1. Der Bescheid vom 16.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2010 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Reduzierung des
GdB sowie den Entzug des Merkzeichens H.
Bei dem 1990 geborenen Kläger wurde mit Bescheid vom 23.03.1993 ein
GdB von 100 sowie die Merkzeichen G, aG, B und H festgestellt. Dabei wurden eine Muskelschwäche und eine Entwicklungsverzögerung berücksichtigt. Seit Geburt an leidet der Kläger am sogenannten Prader-Labhart-Willi-Syndrom (im Folgenden Prader-Willi-Syndrom). Dabei handelt es sich um eine komplexe Störung, die körperliche, stoffwechselbezogene und geistige Symptome beinhaltet.
Mit Bescheid vom 27.07.2000 wurde das Merkzeichen aG entzogen. Als Funktionsbeeinträchtigung berücksichtigt der Bescheid vom 27.07.2000 ausschließlich das Prader-Willi-Syndrom.
Mit Beschluss vom 09.01.2009 wurde der Vater des Klägers zum Betreuer bestellt. Sein Aufgabenkreis umfasst die Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung und Vermögenssorge.
Im April 2009 zog der Kläger, der zuvor bei seinen Eltern gelebt hatte, in das Heim "Haus K" in N-Stadt. Dabei handelt es um eine spezielle Einrichtung für Menschen, welche am Prader-Willi-Syndrom erkrankt sind. Vorangegangen waren mehrere strafrechtliche Auffälligkeiten des Klägers, die ihren Hintergrund in der Krankheit finden. Namentlich wurde der Kläger mehrfach wegen Diebstahls straffällig, weil er sich Essen beschaffen wollte. Zudem kam es sowohl in der Schule als auch zu Hause zu Wutausbrüchen, die es den Eltern nicht mehr ermöglicht haben, den Kläger allein zu betreuen.
Im Dezember 2009 leitete der Beklagte ein Überprüfungsverfahren ein. Die Übersendung etwaiger Pflegebescheide wurde gefordert. Ein Befundbericht der behandelnden Ärztin für Allgemeinmedizin D. wurde beigezogen.
Auf der Basis dieser Ermittlungen hörte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 21.01.2010 zu einer beabsichtigten Reduzierung des
GdB auf 70 sowie zum Entzug des Merkzeichens H an. Die Merkzeichen G und B könnten hingegen weiter festgestellt bleiben.
Mit Schreiben vom 05.03.2010 nahm der Prozessbevollmächtigte des Klägers ausführlich Stellung. Er betonte, dass der Entzug des Merkzeichens H nicht in Betracht komme. Im Hinblick darauf, dass das Prader-Willi-Syndrom genetische Ursachen habe, sei eine wesentliche, substantielle Verbesserung nicht möglich. Das gestörte Essverhalten des Klägers führe bei fehlender Beaufsichtigung dazu, dass der Kläger sich zu Tode esse. Es handele sich um einen Esstrieb, dem nur durch eine entsprechende Aufsicht und Hilfe begegnet werden könnte.
Ohne weitere Ermittlungen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 16.03.2010 in der Person des Klägers einen
GdB von 70 sowie die Merkzeichen G und B fest. Mithin wurde der
GdB reduziert und das Merkzeichen H entzogen. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass in den tatsächlichen Verhältnissen eine Änderung eingetreten sei. Namentlich habe sich der Gesundheitszustand des Klägers dergestalt verbessert, dass der Kläger in fast allen Lebensbereichen zumindest teilselbstständig sei. Eine konkrete Beschreibung der gesundheitlichen Besserung ist dem Schreiben nicht zu entnehmen.
Dagegen erhob der Kläger mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 14.04.2010 Widerspruch. Auf sechs Seiten stellte der Prozessbevollmächtigte nochmals die Situation des Klägers dar und begründete, warum weiterhin die Voraussetzungen für das Merkzeichen H und einen
GdB von 100 vorlägen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2010 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers ohne weitere Ermittlungen zurück. Zur Begründung wiederholte der Beklagte, dass in Bezug auf das Prader-Willi-Syndrom eine wesentliche Besserung nachgewiesen sei. Diese ergebe sich aus dem Befundbericht der behandelnden Ärztin für Allgemeinmedizin D. sowie einem Bericht der X.schule C-Stadt. Schließlich ergebe sich aus den Bescheiden der Pflegekasse, dass ein Pflegebedarf "nicht objektiviert werden konnte".
