Urteil
Entzug des Merkzeichens "H" bei Vollendung des 16. Lebensjahres

Gericht:

LSG Sachsen-Anhalt 7. Senat


Aktenzeichen:

L 7 SB 10/07


Urteil vom:

05.05.2011


Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 24. Januar 2007 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 8. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2005 insoweit abgewiesen, als der Beklagte verurteilt worden ist, über den 1. Dezember 2004 hinaus die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" festzustellen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist noch der Entzug des Merkzeichens "H" (Hilflosigkeit) streitig.

Der am ... 1988 geborene Kläger beantragte am 11. Dezember 1991 wegen einer angeborenen Rückenmarkspalte mit Blasenfunktionsstörung die Feststellung von Behinderungen. Dem Antrag lag eine Sozialhygienische Stellungnahme der Amtsärztin L. des Sozialamtes des Landkreises W. bei, in der diese am 8. November 1991 festgestellt hatte, der dreijährige Kläger sei körperlich altersgerecht entwickelt, jedoch in seiner geistigen Entwicklung etwa um ein halbes Jahr zurück. Es bestünden ein Zustand nach einer operativen Behandlung einer Rückenmarkspalte, eine Störung des Blasenschließmuskels mit Harnrückstau und eine Stuhlinkontinenz. Der Kläger müsse drei- bis vier mal katheterisiert werden. Er habe auch Klumpfüße, die mit einer Gangstörung verbunden seien. Der Versorgungsarzt und Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. S. wertete diesen Befund für den Beklagten aus und stellte als Behinderungen fest:

Blasenentleerungsstörung (Einzel-Grad der Behinderung (GdB) 50),

Stuhlinkontinenz (Einzel-GdB 50),

Klumpfüße beidseits (Einzel-GdB 50).

Diese seien zusammenfassend mit einem Gesamt-GdB von 90 zu bewerten und rechtfertigen u. a. das Merkzeichen "H". Diese Bewertung übernahm der Beklagte in seinem Bescheid vom 19. Februar 1992.

Im Jahr 1995 führte der Beklagte ein Überprüfungsverfahren durch und holte einen Befundbericht vom 3. April 1995 vom Facharzt für Orthopädie B. ein: Beim Kläger bestünden eine Hyperlordose, ein stepperartiges Gangbild und eine deutliche Verschmächtigung der Unterschenkel (sog. Storchenwaden). Er sei mit Klumpfussnachtschienen und Antivarusschuhen versorgt. Der Versorgungsarzt und Internist Dr. K. bezeichnete unter dem 26. Mai 1995 die Behinderungen des Klägers wie folgt:

Fehlbildung des Rückenmarkes mit Harnblasenfunktionsstörung und Stuhlinkontinenz (Einzel-GdB 80),

Klumpfüße beidseits (Einzel-GdB 50).

Zusammenfassend seien diese Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 90 einzuschätzen. Die Voraussetzungen für die festgestellten Merkzeichen lägen weiter vor. In einem weiteren Überprüfungsverfahren im Jahr 1998 holte der Beklagte einen Befundbericht der Fachärztin für Orthopädie Dipl.-Med. W. ein, die u. a. über eine Versorgung des Klägers in der Nacht mit Beinschienen berichtete. Mit Befundschein vom 31. August 1998 gab Prof. Dr. B. an: Das Gangbild des Klägers sei durch Teilparesen geprägt. Die neurogene Blase werde mehrfach am Tag katheterisiert. Der Stuhl müsse zeitweise ausgeräumt werden. Bisher seien nur wenige Harnwegsinfekte aufgetreten. Der Versorgungsarzt Obermedizinalrat (OMR) Dr. J. hielt in Auswertung dieser Unterlagen unter dem 2. Februar 1999 einen Gesamt-GdB von 90 sowie die Merkzeichen "G" (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) weiterhin für gerechtfertigt. Dies gelte jedoch nicht für die Merkzeichen "RF" (Gesundheitliche Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) und "H", deren Voraussetzungen nicht mehr vorlägen. Der Kläger könne an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, was auch durch den Besuch der Grundschule dokumentiert werde. Der Mehraufwand, der durchaus noch im Vergleich zu anderen Kindern gleichen Altes ableitbar sei, könne nicht als gravierend betrachtet werden. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" seien daher nicht mehr gegeben. Im Schreiben vom 9. Februar 1999 hörte der Beklagte den Kläger zum beabsichtigten Entzug der Merkzeichen "H" und "RF" an. Hiergegen legte die gesetzliche Vertreterin des Klägers am 23. Februar 1999 Widerspruch ein und machte geltend: Der Kläger müsse vier mal täglich katheterisiert werden. Er benötige Hilfe beim Stuhlgang, beim Baden und teilweise auch beim Anziehen. Zur Schule sowie zu außerschulischen Veranstaltungen müsse er gebracht und abgeholt werden, da er gehbehindert sei und auch seinen schweren Ranzen nicht über eine längere Wegstrecke tragen könne. Der Beklagte holte eine Stellungnahme von Prof. Dr. B. vom 24. März 1999 ein. Hiernach benötige der Kläger für die Nahrungsaufnahme keine Hilfe. Es lägen eine inkomplette Querschnittslähmung, eine Blasen- und Mastdarmlähmung sowie eine Teilparese beider Beine vor. Diesen Befund wertete der Versorgungsarzt Dr. G. unter dem 2. Mai 1999 mit der Einschätzung aus, es sei das Merkzeichen "H" weiterhin vorzuschlagen. Die Abhängigkeit des Kindes von Hilfeleistungen Dritter sei nach wie vor gegeben und mit einem insulinpflichtigen Diabetes-mellitus-Patienten zu vergleichen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" lägen dagegen nicht mehr vor. Dem folgend entzog der Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 3. Juni 1999 das Merkzeichen "RF".

