich gewesen, wenn sich ein atypischer Fall in der Person der Klägerin hätte erweisen lassen. Dies ist indessen zu verneinen. Es gibt weder aus den vorliegenden Ermittlungen des Gerichts noch in anderer Hinsicht Hinweise darauf, dass die Klägerin - anders als der Regelfall eines schwerbehinderten Menschen mit gleichartigem Behinderungsgrad aufgrund einer geistigen Behinderung - in der Lage sein könnte, die vorgenannten Verrichtungen des täglichen Lebens in dem erforderlichen Umfang ohne fremde Hilfe wahrzunehmen. Auch die von dem Beklagten herangezogene Stellungnahme der Werkstatt für behinderte Menschen, in der die Klägerin tätig ist, begründet nicht einen solchen atypischen Fall. Zwar kann hieraus entnommen werden, dass die Klägerin in ihrer behindertengerechten Arbeitsumgebung in der Lage ist, vergleichsweise eigenständig die Arbeitsabläufe und den dortigen Teil ihres Tagesablaufes zu gestalten. Es lassen sich hieraus jedoch keinerlei Rückschlüsse darauf ziehen, wie die Eigenständigkeit der Klägerin in ihrem üblichen und sonstigen Tagesablauf, insbesondere in ihrer häuslichen Umgebung beschaffen ist. Es spricht vielmehr alles dafür, dass die behinderungsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen bei der Klägerin auch genau dem GdB von 100 aufgrund ihrer geistigen Behinderung entsprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nicht ersichtlich sind.

Referenznummer:

R/R4873


Informationsstand: 13.05.2011