Eine Beschreibung der konkreten gesundheitlichen Verbesserungen, in dem Sinne, dass ein Vergleich vom Zustand 2000 zu 2009 vorgenommen wurde, ist dem Widerspruchsbescheid ebenso wenig zu entnehmen, wie eine konkrete Analyse derjenigen Tätigkeiten, für die der Kläger im täglichen Leben Hilfe benötigt, respektive der Überwachung bedarf. Der Widerspruchsbescheid beschränkt sich darauf, festzustellen, dass die Überwachung des Essverhaltens allein die Zuerkennung des Merkzeichens H nicht rechtfertigen könne.
Am 02.06.2010 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht in Kassel erhoben, mit der er seinen Anspruch weiterverfolgt. Er vertieft sein Vorbringen aus dem Klageverfahren.
Der Kläger beantragt:
Den Bescheid vom 16.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2010 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt:
Die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält die Reduzierung des
GdB auf 70 sowie den Entzug des Merkzeichens H weiterhin für rechtmäßig.
Die Kammer hat über die beim Kläger bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichtes der behandelnden Fachärztin für Allgemeinmedizin D. vom 17.11.2011. Das Gericht hat weiterhin das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß
SGB XI des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in H-Stadt vom 16.01.2009 beigezogen. Weiterhin wurden die Entwicklungsberichte des Haus K - der Einrichtung, in der sich der Kläger seit 2009 befindet - vom 05.07.2010, 10.03.2011 und 24.01.2012 beigezogen. Nach Auswertung dieser Unterlagen verblieb der Beklagte - beraten durch Medizinaldirektor W. - bei seiner Ansicht, dass die Reduzierung des
GdB auf 70 sowie der Entzug des Merkzeichens H gerechtfertigt seien.
Der Kläger sah sich durch die beigezogenen Unterlagen in seiner Ansicht bestätigt.
Einer Anregung des Gerichts, sich in der Einrichtung ein Bild von den konkreten Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu machen, konnte sich der Beklagte nicht anschließen. Unter Rekurs auf das Pflegegutachten, welches einen Zeitaufwand bei der Grundpflege von 5 Minuten pro Tag vorsieht, wies der Beklagte darauf hin, dass am Maßstab der Versorgungsmedizinverordnung, welche mit Abschluss des 18. Lebensjahres es zwingend vorsehe, dass die Voraussetzungen des Merkzeichen H zu überprüfen seien und ab diesem Zeitpunkt am Maßstab der für Erwachsenen geltenden Grundsätze zu bewerten seien, komme die Zuerkennung des Merkzeichens über das 18. Lebensjahr im vorliegenden Verfahren nicht in Betracht.
Mit Beweisbeschluss vom 04.07.2012 hat die Kammer den Facharzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für physikalische und rehabilitative Medizin,
Dr. I. gemäß § 106
SGG mit der Begutachtung des Klägers beauftragt.
Dr. I. stellte in seinem Gutachten, welches er am 12.10.2012 nach einer Untersuchung des Klägers in häuslicher Umgebung am 07.09.2012 vorlegte, ein ausgeprägtes Prader-Willi-Syndrom, ein Hautleiden mit allergischer Reaktion, einen Hodenhochstand sowie ein Zustand nach durchgeführter Kniegelenksoperation fest. Die Gesundheitsstörungen
bzw. die dadurch ausgelösten funktionellen Beeinträchtigungen führen nach Einschätzung des Sachverständigen zu einer deutlichen Einschränkung in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und sind von dauernder Natur. Sie bestehen nach Auffassung des Sachverständigen im gesamten klagerelevanten Zeitraum.
Die Funktionsstörungen des ausgeprägten Prader-Willi-Syndroms zeigen sich insbesondere durch:
- erhebliche kognitive Beeinträchtigungen,
- fehlende Kritikfähigkeit,
- fehlende emotionale Selbstkontrolle mit verbaler und körperlicher Aggressivität,
- Unfähigkeit zur Strukturierung des Tagesablaufes,
- Unfähigkeit zur regelmäßigen Durchführung der Aktivitäten des täglichen Lebens ohne Strukturierung oder Anleitung,
- unrealistische Lebensplanung und -erwartung,
- fehlende Introspektionsfähigkeit,
- Dyskalkulie.
Der Sachverständige hält für die Folgen, welche sich aus dem Prader-Willi-Syndrom ergeben einen Einzel-
GdB von 100 für angemessen. Die weiteren von ihm festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen ergeben keinen relevanten Einzel-
GdB.