Im Jahr 2004 führte der Beklagte nochmals ein Überprüfungsverfahren durch. In einem eingeholten Befundbericht teilte der Leiter der Kinderurologie Prof. Dr. T. unter dem 17. April 2003 mit: Der Kläger besuche die Körperbehindertenschule D. und trage ständig eine Vorlage, da der Harn immer träufele. Die Stuhlentleerung erfolge mittels Einläufen alle drei Tage. Der Kläger könne selbst laufen. Diagnostisch sei von einer neurogenen Blase sowie einer partiellen Harninkontinenz auszugehen. Der Versorgungsarzt OMR Dr. J. wertete die eingeholten Befunde unter dem 25. April 2004 aus. Nach seiner Einschätzung bestehe aufgrund des vorliegenden Alters keine Hilflosigkeit mehr. Der Beklagte zog ein Pflegegutachten des MDK Sachsen-Anhalt von der Pflegekraft U. vom 30. August 2004 (Untersuchung vom 11. August 2004) bei. Hiernach betrage der Pflegeaufwand in der Grundpflege 56 Minuten und in der Hauswirtschaft 45 Minuten. Der Kläger sei allein geh- und stehfähig und könne sich allein katheterisieren. Nur bei der Stuhlausscheidung benötige er noch Hilfe. Wegen einer ausgeprägten Skoliose sei eine Versteifungsoperation geplant. Den Kopf-, Schürzen- und Nackengriff könne er ausführen; der Händedruck sei kräftig. Im Wohnbereich könne er zügig gehen. Auf dem rechten Auge sei er weit- und auf dem anderen Auge kurzsichtig. Das Lesen sei ihm nur mit Brille möglich. Bei der Körperpflege benötige er Hilfe für den Rücken und die Füße. Ein mal täglich erfolge durch die Pflegeperson mittels Einlauf die Ausräumung des Darmes. Ein Hilfebedarf bei der Ernährung bestehe nicht. Bei der Verrichtung "Mobilität" bestehe für das Anziehen der Schuhe und der Strümpfe sowie beim Be- und Entsteigen der Wanne ein Hilfebedarf. Der Versorgungsarzt OMR Dr. J. wertete diesen Befund aus. Er bezeichnete die Behinderungen des Klägers wie folgt:

Harnblasen- und Stuhlentleerungsstörung mit Harninkontinenz (Einzel-GdB 50),

Klumpfußbildung beidseits mit operativer Behandlung (Einzel-GdB 50),

Wirbelsäulenformveränderung mit Wirbelsäulenaufrichtung und Seitenabweichung (Einzel-GdB 40).

Zusammenfassend sei von einem Gesamt-GdB von 90 auszugehen und nur noch das Merkzeichen "G" anzuerkennen. Der Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 27. Oktober 2004 zu der beabsichtigten Entziehung der Merkzeichen "H" und "B" an. Hiergegen ließ der Kläger durch seinen gesetzlichen Vertreter am 2. November 2004 vortragen: Der Einschätzung, er sei mit Vollendung seines 16. Lebensjahrs nicht mehr auf Hilfe angewiesen, könne nicht gefolgt werden. Schließlich habe sich die Art und Folge der Behinderung nicht verändert. Er sei nach wie vor gehbehindert und könne nur kurze Strecken ohne Hilfe laufen. Auch die Lähmungen der Blase und des Darms lägen weiterhin vor. Zudem müsse er ständig Ärzte zu Kontrolluntersuchungen aufsuchen, was er alleine nicht bewältigen könne. Mit Bescheid vom 8. November 2004 hob der Beklagte den Bescheid vom 3. Juni 1999 auf und stellte weiterhin einen Gesamt-GdB von 90 fest, entzog jedoch die Merkzeichen "H" und "B" mit Wirkung zum 1. Dezember 2004. Den dahin gerichteten Widerspruch vom 19. November 2004 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 2005 zurück.

