Urteil
Keine Zuerkennung des Merkzeichen H (Hilflosigkeit)
Gericht:
LSG Schleswig-Holstein 2. Senat
Aktenzeichen:
L 2 SB 16/12
Urteil vom:
10.11.2015
LSG Schleswig-Holstein 2. Senat
L 2 SB 16/12
10.11.2015
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 9. Januar 2012 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Die am. 1979 geborene Klägerin begehrt die Zuerkennung des Merkzeichens "H" (Hilflosigkeit).
Die Klägerin leidet seit dem frühesten Kindesalter an einer Störung des Harnentleerungssystems, welches bereits im September 1982 zur Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 80 geführt hat. Mittlerweile liegt ein Zustand nach Nierentransplantation mit künstlicher Harnableitung vor. Bereits mit Bescheid vom 17. September 2002 ist bei der Klägerin ein GdB von 100 anerkannt worden. Ebenfalls bereits seit dem Kleinkindalter liegt bei der Klägerin eine geistige Behinderung vor. Sie lebt in einer Einrichtung des betreuten Wohnens und arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Kostenträger dieser Maßnahmen ist der Kreis Pinneberg als örtlicher Sozialhilfeträger.
Nachdem eine Nierentransplantation bei ihr durchgeführt worden war, beantragte die Klägerin mit Antrag vom 20. Mai 2009 die Zuerkennung des Merkzeichens "H". Der Beklagte holte zur Aufklärung des Sachverhaltes einen Befundbericht des Nephrologischen Zentrums E ein, dem auch Unterlagen zur Nierentransplantation aus dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf beigefügt waren. Ferner zog der Beklagte noch ein Gutachten des Sachverständigen Dr. M bei, welches für das Amtsgericht Elmshorn im Zusammenhang mit der Bestellung der Betreuerin der Klägerin am 16. März 2007 erstellt worden war. Mit Bescheid vom 25. August 2009 lehnte der Beklagte die Zuerkennung des Merkzeichens "H" ab. Zur Begründung führte er aus, die Voraussetzungen dieses Merkzeichens lägen nicht vor. Die Klägerin bedürfe für eine Reihe von häufig und wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages keiner dauernden fremden Hilfe, auch nicht in Form einer Überwachung oder Anleitung.
Dagegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 1. September 2009. Im Widerspruchsverfahren zog der Beklagte ein durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nord für die Pflegeversicherung erstelltes Gutachten vom 5. Februar 2008 bei, in dem ein grundpflegerischer Hilfebedarf im Sinne der sozialen Pflegeversicherung nicht erkannt worden war. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 2010 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Mit der am 19. November 2009 beim Sozialgericht Itzehoe erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt. Sie hat vorgetragen, die Ablehnung des Merkzeichens "H" sei rechtswidrig und verletze sie in ihren Rechten. Infolge der Nierentransplantation sei die Folgebehandlung beim Nephrologen erforderlich. Dafür benötige sie Hilfe, da sie aufgrund der bestehenden geistigen Behinderung die dortigen Termine nicht selbstständig erreichen könne. Infolge der geistigen Behinderung sei sie orientierungslos und könne öffentliche Verkehrsmittel nicht alleine nutzen. Aufgrund der notwendigen Begleitungen zu den Nachsorgeuntersuchungen seien die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" gegeben. Sie benötige ständig Hilfe bzw. Anleitung in Hinblick auf die Körperhygiene. Sie müsse ständig an frische Kleidung erinnert werden. Zweimal täglich seien eine Kontrolle der Medikamentengabe sowie eine Kontrolle des Katheters erforderlich.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 25. August 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2009 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, ihr das Merkzeichens "H" zuzuerkennen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat vorgetragen, seines Erachtens seien auch unter Berücksichtigung des im Klageverfahren eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. H die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" nicht erfüllt. Unter Rückgriff auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) trägt er vor, da der Begriff der Hilfebedürftigkeit weitergehender sei als der der Pflegebedürftigkeit im Sinne der sozialen Pflegeversicherung, sei es naheliegend, von einer Zwei-Stunden-Grenze auszugehen, was dem Grundpflegeerfordernis für die Pflegestufe II der Pflegeversicherung entspreche. Der Sachverständige sei auf den zeitlichen Umfang der erforderlichen dauernden fremden Hilfe nicht eingegangen. Die Klägerin sei aber bei Ausführung von täglich wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens weitgehend selbstständig. Ergänzend hat der Beklagte auf eine gutachterliche Stellungnahme verwiesen, die der Arzt Dr. Ha im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens am 26. Juni 2011 erstellt hat. Darin hat dieser ausgeführt, der vom Sachverständigen festgestellte Umstand, wonach die Klägerin nicht in der Lage sei, Krankheitszeichen frühzeitig zu erkennen, sei kein Kriterium für die Zuerkennung des Merkzeichens "H".