Der Sachverständige hält den Kläger auch für hilflos. Er sei bei der Verrichtung der Aktivitäten des täglichen Lebens regelmäßig und ständig, als Folge der kognitiven Beeinträchtigungen, auf fremde Hilfe angewiesen. Der Kläger benötige bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremde Hilfe. Dabei ist die Hilfestellung in Form der Überwachung und Anleitung erforderlich. Daneben müsse auf Grund der erheblichen kognitiven Beeinträchtigungen und auch der emotionalen Instabilität eine ständige Bereitschaft zur Hilfe vorhanden sein. Der Kläger bedürfe insbesondere in den Bereichen der Körperpflege, Ernährung, Mobilität, hauswirtschaftlichen Versorgung und im Umgang von finanziellen Mitteln, Entscheidungen zur Lebensplanung, Umgang mit Ämtern und Behörden der ständigen Hilfe und Überwachung.
Weiteren Ermittlungsbedarf auf anderen medizinischen Fachgebieten sieht der Sachverständige nicht.
Mit Zuleitung des gerichtlichen Sachverständigengutachtens hat die Kammer angeregt, den Kläger klaglos zu stellen.
Beraten durch den Medizinaldirektor W. blieb der Beklagte bei seinem Klageabweisungsantrag. Er ist insbesondere der Auffassung, dass sich aus dem Gutachten des Sachverständigen die Voraussetzungen des Merkzeichens H nicht ergeben könnten. Im Hinblick auf die Ernährung, die Mobilität und die Hygiene sowie des An- und Auskleidens ergebe sich aus dem Gutachten "im Wesentlichen ein Normalbefund". Auch der körperliche Untersuchungsbefund gebe einen "altersentsprechenden Normalstatus" wieder. Insoweit bestünde Übereinstimmung mit dem MDK-Gutachten.
Die Vorgaben der Versorgungsmedizinverordnung für die Zuerkennung des Merkzeichens H sehen häufige und regelmäßige Hilfe bei wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages vor; diese Hilfe müsse auch erheblich sein, die Notwendigkeit bei einzelnen Verrichtungen reichte hierfür nicht aus. Aus den Beschreibungen des Gutachters sei im Wesentlichen ein "Normalbefund" zu entnehmen, welcher allein das Merkzeichen H nicht begründe.
Am Ende seiner medizinischen Stellungnahme empfahl der ärztliche Berater des Beklagten, für den Fall eines stattgebenden Urteils, Berufung einzulegen.
Mit Verfügung vom 09.11.2012 wurde dem gerichtlichen Sachverständigen,
Dr. I., die Stellungnahme des ärztlichen Beraters des Beklagten zur ergänzenden Stellungnahme zugeleitet. Ferner wurde der Beklagte darauf hingewiesen, dass der medizinische Berater seine Rolle im sozialgerichtlichen Verfahren verkannt habe. Weiterhin wies die Kammer auf erhebliche Ermittlungsdefizite im Verwaltungsverfahren hin. Die Stellungnahme des Medizinaldirektors W., zum Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen
Dr. I., sei auf drei Seiten weitgehend floskelhaft und lasse eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Feststellungen des Sachverständigen vermissen.
Mit seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.01.2012 (zutreffend wohl 2013) bekräftigte der Sachverständige
Dr. I. seine im Gutachten vorgenommenen Festlegungen. Der Sachverständige betonte, dass nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen das Merkzeichen H auch dann zuzuerkennen sei, wenn ohne eine entsprechende, kontinuierliche Anleitung, Betreuung und Überwachung Maßnahmen zur Sicherung der persönlichen Existenz, insbesondere der Ernährung, der Mobilität, der hauswirtschaftlichen Versorgung und der Körperhygiene, unterlassen werden würden.
In seiner Stellungnahme vom 11.02.2013 bekräftigte der beratende Arzt des Beklagten, Medizinalrat
Dr. W., seine Ansicht, wonach die Zuerkennung des Merkzeichens H nicht in Betracht komme. In seiner Stellungnahme geht er davon aus, dass der Sachverständige zwar eine Situation schildere, welche die Zuerkennung des Merkzeichens rechtfertige, dies ließe sich aber mit den Entwicklungsberichten - die der Beklagte bis dato nicht ausgewertet hatte - nicht in Einklang bringen. Im Ergebnis zweifelt der medizinische Berater insoweit die vom Sachverständigen vorgetragenen Auswirkungen an. Am Ende seiner Stellungnahme empfahl der medizinische Berater erneut die Einlegung einer Berufung im Falle eines positiven Urteils.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Akten Bezug genommen.