Der Kläger hat am 5. Juli 2005 Klage beim Sozialgericht Dessau erhoben, die Aufhebung der Bescheide begehrt und geltend gemacht: Er sei nach wie vor hilflos im Sinne des Gesetzes. Die pauschale Argumentation des Beklagten, nach Vollendung des 16. Lebensjahrs bestünde keine Hilflosigkeit mehr, werde seinem tatsächlichen Hilfebedarf nicht gerecht. Durch Reifedefizite benötige er praktisch ständig die Hilfe von Dritten. So könne er nur kurze Strecken laufen. Bei längeren Wegen müsse er auf den Rollstuhl zurückgreifen. Auch bei der Katheterisierung (4 mal täglich) und der Stuhlgangsentleerung sei die Hilfe der Mutter notwendig. Auch für die wöchentlichen ärztlichen Kontrollbesuche und die Besuche der Schule sowie für die Arbeitsgemeinschaft Schwimmen benötige er die Unterstützung einer Pflegeperson. Zusammenfassend sei von einem Hilfebedarf von mindestens zwei Stunden auszugehen. Die im Pflegegutachten angegebene Selbstkatheterisierung erfolge nicht durchgehend. Dies gelte insbesondere bei den häufigen Harnwegserkrankungen und anderen Erkrankungen. Jeden Tag sei eine Urinkontrolle wegen möglicher Infekte notwendig. Allein für den Morgen sei von einem Hilfebedarf von 20 bis 30 Minuten auszugehen. Am Nachmittag erfolge eine Hilfeleistung beim Stuhlgang, Zäpfchengabe und beim Baden im Umfang von ca. 30 Minuten. Für die Bereitstellung von Medikamenten am Abend seien weitere fünf Minuten notwendig. Die Ermittlungen des Beklagten seien unzureichend und ein Sachverständigengutachten einzuholen. Auch das Merkzeichen "B" stehe ihm zu, da er allein keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen könne.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der Fachärztin für Kinderheilkunde Dr. P. eingeholt. Diese hat unter dem 27. September 2005 mitgeteilt: Der Kläger sei durch das mehrmalige Katheterisieren beeinträchtigt. Alle ein bis zwei Tage sei ein Klistier notwendig. Länger als 15 Minuten könne er nicht laufen. Wegen einer schlechten Orientierung sei er unselbständig im öffentlichen Verkehrsraum und benötige auch bei Arztbesuchen eine Begleitperson. Seine Medikation müsse beaufsichtigt werden. In einem beigefügten Reha-Bericht über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 19. September 2001 bis 17. Oktober 2001 berichtete die Fachärztin für Kinderheilkunde Privatdozentin Dr. K. Zu Beginn der Rehabilitation sei über mehrere Tage das Katheterisieren überprüft worden. Dies habe der Kläger gut und hygienisch korrekt durchgeführt. Auf Sorgfaltsbedenken der Kindesmutter sei die Katheterisierung nochmals beanstandungslos überprüft worden. Der Kläger denke fast immer selbstständig daran und führe diese Maßnahme weiterhin korrekt aus. Zum Ende der Rehabilitation habe er einen Einbeinstand vorführen können. Der Muskelaufbau habe sich gebessert und die mögliche Gehstrecke habe sich bei verbessertem Bodenkontakt gesteigert. In einem weiteren Befundbericht vom 14. Oktober 2005 hat Prof. Dr. S. von der Universität L. mitgeteilt: Bei der letzten ambulanten Vorstellung am 14. Oktober 2004 habe der Kläger keine Beschwerden angegeben. Das Korsett werde nicht mehr getragen und das Gangbild sei ohne orthopädische Hilfsmittel flüssig.

Am 12. November 2005 hat der Beklagte eine Prüfärztliche Stellungnahme von Dr. K. vorgelegt und geltend gemacht, danach sei lediglich noch von einem GdB von 60 auszugehen. Es sei daher umgehend ein Rücknahmeverfahren gemäß § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) einzuleiten. Dr. K. hat ausgeführt: Für die Harn- und Stuhlentleerungsstörung sei ein Einzel-GdB von 50 festzustellen. Nach dem orthopädischen Befund der Universität L. werde ein flüssiges Gangbild ohne Hilfsmittel beschrieben. Hierfür sei ein Einzel-GdB von 30 zu vergeben. Die bisherigen Feststellungen seien daher falsch und das Merkzeichen "G" zu Unrecht vergeben worden. Auch die Funktionsminderung der Wirbelsäule habe sich gebessert und rechtfertige allenfalls einen Einzel-GdB von 20. Zusammenfassend sei daher nur noch ein Gesamt-GdB von 60 zu bilden.

Zu Vorbereitung der geplanten Verwaltungsentscheidung nahm der Beklagte weitere medizinische Ermittlungen vor. Mit Schreiben vom 6. Dezember 2005 hörte er den Kläger zu dem beabsichtigten Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X an. Bei der Gesamtschau aller zu bewertenden Behinderungen sei der Gesamt-GdB von 90 zu hoch bewertet worden und nunmehr auf 60 herabzusetzen. Mit Bescheid vom 10. Januar 2006 nahm der Beklagte den Bescheid vom 8. November 2004 zurück, soweit der GdB höher als 60 und das Merkzeichen "G" festgestellt worden seien. Dieser Bescheid sei nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens geworden.

Der Kläger hat Zeugnisse und pädagogische Stellungnahmen seiner Schule vorgelegt. Unter dem 13. Juli 2005 teilte die Klassenleiterin mit: Im Unterricht bemühe sich der Kläger um eine gute Mitarbeit, habe aber Probleme in der Aufmerksamkeit und in seinem Konzentrationsvermögen. Es sei gleichbleibend freundlich und habe guten Kontakt zu seinen Mitschülern. Darüber hinaus hat er einen Arztbrief von Prof. Dr. K. (Universitätsklinik L.) vom 29. Juni 2006 vorgelegt: Hiernach träten etwa einmal im Monat Harnwegsinfekte auf. Nach längeren Laufstrecken komme es zu einer Ermüdung, was den Einsatz eines Rollstuhls erfordere. Kniebeugen seien ihm nicht möglich und der Treppengang nur mit Festhalten möglich.

Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG hat die Oberärztin an der Klinik für Kinderchirurgie der Universitätsklinik L. Dr. W. ein Sachverständigengutachten vom 26. Oktober 2006 erstattet. Sie hat ausgeführt: Neben den bereits bekannten Diagnosen bestünde ein sonografisch nachweisbarer Hydrozephalus internus ohne Hirndruckzeichen. Erst mit acht Jahren sei der Kläger eingeschult worden. In der 6. Klasse sei er stressbedingt in die Körperbehindertenschule D. umgeschult worden. Hier habe er die 9. Klasse wiederholen müssen. Insbesondere seine ungenügende Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit hätten ihn schulisch eingeschränkt. Im Sommer 2006 habe er den Hauptschulabschluss bestanden und absolviere ein berufsvorbereitendes Jahr in einer Fördereinrichtung in P ... Der Kläger bedürfe der ständigen Überwachung und Bereitschaft zur Hilfeleistung z.B. beim An- und Ausziehen, bei der Einnahme von Medikamenten und dem Packen der Einmalkatheter. Dies rechtfertige u. a. das Merkzeichen "H".

Das Sozialgericht Dessau hat mit Urteil vom 24. Januar 2007 die Bescheide des Beklagten vom 6. Juni 2005 und 10. Januar 2006 aufgehoben: Der Kläger benötige nach dem Pflegegutachten vom 30. August 2004 mehrfach täglich der Hilfe für die Verrichtungen des täglichen Lebens.

Der Beklagte hat gegen das ihm am 7. Februar 2007 zugestellte Urteil am 15. Februar 2007 Berufung eingelegt, soweit die Bescheide auch hinsichtlich der Entziehung des Merkzeichens "H" aufgehoben worden sind. Er ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen einer Hilflosigkeit nicht mehr vorliegen, da mit dem Erreichen des 16. Lebensjahrs eine ausreichende Selbstständigkeit eingetreten sei. Der Kläger bedürfte keiner ständigen Aufsicht und Bereitschaft zur Verrichtung behinderungsbedingter Hilfsmaßnahmen mehr. Das ergebe sich auch aus dem Pflegegutachten vom 30. August 2004.

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 24. Januar 2007 aufzuheben, soweit der Bescheid vom 8. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2005 hinsichtlich der Entziehung des Merkzeichen "H" aufgehoben worden ist.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat geltend gemacht: Der Beklagte verwende bei der Prüfung des Merkzeichens "H" zu Unrecht Kriterien für eine Pflegestufe nach der gesetzlichen Pflegeversicherung. Diese könnten allenfalls Anhaltspunkte für das entzogene Merkzeichen "H" sein. Sein Gesundheitszustand habe sich nicht wesentlich geändert. Daher lägen die Voraussetzungen des Merkzeichens "H" immer noch vor.

Der Senat hat die Pflegeakte des Klägers von der AOK-Pflegekasse beigezogen. Hiernach erhielt er zunächst Leistungen nach der Pflegestufe II. Nach dem MDK-Gutachten der Pflegekraft U. vom 30. August 2004 hörte die Pflegeversicherung den Kläger mit Schreiben vom 4. Oktober 2004 zu einer beabsichtigten Herabsetzung der Leistung auf die Pflegestufe I an. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2004 bewilligte die Pflegekasse dem Kläger ab dem 1. November 2004 Leistungen der Pflegestufe I. Hiergegen richtete sich sein Widerspruch vom 2. November 2004. Mit zwei Bescheiden vom 20. Dezember 2004 hob die Pflegekasse alle Bescheide über Leistungen nach der Pflegestufe II und den Bescheid vom 13. Oktober 2004 wegen einer Fehlerhaftigkeit auf, bewilligte bis zum 31. Dezember 2004 Leistungen nach der Pflegestufe II und ab dem 1. Januar 2005 Leistungen nach der Pflegestufe I. Im Jahr 2006 beauftrage die Pflegekasse die Pflegefachkraft B. (MDK) mit einem Gutachten vom 19. Oktober 2006. Danach befinde sich der Kläger seit September 2006 werktags in einem Bildungswerk in P ... Im Laufe der Jahre habe er gelernt, mit seiner Behinderung besser umzugehen. So könne er nun selbständig Blase und Darm katheterisieren und benötige nur noch wenig Hilfe. Die tägliche Körperpflege führe er selbständig durch und werde von der Mutter und dem Betreuer in der Bildungswerkstatt kontrolliert (2 Minuten). Der Kleiderwechsel bedürfe noch der Kontrolle (2 Minuten). Da der Zeitaufwand für die Grundpflege nur noch 4 Minuten betrage, sei keine Pflegestufe mehr zu empfehlen. Mit Schreiben vom 20. November 2006 hörte die Pflegekasse den Kläger zur beabsichtigten Einstellungen von Leistungen an. Mit Bescheid vom 28. November 2006 stellte sie rückwirkend ab dem 1. Juni 2006 unter Aufhebung des Bescheides vom 20. Dezember 2004 die Leistungen ein. Nach Widerspruch des Klägers hob sie diesen Bescheid mit weiterem Bescheid vom 16. Januar 2007 wieder auf und veranlasste eine erneute Prüfung der Pflegebedürftigkeit durch den MDK. Im Pflegegutachten der Pflegefachkraft K. vom 6. Februar 2007 gelangte die Gutachterin zu einem Pflegebedarf in der Grundpflege von 6 Minuten. Nach Anhörung vom März 2007 stellte die Pflegekasse die Leistungen mit Bescheid vom 26. März 2007 ab dem 1. April 2007 ein und hob den Bescheid vom 20. Dezember 2004 auf.