Das Sozialgericht hat zur Aufklärung des Sachverhalts zunächst Befundberichte des Internisten Ma und des Nephrologischen Zentrums E sowie eine Auskunft der Lebenshilfe Pinneberg über die Tätigkeit der Klägerin in der dortigen Werkstatt für behinderte Menschen eingeholt. Ferner hat das Sozialgericht von dem Internisten Prof. Dr. H ein Gutachten eingeholt, welches dieser aufgrund einer ambulanten Untersuchung der Klägerin vom 3. Januar 2011 am 8. März 2011 erstattet hat. Der Sachverständige hat dabei ausgeführt, aus gutachterlicher Sicht bestehe kein Zweifel, dass die Klägerin allein auf sich gestellt die umfassenden Tätigkeiten (Hilfsmittel-Selbstversorgung, Beurteilung des Stomas, regelmäßige Arztbesuche) ohne Unterstützung nicht bewältigen könne. Sie bedürfe nach erfolgreicher Nierentransplantation bei geistiger Behinderung und Verhaltensstörungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz dauernd fremder Hilfe. Bezüglich der täglichen Gegebenheiten lebe die Klägerin gegenwartsbezogen. Als Organtransplantierte sei sie nicht in der Lage, Krankheitszeichen frühzeitig zu erkennen. Wegen der Verhaltensstörung müssten Hilfsmöglichkeiten stets angeboten und in Anspruch genommen werden. Aus gutachterlicher Sicht werde empfohlen, der Klägerin das Merkzeichen "H" zuzuerkennen. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 12. Mai 2011 hat der Sachverständige ausgeführt, die Klägerin bedürfe täglicher Betreuung und Supervision. Gewährleistet sein müsse die medikamentöse Therapie, insbesondere die Einnahme der Immunsuppression. Es müssten täglich Krankheitszeichen hinterfragt bzw. erkannt werden. Der künstliche Blasenausgang müsse inspiziert und bewertet werden. Das Verhalten und die Verhaltensstörungen müssten bezüglich der Intensität und der notwendigen Intervention auch kurzfristig betreut werden können. Der dafür erforderliche Zeitaufwand betrage aus gutachterlicher Sicht zwischen einer und sechs Stunden täglich.
Mit Urteil vom 9. Januar 2012 hat das Sozialgericht Itzehoe den Beklagten zur Zuerkennung des Merkzeichens "H" verpflichtet. Zur Begründung hat aus ausgeführt, die Klägerin benötige beim Duschen und vor allem bei der mehrmals täglich erforderlichen intensiven Pflege ihres künstlichen Blasenausgangs fremder Hilfe. Sie sei jedoch aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage, den Zustand des Blasenausgangs und die Konsistenz des Urins auf Infektionszeichen selbst zu beurteilen. Wiederkehrende Entzündungen der Blase stellten jedoch den Transplantationserfolg in Frage, denn aufsteigende Infektionen könnten zu einer Funktionseinbuße führen bzw. den Verlust der transplantierten Niere nach sich ziehen. Es sei vorliegend für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" ausreichend, dass die Klägerin nach erfolgter Nierentransplantation bei geistiger Behinderung und Verhaltensstörungen in einem die gesamte Lebensführung prägenden Lebensbereich dauernder fremder Hilfe bedürfe. Diese Hilfe sei auch zur Sicherung der persönlichen Existenz der Klägerin erforderlich. Bei der Beurteilung der Erheblichkeit des Umfangs des Hilfebedarfs sei keine starre Orientierung des Zeitaufwandes vorzunehmen. Um den individuellen Verhältnissen hinreichend Rechnung zu tragen, erscheine es geboten, nicht nur auf den zeitlichen Betreuungsaufwand, sondern auch die weiteren Umstände der Hilfeleistung, insbesondere ihren wirtschaftlichen Wert, abzustellen. Dieser sei vorliegend besonders hoch, so dass es gerechtfertigt sei, Hilflosigkeit bereits bei einem täglichen Zeitaufwand anzunehmen, der eine Pflegebedürftigkeit nicht nach sich ziehe. Es sei ausreichend, dass die Klägerin in einem die gesamte Lebensführung prägenden Bereich dauernd fremder Hilfe bedürfe. Diesbezüglich hat sich das Sozialgericht auf ein Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts und des Bundessozialgericht gestützt (L 6 SB 20/09 vom 20. September 2010 bzw. B 9 RVs 1/91 vom 23. Juni 1993).