Die zulässige Klage ist auch begründet.
Der angegriffene Bescheid vom 16.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Beklagte war nicht berechtigt, für die Zukunft das Merkzeichen H zu entziehen (dazu sogleich unter I.) und den
GdB auf 70 zu reduzieren (dazu sogleich unter II.).
I. Im für die vorliegende Entscheidung maßgeblichen Zeitraum ab 03.05.2010 lagen die Voraussetzungen für die Feststellungen des Merkzeichens H beim Kläger unverändert vor. Der Beklagte war nach seiner bindenden Entscheidung vom 27.07.2000 nur unter den Voraussetzungen des § 48
SGB X berechtigt, die Behinderungen neu festzustellen.
Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung auf die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.
Insoweit gilt es zu beachten, dass die Zuerkennung des Merkzeichens H beim Kläger mit Erreichen der Volljährigkeit anderen Kriterien unterliegt als zuvor. Insoweit ist zunächst eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen eingetreten. Die Kammer lässt es an dieser Stelle offen, ob die besondere gesundheitliche Situation des Klägers es rechtfertigen kann, auch weiterhin bei ihm die Vorgaben für Minderjährige zu berücksichtigen, weil selbst auf der Basis der Vorgaben der Zuerkennung des Merkzeichens H für Erwachsene, der Beklagte nicht berechtigt war das Merkzeichen H zu entziehen.
Der Begriff der Hilflosigkeit ist definiert in
§ 145 Abs. 1 SGB IX sowie in §§ 33a, b EStG. Eine Person ist danach hilflos, wenn sie in Folge von Gesundheitsstörungen nicht nur vorübergehend für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Bei den gemäß § 33b
Abs. 6 EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich neben dem auch von der Pflegeversicherung erfassten Bereich der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) um Maßnahmen der psychischen Erholung, geistigen Anregung und Kommunikation. Die in § 33b EStG tatbestandlich vorausgesetzte "Reihe von Verrichtungen" ist regelmäßig erst dann gegeben, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichen Umfang erforderlich machen, wobei sich die Erheblichkeit an den Verhältnissen der dem Beschädigten nur noch mit fremder Hilfe möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann, orientieren (
LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.10.2012 - L 13 SB 90/11, juris, Rn. 25,
m.w.N.).
Der Kläger ist unter Berücksichtigung der vorgenannten rechtlichen Vorgaben entsprechend den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen
Dr. I. hilflos, weil er bei einer Reihe von Verrichtungen Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung bedarf. Der Sachverständige hat überzeugend nachgewiesen, dass der Kläger sowohl im Bereich der Körperpflege als auch der Mobilität der ständigen Beaufsichtigung und Anleitung bedarf. Ferner hat der Sachverständige überzeugend dargelegt, dass es insbesondere bei der Ernährung der ständigen Überwachung bedarf. Mit dem Sozialgericht Mainz (Urt. v. 08.09.2011 - S 8 SB 457/08, juris, Rn. 53) geht die Kammer davon aus, dass in Bezug auf die Nahrungsaufnahme auch die Vermeidung einer ungezügelten und hierdurch gesundheitsgefährdenden Nahrungsaufnahme zu fassen ist. Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen sind in sich schlüssig, widerspruchsfrei und überzeugend, die medizinische Beurteilung wird in dem vorgelegten Gutachten nach eingehender Befunderhebung mit nachvollziehbarer und einleuchtender Begründung aus dem gestellten Diagnosen abgeleitet und steht - entgegen der Ansicht des Beklagten - auch im Einklang mit den übrigen Befundunterlagen, insbesondere den vorliegenden Entwicklungsberichten des Heimes K. Exemplarisch seien insoweit nur einige Feststellungen aus dem Entwicklungsbericht vom 24.01.2012 (Bl. 132
ff. der Akte) zitiert:
"Nach Beendigung dieser Partnerschaft verfiel er in heftige Krisen mit anfänglichen aggressiven Verhalten und starker Weglauftendenz mit späteren Rückzug und zeitweiser Nahrungsverweigerung. Es hat sich gezeigt, dass es Herrn A. ohne Hilfestellung nicht möglich ist Beziehungen einzugehen, zu führen oder zu beenden. In diesen Bereich benötigt er einen sehr großen Bedarf an pädagogischer und psychologischer Betreuung.