Der Senat hat eine Stellungnahme der Schule an der Muldaue D. vom 21. Oktober 2009 eingeholt. Die Schulleiterin Hotovy hat mitgeteilt, der Kläger habe im täglichen Schulgeschehen keine Hilfe in der pflegerischen Versorgung benötigt. Er sei in der Lage gewesen, den Katheter eigenständig zu entleeren und die notwendigen hygienischen Maßnahmen selbstständig ohne fremde Hilfe durchzuführen. Er habe jedoch Konzentrationsprobleme gehabt und bei Klassenarbeiten entsprechende Zugaben erhalten. In der nichtöffentlichen Sitzung des Senats vom 30. April 2010 hat die Kindesmutter angegeben: Im Jahr 2005 habe sich der Kläger noch in der Behindertenschule befunden. Er habe gegen 5.00 Uhr aufstehen müssen und sei gegen 6.00 Uhr mit dem Taxi zur Schule gefahren. Das selbständige Wecken habe nicht funktioniert. Wegen seiner Probleme in der Warm-Kalt-Empfindung habe sie auch seine Kleidung auswählen müssen. Beim Anziehen der Schuhe und Socken seien Hilfestellungen notwendig gewesen. Im Jahr 2004 habe es noch Hygieneprobleme bei dem Kathetern gegeben. Anfänglich seien auch im Internat (2006) immer wieder Harnwegsinfekte aufgetreten und deshalb Arzttermine notwendig geworden. Zum Zähneputzen habe der Kläger intensiv angehalten werden müssen. Gewisse Widerstände habe es von ihm auch beim Waschen gegeben.

Der Senat hat einen weiteren Befundbericht von Dr. P. über den Zeitraum 2004 bis 2005 eingeholt. Zeitweise Hilfe habe der Kläger bei der Darm- und Blasenentleerung, bei der Körperhygiene und bei längeren Wegstrecken benötigt. Darüber hinaus hat der Senat ein Sachverständigengutachten nach Aktenlage von der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. W. vom 21. Januar 2011 erstatten lassen. Die Sachverständige hat ausgeführt: Der Kläger habe während einer Reha-Kur mit 13 Jahren gelernt, sich selbständig zu katheterisieren. Nur bei akuten Erkrankungen habe die Mutter dies übernehmen und überwachen müssen. Der Kläger habe zur besseren Blasenentleerung das Medikament Mictonorm sowie zur Infektionsprophylaxe ein Antibiotikum erhalten. Die Mutter habe dies überwacht. Durch die Wirbelsäulendeformierung habe der Kläger Schwierigkeiten, sich zu bücken. Im Jahr 2004 sei er ohne Hilfsmittel gehfähig gewesen. Eine tägliche und zeitlich umfängliche Hilfe bzw. ständige Bereitschaft zur Hilfe sei nicht belegt. So seien weder aus den Angaben der Mutter noch aus den Schulbeurteilungen Verhaltensauffälligkeiten oder Hinweise auf eine geistige Behinderung erkennbar. Die mitgeteilten Konzentrationsschwierigkeiten begründeten keine ständige Hilfsbereitschaft von Dritten. Auch seien weder von der Schule noch im häuslichen Umfeld Indizien für eine vollständige Pflegebedürftigkeit erkennbar. Im Jahr 2005 könne daher von einer gewissen Selbstständigkeit des Klägers ausgegangen werden.

Der Kläger hat sich gegen das Gutachten gewandt und vorgetragen: Die gerichtliche Sachverständige habe die zahlreichen Befunde nicht hinreichend gewürdigt. Insbesondere im Gutachten vom 26. Oktober 2006 sei festgestellt worden, dass er der ständigen Überwachung und Bereitschaft zur Hilfeleistung bedurft habe. Dies ergebe sich auch aus dem Befundbericht der Universitätsklinik L. vom 29. Juni 2006. Der Beklagte sieht sich durch das Sachverständigengutachten bestätigt.

Am 16. März 2011 hat sich der Beklagte und am 18. März 2011 der Kläger mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Rechtsweg:

SG Dessau-Roßlau Urteil vom 24.01.2007 - S 5 SB 79/05

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG).

Die beschränkte Berufung ist nach § 143 SGG statthaft und gemäß § 141 Abs. 2 SGG form- und fristgerecht eingelegt. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß §§ 153, 54 Abs. 1 SGG gegen einen belastenden Verwaltungsakt. Daher bezieht sich die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 6. Juni 2005 (vgl. BSG, Urteil vom 18. September 2003, B 9 SB 6/02 R mit weiteren Rechtsprechungshinweisen).

Die Berufung ist auch begründet. Der Beklagte hat zu Recht mit Bescheid vom 8. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2005 den Bescheid vom 3. Juni 1999 aufgehoben und das Merkzeichen "H" entzogen. Rechtskräftig bleibt das Urteil des Sozialgerichts Dessau aber, soweit es die vorgenannten Bescheide aufgehoben und den Bescheid vom 3. Juni 1999 hinsichtlich der Feststellungen eines GdB von 90 und die Merkzeichen "B" und "G" wieder in Kraft gesetzt hat. Gegen diesen Teil des erstinstanzlichen Urteils wendet sich der Beklagte nicht.

Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig. Insbesondere hat der Beklagte den Kläger nach § 24 SGB X mit Schreiben vom 27. Oktober 2004 zum beabsichtigten Entzug des Merkzeichens "H" angehört.

Bei dem angefochtenen Bescheid in Gestalt des abändernden Widerspruchsbescheides handelt es sich um einen Herabsetzungsbescheid gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Als wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes gilt, wobei dies sowohl hinsichtlich der Besserung als auch der Verschlechterung anzunehmen ist, jedenfalls eine Veränderung, die es erforderlich macht, ein Merkzeichen zu entziehen. In dem Bescheid vom 3. Juni 1999 sind der GdB mit Wirkung vom 1. Juli 1999 auf 90 sowie die Merkzeichen "G", "B" und "H" festgestellt worden. In der Zeit zwischen Erlass dieses Bescheides und des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 2005 ist bezüglich des Merkzeichens "H" eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, die dessen Vergabe nicht mehr rechtfertigen. Wegen der altersbedingten Reifeentwicklung, einer nachweislich deutlich verbesserten Selbständigkeit des Klägers und Verringerung seines Pflegebedarfs liegen die Voraussetzungen einer Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "H" spätestens seit Dezember 2004 nicht mehr vor.

Nach § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) vom 19. Juni 2001 hat der Beklagte über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleiches "H" zu entscheiden. Im Schwerbehindertenausweis ist das Merkzeichen "H" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33 b Einkommenssteuergesetz (EStG) oder entsprechender Vorschriften ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Schwerbehindertenausweisverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991 (BGBl. I S. 1739), zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 2. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2742).

Gemäß § 33 b Abs. 6 Satz 3 EStG ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind nach Satz 4 der Vorschrift auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 3 dieser Vorschrift genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Die so umschriebene Hilflosigkeit geht auf die Kriterien zurück, die von der Rechtsprechung im Zusammenhang mit den gleich lautenden Voraussetzungen für die Pflegezulage nach § 35 BVG entwickelt worden sind (BSG, Urteil vom 24. November 2005, B 9a SB 1/05 R, zitiert nach juris m.w.N.). Dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 14, 15 des Elftes Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Pflegeversicherung - (SGB XI) angelehnt (BSG, Urteil vom 24. November 2005, a.a.O., m.w.N.).

Bei den gemäß § 33 Abs. 6 EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren (BSG, Urteil vom 24. November 2005, a.a.O., RdNr. 14). Dazu zählen zunächst die auch von der Pflegeversicherung nach § 14 Abs. 4 SGB IX erfassten Bereiche der Grundpflege, also der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), der Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und der Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Hinzu kommen Verrichtungen in den Bereichen der psychischen Erholung, geistigen Anregungen und der Kommunikation (hier insbesondere Sehen, Hören, Sprechen und Fähigkeit zu Interaktionen), während Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht eingeschlossen sind (ständige Rechtsprechung des BSG, zuletzt Urteil vom 24. November 2005, a.a.O., RdNr. 15 m.w.N.). Soweit die Anleitung, Überwachung und Bereitschaft bei den einzelnen Verrichtungen zu berücksichtigen ist, ist allerdings zu beachten, dass bei der Anrechnung von Bereitschaftszeiten grundsätzlich nur solche Zeiten berücksichtigt werden können, die zeitlich und örtlich denselben Einsatz erfordern wie körperliche Hilfe (BSG, Urteil vom 12. Februar 2003, B 9 SB 1/02 R, zitiert nach juris, RdNr. 20 m.w.N.). Dies setzt voraus, dass eine entsprechende einsatzbereite Anwesenheit und Aufmerksamkeit aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist (BSG, Urteil vom 12. Februar 2003, a.a.O., RdNr. 20 m.w.N.). Allgemeine Einschränkungen der Orientierungs- und der Kommunikationsfähigkeit machen nur gelegentliche Hilfeleistungen erforderlich und bleiben daher außer Betracht (BSG, Urteil vom 8. März 1995, 9 RVs 5/94, zitiert nach juris). Die in § 33 b Abs. 6 Satz 3 EStG vorausgesetzte Reihe von Verrichtungen kann erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erfordern (zuletzt BSG, Urteil vom 24. November 2005, a.a.O., m.w.N., RdNr. 16 f.).