Gegen das ihm am 5. April 2012 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten. Zur Begründung seiner Berufung trägt der Beklagte vor, die Voraussetzungen des Merkzeichens "H" lägen bei der Klägerin nicht vor. Deren Hilfebedarf beschränke sich im Wesentlichen auf die Hilfe beim Duschen und die Pflege des künstlichen Blasenausgangs sowie der Einnahme der Medikamente. Die Pflege des künstlichen Blasenausgangs diene der Verhinderung von Infektionen. Sie und die Einnahme der Medikamente gehörten zur Behandlungspflege, die dem Bereich der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) zuzuordnen seien. Soweit das Sozialgericht sich auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Sächsischen Landessozialgerichts gestützt habe, lägen dem keine vergleichbaren Fälle zugrunde. Es reiche nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" nicht aus, wenn die betreffenden Menschen nur bei einzelnen Verrichtungen der Hilfe bedürften, selbst wenn diese lebensnotwendig seien und im täglichen Lebensablauf wiederholt vorkämen. Dazu zähle auch die einfache Wund- oder Heilbehandlung sowie die Hilfe bei der Heimdialyse. Die Klägerin sollte auch in der Lage sein, ein undichtes Urostoma zu bemerken, da dies zu vermehrter Nässe der Haut führe. Zudem sei es nicht so, dass ein undichtes Stoma zu einer sofortigen Gefährdung des Transplantationserfolges führe, denn die Urinproduktion sei weiterhin gegeben. Die Klägerin sei insgesamt sehr selbstständig und gehöre nicht zu dem in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Personenkreis, bei dem ständige Hilfen für eine Reihe von häufig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz zu erbringen seien, wobei für den Umfang dieser Verrichtungen wenigstens zwei Stunden täglich zu fordern seien.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 9. Januar 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, sie benötige Hilfe beim Duschen und mehrmals täglich bei der intensiven Pflege ihres künstlichen Blasenausgangs. Die tägliche Überwachung sei erforderlich, um Entzündungen zu verhindern, da ansonsten der Transplantationserfolg gefährdet würde. Es sei eine ständige Nachtbereitschaft erforderlich, zudem ein tägliches Nachfragen von Krankheitsanzeichen.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes aus sozialmedizinischer Sicht ein Gutachten der Pflegefachwirtin Mb P eingeholt, welches diese auf Grundlage einer ambulanten Begutachtung der Klägerin am 21. Februar 2013 erstattet hat. Die Sachverständige bestätigt das Vorliegen einer langjährig vorhandenen geistigen Behinderung. Zu diesem Zweck hat sie mehrere Testverfahren mit der Klägerin durchgeführt, deren Ergebnisse auf eine Hirnleistungsminderung bzw. eine schwere bis schwerste kognitive Einschränkung hindeuteten. Herausgearbeitet hat die Sachverständige auch eine Aufstellung der Arztbesuche der Klägerin über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr. Ein mindestens wöchentlicher Rhythmus konnte dabei nicht erkannt werden. Zum Teil lagen mehrere Monate zwischen den einzelnen Arztbesuchen. Die Sachverständige hat einen Hilfebedarf der Klägerin im zeitlichen Umfang von durchschnittlich 101 Minuten täglich angenommen. Dabei entfielen neun Minuten auf die Hilfe bei der Verrichtung der Notdurft. Fünf Minuten hat die Sachverständige für die Kontrolle der Urostomaplatte auf Dichtheit bzw. die notwendige Auswechslung der Platte veranschlagt. Zwei Minuten entfielen auf die Sicherstellung der gebotenen Hygiene, insbesondere der Händedesinfektion zur Vorbeugung von Harnwegsinfekten und weitere zwei Minuten auf die Beobachtung des Urins und der Körpertemperatur sowie Fragen nach Schmerzen. Einen fünfminütigen Hilfebedarf hat die Sachverständige im Bereich der Ernährung erkannt. Die Klägerin benötige Ernährungsberatung und das Beaufsichtigen ihres Essverhaltens beim Frühstück und beim Abendbrot, um Normalgewicht zu erreichen und das Immunsystem zu unterstützen. Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistigen Anregung und Kommunikation seien mit 15 Minuten zu veranschlagen. Ferner sei eine 24-stündige Bereitschaft erforderlich. Wenn das Urostoma undicht werde, sei die Klägerin nicht in der Lage, mit der nötigen Sorgfalt und Hygiene zu handeln. Auf Anzeichen einer Infektion müsse unverzüglich reagiert werden, um den Transplantationserfolg nicht zu gefährden. Für den Notfall sei eine 24-stündige einsatzbereite Anwesenheit eines Mitarbeiters erforderlich. Unter Annahme, dass dies für alle 20 Bewohner des Hauses erforderlich sei, ergäben sich 72 Minuten pro Bewohner.
In einer mündlichen Verhandlung vom 23. September 2014 hat der Senat die Sachverständige P ergänzend zu ihrem Gutachten vom 21. Februar 2013 befragt.
Im Folgenden hat der Senat von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. L ein Gutachten eingeholt, welches diese am 10. August 2015 aufgrund ambulanter Untersuchungen der Klägerin am 17. Juni 2015 und am 8. Juli 2015 erstattet hat. Darin hat sie bei der Klägerin auf Basis der testpsychologischen Ermittlung eines Intelligenzquotienten von 48 eine mittelgradige Intelligenzminderung festgestellt. Diese gehe allerdings mit einer relativ günstigen Persönlichkeitsentwicklung und sozialer Anpassungsmöglichkeit einher und sei mit einem GdB von 90 zu bewerten. Ein GdB von 100 allein für die Intelligenzminderung ergebe sich nicht. Der Zustand nach Nierentransplantation sei mit einem GdB von 60 zu bewerten. Zusätzlich sei die Notwendigkeit der künstlichen Harnableitung nach außen mit einem GdB von 50 zu bewerten. Insgesamt ergebe sich ein GdB von 100.
Ergänzend wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
R/R6990
Informationsstand: 07.09.2016