Sehr große Schwierigkeiten hat er mit seinem Zeitmanagement. Es bereitet ihm in allen Bereichen nach wie vor sehr große Probleme und begleitet ihn häufig über den ganzen Tag. Es hat sich gezeigt, wie wichtig für A. eine sichere Struktur innerhalb des Hauses sowie genauer Handlungsabläufe in allen Bereichen des Lebens sind. Gemeinsame Planungen sind für seine Orientierung genauso wichtig wie ausführliche Gespräche.
In den unterschiedlichsten Lebensbereichen gibt sich Herr A. nach wie vor phantasievoll und schlüpft in andere Rollen oder Personen. In diesen Situationen zeigt sich ein äußerst zwanghaftes Verhalten und zeigt ein eigenes Meinungs- und Denksystem von dem er sich nicht abbringen lässt. Herr A. hat eine unrealistische Selbsteinschätzung und benötigt zwanghaft seine genauen Abläufe. Sehr wichtig sind aus diesem Grund regelmäßige individuelle unterstützende Gespräche und psychologische Betreuung.
Der Drang zur Nahrungsaufnahme führt zu starker Unruhe, ständiger Beschäftigung mit dem Essen und der Essenssuche bis hin zum Stehlen von Nahrungsmitteln und aggressiven Beschaffungsverhalten.
Die Kontrolle der Nahrungsquellen muss daher von außen geregelt werden und absolut umfassend sein.
Die Zeitpläne, die wir gemeinsam mit A. erarbeitet haben, mussten im vergangenen Jahr mehrfach geändert werden, da er nicht in der Lage war sich auf Änderungen einzustellen.
Herr A. hat immer noch keinerlei Gefühl für Ordnung und Sauberkeit. Auf Ermahnungen, Hilfestellungen, Anregungen zur Zimmerordnung und -gestaltung reagiert er lange Zeit nur mit aggressiver Ablehnung. Die Handlungsplanung bereitet ihm nach wie vor große Probleme. Die Strukturhilfen, die gemeinsam mit Herrn A. erarbeitet wurden, mussten bei jeder Zimmerreinigung neu erklärt werden.
Noch immer muss er auf eine witterungsgerechte Kleidung aufmerksam gemacht werden. Das Temperaturempfinden von Herrn A. ist geschwächt und es fällt immer schwer, die dementsprechende Kleidung zu wählen.
Seit Januar 2012 führt Herr A. seine Wäschepflege wieder selbstständig durch. Er versucht sich an zuvor getroffene Absprachen zu halten. Nach dem Waschen und Trocknen der Wäsche bügelt Herr A. seine Wäsche unter Aufsicht im Gruppenbad. Auch hier sind klare Ansagen und genaue Abläufe wichtig, damit er sich zeitlich nicht verliert."
Wie der Beklagte und insbesondere der beratende Arzt, Medizinaldirektor W., aus diesen Feststellungen und unter Berücksichtigung der Äußerungen des Sachverständigen,
Dr. I., auf einen "im Wesentlichen Normalbefund" und einen "altersentsprechenden Normalzustand" im Hinblick auf die körperliche Entwicklung kommen kann, ist für das Gericht schlechterdings unerfindlich. Die Voraussetzungen des Merkzeichens H liegen im Hinblick auf die ständige Überwachung und Anleitung für eine Reihe von Verrichtungen vor. Die vom Beklagten vorgenommenen Ermittlungen rechtfertigen offensichtlich keinen Entzug des Merkzeichens. Insbesondere liegt keine Veränderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit dem zuletzt bindend gewordenen Bescheid aus 2000 vor, wie es der hier streitgegenständliche Bescheid vom 16.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2010 unterstellt. Aber auch unter Beachtung der Veränderungen in rechtlicher Hinsicht, mit Blick auf Erreichen der Volljährigkeit, lässt sich eine Aberkennung des Merkzeichens H, wie vorstehend gezeigt, nicht rechtfertigen.
II. Unter Beachtung des Vorstehenden, insbesondere darauf, dass eine Verbesserung der gesundheitlichen Situation nicht eingetreten ist, vermag die Kammer auch nicht zu erkennen, dass eine Reduzierung des Gesamt-GdBs von 100 auf 70 angezeigt wäre. Der Sachverständige
Dr. I. hat auch insoweit überzeugend dargelegt, dass weiterhin ein
GdB von 100 anzuerkennen ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193
Abs. 1
S. 1
SGG und folgt im Ergebnis in der Hauptsache. Gem. § 183
S. 1
SGG ist das Verfahren für den Kläger Gerichtskostenfrei.