In welchen Fällen regelmäßig von einem erheblichen Hilfebedarf in diesem Sinne ausgegangen werden kann, wird in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX - Ausgabe 2004) ausgeführt. Diese Anhaltspunkte, deren als zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides maßgebliche Ausgabe im Jahre 2004 vom damaligen Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegeben worden war, haben zwar keine Normqualität. Sie sind aber als vorweggenommene Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, deshalb normähnliche Auswirkungen haben und im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung in ihrer jeweiligen Fassung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden sind (vgl. Urteil vom 18. September 2003, B 9 SB 3/02 R = SozR 4-3250 § 69 Nr. 2, S. 10 ff.; vom 9. April 1997, 9 RVs 4/95 = SozR 3-3870 § 4 Nr.19, S. 77, jeweils m.w.N.). Nach Nr. 21 Abs. 6 der Anhaltspunkte kann im Allgemeinen und ohne nähere Prüfung bei einer Reihe schwerer Behinderungen, die aufgrund ihrer Art und besonderer Auswirkungen regelhaft Hilfeleistungen in erheblichem Umfang erfordern, von einem erheblichen Hilfebedarf ausgegangen werden. Das gilt stets bei Blindheit und hochgradiger Sehbehinderung, Querschnittslähmung und anderen Behinderungen, die auf Dauer und ständig auch innerhalb des Wohnraums die Benutzung eines Rollstuhls erfordern. Das gilt in der Regel auch bei Hirnschäden, Anfallsleiden, geistiger Behinderung und Psychosen, wenn diese Behinderungen allein einen Grad der Behinderung von 100 bedingen. Soweit keine Regelbeispiele eingreifen, ist es mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in der sozialen Pflegeversicherung sachgerecht, die Erheblichkeit des Hilfebedarfs in erster Linie nach dem täglichen Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen zu beurteilen (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. dazu und zum Nachfolgenden Urteil vom 24. November 2005, a.a.O., RdNr. 16 f. sowie Urteil vom 12. Februar 2003, a.a.O., RdNr. 15 f.). Da die Begriffe der Pflegebedürftigkeit nach §§ 14, 15 SGB XI und der Hilflosigkeit nach § 33 b EStG nicht völlig übereinstimmen, können die zeitlichen Grenzwerte der sozialen Pflegeversicherung zwar nicht unmittelbar übernommen werden, sie lassen sich jedoch als gewisse Orientierungspunkte nutzen. Nach diesem Maßstab ist nicht hilflos, wer nur in relativ geringem Umfang, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist. Daraus folgt aber nicht im Umkehrschluss, dass bei einem Überschreiten dieser Mindestgrenze in jedem Fall Hilflosigkeit zu bejahen ist. Aufgrund des soeben dargestellten erweiterten Maßstabs bei der Prüfung von Hilflosigkeit gegenüber dem Bereich der Grundpflege bei der Pflegeversicherung wird leichter ein größerer Zeitaufwand für fremde Betreuungsleistungen erreicht, sodass von einer Zwei-Stunden-Grenze auszugehen ist. Schließlich spricht für eine Grenzziehung bei einem Hilfeaufwand von zwei Stunden die Vorschrift des § 33 b EStG selbst, denn die Höhe des steuerlichen Pauschbetrages hebt sich außerordentlich von dem Pauschbetrag ab, der behinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von 100 zusteht. Dieser Begünstigungssprung ist nur bei zeitaufwändigen und deshalb entsprechend teuren Hilfeleistungen erklärbar und gerechtfertigt. Um allerdings auch den individuellen Verhältnissen Rechnung tragen zu können, ist aber nicht allein auf den zeitlichen Betreuungsaufwand abzustellen; vielmehr kommt auch den weiteren Umständen der Hilfeleistung, insbesondere deren wirtschaftlichem Wert, Bedeutung zu. Dieser Wert wird wesentlich durch die Zahl und die zeitliche (gegebenenfalls ungünstige) Verteilung der Verrichtungen bestimmt (BSG, Urteil vom 24. November 2005, a.a.O.).

Bei Kindern und Jugendlichen kann im Vergleich zu Erwachsenen mit derselben Erkrankung nach Nr. 22 der Anhaltspunkte (Ausgabe 2004, S. 28 ff.) selbst bei einem gleichbleibenden Krankheitsverlauf die Annahme des Merkzeichens "H" gerechtfertigt sein, weil nicht nur die Anleitung zu den in Nr. 21 Abs. 3 Sätze 1 und 2 genannten Verrichtungen, sondern auch die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung sowie die notwendige Überwachung zu den berücksichtigungsfähigen Hilfeleistungen gehört. Die Besonderheiten des Kindesalters führen dazu, dass zwischen dem Ausmaß der Behinderung und dem Umfang der wegen der Behinderung erforderlichen Hilfeleistungen nicht immer eine Korrelation besteht, sodass anders als bei Erwachsenen auch schon bei niedrigeren GdB/MdE-Werten Hilflosigkeit vorliegen kann. Bei einer geistigen Behinderung eines Kindes kommt nach Nr. 22 Abs. 4a der Anhaltspunkte (Ausgabe 2004, S. 29) auch dann in der Regel bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs Hilflosigkeit in Betracht, insbesondere wenn das Kind wegen gestörten Verhaltens ständiger Überwachung bedarf. Bei hirnorganischen Anfallsleiden ist nach Abs. 4c häufiger als bei Erwachsenen auch bei GdB-Werten unter 100 unter Berücksichtigung der Anfallsfrequenz und eventueller Verhaltensauffälligkeiten die Annahme von Hilflosigkeit gerechtfertigt. Ist Volljährigkeit eingetreten, sind dagegen die allgemeinen gesetzlichen Vorschriften also § 33 b Abs. 6 Satz 3 EStG und die allgemeinen Vorschriften der Anhaltspunkte zur HiIflosigkeit anzuwenden.

Ein solcher Sachverhalt war hier im Dezember 2004 nicht mehr gegeben. Bereits durch den altersbedingten Reifeprozess hat sich die Selbständigkeit des Klägers so weit erhöht, dass eine Hilflosigkeit nach der Vollendung des 16. Lebensjahrs nicht mehr angenommen werden kann und eine wesentliche Verringerung des Hilfebedarfs anzunehmen ist. Diese lebenstypische Zunahme an Selbständigkeit beim Kläger, bei dem keine schwerwiegende geistige Behinderung diagnostiziert worden ist, die auch im Erwachsenenalter noch hätte fortwirken können, wird in Abwägung der Gesamtbefunde auch bestätigt. Bereits auf orthopädischem Gebiet haben sich seine Befunde zwischen 1999 und dem Jahr 2005 nachweislich gebessert. Während zunächst deutliche Gangstörungen und die Notwendigkeit von Schienen für die Nacht berichtet wurden, entwickelte sich das Gangbild in der Folge positiv. So gab Prof. Dr. S. von der Universität L. über eine Untersuchung vom 14. Oktober 2004 an, dass der Kläger keine Beschwerden mehr angegeben hatte und kein Korsett mehr tragen musste. Das Gangbild wurde ohne orthopädische Hilfsmittel als flüssig bezeichnet. Dies bestätigt auch das MDK-Gutachten der Pflegekraft U. vom 30. August 2004, in dem eine uneingeschränkte Geh- und Stehfähigkeit und im Wohnbereich sogar über ein zügiges Gehen berichtet wurde. Die Griffarten waren dem Kläger uneingeschränkt möglich.

Die Zunahme an Selbständigkeit und damit verbundene Reduzierung des Pflegebedarfs zwischen 1999 und Dezember 2004 ist auch hinsichtlich der Auswirkungen der Harn- und Darmstörung belegt. Bereits im Reha-Bericht über einen stationären Aufenthalt in den Monaten September/Oktober 2001 berichtete die Fachärztin für Kinderheilkunde Privatdozentin Dr. K. über eine erfolgreiche Schulung des Klägers in der Selbstkatheterisierung. Diese Maßnahme hat der Kläger während der stationären Behandlung weitgehend selbständig fortsetzen können, wenn auch die Pflegeperson Überwachungsaufgaben in geringem Umfang übernehmen musste. Bestätigt werden die Abnahme des Pflegebedarfs und die damit verbundene Zunahme an Selbstständigkeit auch durch die beigezogene Pflegeakte. Hierbei kommt dem Pflegegutachten des MDK Sachsen-Anhalt der Pflegekraft U. vom 30. August 2004 (Untersuchung vom 11. August 2004) eine besondere Bedeutung zu. Nach Auffassung der MDK-Pflegegutachterin erreichte der Kläger nur noch einen Grundpflegebedarf von 56 Minuten. Der Pflegebedarf beschränkte sich im Kern auf Hilfe bei der Stuhlausscheidung, bei der Körperpflege im Bereich des Rückens und der Füße. Hilfeleistungen für die Ernährung waren dagegen nicht notwendig. Unübersehbar ist, dass der Pflegebedarf im Dezember 2004 und danach immer geringer geworden ist. Dies geht aus den weiteren MDK Gutachten vom 19. Oktober 2006 und vom 6. Februar 2007 hervor, wonach nicht einmal mehr die Voraussetzungen der Pflegestufe I erreicht wurden (Grundpflegebedarf von nur noch 4 bzw. 6 Minuten).

Auch die Stellungnahmen der Schule sprechen für eine zunehmende Selbständigkeit des Klägers. So haben sich die Noten für seine schulischen Leistungen zwischen Februar 2002 (vier Fünfen und eine sechs) und Juli 2005 (zwei Fünfen bei deutlich mehr Fächern) verbessert. Die Schulleiterin Hotovy hat berichtet, der Kläger sei ihm Kern uneingeschränkt selbständig und könne mit den Folgen seiner Erkrankung umgehen. Ein nennenswerter pflegerischer Hilfebedarf besteht demzufolge nicht.

Der Hinweis des Klägers auf das Gutachten von Dr. W. vom 26. Oktober 2006 führt zu keiner anderen Bewertung. Dieses Gutachten ist bereits von den Beweisfragen her problematisch, da vom Sozialgericht zu Unrecht nach einem aktuellen Gesundheitszustand des Klägers gefragt wurde, obwohl es rechtlich allein auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Juni 2006) ankommt. Danach eingetretene Verschlechterungen des Gesundheitszustandes wären für den Ausgang des Rechtsstreits unerheblich. Die Ausführungen der Sachverständigen zum Merkzeichen "H" beschränken sich auf nur vier Zeilen und enthalten Behauptungen ohne nähere Begründung. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Verrichtungen und insbesondere mit den Ergebnissen des MDK-Gutachten vom 30. August 2004 findet sich nicht. Demgegenüber hält der Senat das Sachverständigengutachten von Dr. W. vom 21. Januar 2011 für überzeugender. Diese Sachverständige hat sich mit den jeweiligen Verrichtungen und den Befunden eingehend auseinandergesetzt und keine Hinweise für grundlegende Fehler im MDK-Gutachten vom 30. August 2004 ermitteln können. Nach ihrer überzeugenden Bewertung haben sich zum maßgeblichen Zeitpunkt des 1. Dezember 2004 keine Hinweise für schwere Konzentrationsstörungen oder besondere Verhaltensauffälligkeiten bzw. eine gravierende geistige Behinderung ergeben, die eine ständige Hilfsbereitschaft von Dritten hätte erforderlich machen können. Dann aber waren die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R3811


Informationsstand: 29.02.2012