Urteil
Keine Zuerkennung des Merkzeichen H (Hilflosigkeit)

Gericht:

LSG Schleswig-Holstein 2. Senat


Aktenzeichen:

L 2 SB 16/12


Urteil vom:

10.11.2015


Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 9. Januar 2012 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die am. 1979 geborene Klägerin begehrt die Zuerkennung des Merkzeichens "H" (Hilflosigkeit).

Die Klägerin leidet seit dem frühesten Kindesalter an einer Störung des Harnentleerungssystems, welches bereits im September 1982 zur Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 80 geführt hat. Mittlerweile liegt ein Zustand nach Nierentransplantation mit künstlicher Harnableitung vor. Bereits mit Bescheid vom 17. September 2002 ist bei der Klägerin ein GdB von 100 anerkannt worden. Ebenfalls bereits seit dem Kleinkindalter liegt bei der Klägerin eine geistige Behinderung vor. Sie lebt in einer Einrichtung des betreuten Wohnens und arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Kostenträger dieser Maßnahmen ist der Kreis Pinneberg als örtlicher Sozialhilfeträger.

Nachdem eine Nierentransplantation bei ihr durchgeführt worden war, beantragte die Klägerin mit Antrag vom 20. Mai 2009 die Zuerkennung des Merkzeichens "H". Der Beklagte holte zur Aufklärung des Sachverhaltes einen Befundbericht des Nephrologischen Zentrums E ein, dem auch Unterlagen zur Nierentransplantation aus dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf beigefügt waren. Ferner zog der Beklagte noch ein Gutachten des Sachverständigen Dr. M bei, welches für das Amtsgericht Elmshorn im Zusammenhang mit der Bestellung der Betreuerin der Klägerin am 16. März 2007 erstellt worden war. Mit Bescheid vom 25. August 2009 lehnte der Beklagte die Zuerkennung des Merkzeichens "H" ab. Zur Begründung führte er aus, die Voraussetzungen dieses Merkzeichens lägen nicht vor. Die Klägerin bedürfe für eine Reihe von häufig und wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages keiner dauernden fremden Hilfe, auch nicht in Form einer Überwachung oder Anleitung.

Dagegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 1. September 2009. Im Widerspruchsverfahren zog der Beklagte ein durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nord für die Pflegeversicherung erstelltes Gutachten vom 5. Februar 2008 bei, in dem ein grundpflegerischer Hilfebedarf im Sinne der sozialen Pflegeversicherung nicht erkannt worden war. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 2010 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit der am 19. November 2009 beim Sozialgericht Itzehoe erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt. Sie hat vorgetragen, die Ablehnung des Merkzeichens "H" sei rechtswidrig und verletze sie in ihren Rechten. Infolge der Nierentransplantation sei die Folgebehandlung beim Nephrologen erforderlich. Dafür benötige sie Hilfe, da sie aufgrund der bestehenden geistigen Behinderung die dortigen Termine nicht selbstständig erreichen könne. Infolge der geistigen Behinderung sei sie orientierungslos und könne öffentliche Verkehrsmittel nicht alleine nutzen. Aufgrund der notwendigen Begleitungen zu den Nachsorgeuntersuchungen seien die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" gegeben. Sie benötige ständig Hilfe bzw. Anleitung in Hinblick auf die Körperhygiene. Sie müsse ständig an frische Kleidung erinnert werden. Zweimal täglich seien eine Kontrolle der Medikamentengabe sowie eine Kontrolle des Katheters erforderlich.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 25. August 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2009 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, ihr das Merkzeichens "H" zuzuerkennen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat vorgetragen, seines Erachtens seien auch unter Berücksichtigung des im Klageverfahren eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. H die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" nicht erfüllt. Unter Rückgriff auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) trägt er vor, da der Begriff der Hilfebedürftigkeit weitergehender sei als der der Pflegebedürftigkeit im Sinne der sozialen Pflegeversicherung, sei es naheliegend, von einer Zwei-Stunden-Grenze auszugehen, was dem Grundpflegeerfordernis für die Pflegestufe II der Pflegeversicherung entspreche. Der Sachverständige sei auf den zeitlichen Umfang der erforderlichen dauernden fremden Hilfe nicht eingegangen. Die Klägerin sei aber bei Ausführung von täglich wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens weitgehend selbstständig. Ergänzend hat der Beklagte auf eine gutachterliche Stellungnahme verwiesen, die der Arzt Dr. Ha im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens am 26. Juni 2011 erstellt hat. Darin hat dieser ausgeführt, der vom Sachverständigen festgestellte Umstand, wonach die Klägerin nicht in der Lage sei, Krankheitszeichen frühzeitig zu erkennen, sei kein Kriterium für die Zuerkennung des Merkzeichens "H".

Das Sozialgericht hat zur Aufklärung des Sachverhalts zunächst Befundberichte des Internisten Ma und des Nephrologischen Zentrums E sowie eine Auskunft der Lebenshilfe Pinneberg über die Tätigkeit der Klägerin in der dortigen Werkstatt für behinderte Menschen eingeholt. Ferner hat das Sozialgericht von dem Internisten Prof. Dr. H ein Gutachten eingeholt, welches dieser aufgrund einer ambulanten Untersuchung der Klägerin vom 3. Januar 2011 am 8. März 2011 erstattet hat. Der Sachverständige hat dabei ausgeführt, aus gutachterlicher Sicht bestehe kein Zweifel, dass die Klägerin allein auf sich gestellt die umfassenden Tätigkeiten (Hilfsmittel-Selbstversorgung, Beurteilung des Stomas, regelmäßige Arztbesuche) ohne Unterstützung nicht bewältigen könne. Sie bedürfe nach erfolgreicher Nierentransplantation bei geistiger Behinderung und Verhaltensstörungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz dauernd fremder Hilfe. Bezüglich der täglichen Gegebenheiten lebe die Klägerin gegenwartsbezogen. Als Organtransplantierte sei sie nicht in der Lage, Krankheitszeichen frühzeitig zu erkennen. Wegen der Verhaltensstörung müssten Hilfsmöglichkeiten stets angeboten und in Anspruch genommen werden. Aus gutachterlicher Sicht werde empfohlen, der Klägerin das Merkzeichen "H" zuzuerkennen. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 12. Mai 2011 hat der Sachverständige ausgeführt, die Klägerin bedürfe täglicher Betreuung und Supervision. Gewährleistet sein müsse die medikamentöse Therapie, insbesondere die Einnahme der Immunsuppression. Es müssten täglich Krankheitszeichen hinterfragt bzw. erkannt werden. Der künstliche Blasenausgang müsse inspiziert und bewertet werden. Das Verhalten und die Verhaltensstörungen müssten bezüglich der Intensität und der notwendigen Intervention auch kurzfristig betreut werden können. Der dafür erforderliche Zeitaufwand betrage aus gutachterlicher Sicht zwischen einer und sechs Stunden täglich.

Mit Urteil vom 9. Januar 2012 hat das Sozialgericht Itzehoe den Beklagten zur Zuerkennung des Merkzeichens "H" verpflichtet. Zur Begründung hat aus ausgeführt, die Klägerin benötige beim Duschen und vor allem bei der mehrmals täglich erforderlichen intensiven Pflege ihres künstlichen Blasenausgangs fremder Hilfe. Sie sei jedoch aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage, den Zustand des Blasenausgangs und die Konsistenz des Urins auf Infektionszeichen selbst zu beurteilen. Wiederkehrende Entzündungen der Blase stellten jedoch den Transplantationserfolg in Frage, denn aufsteigende Infektionen könnten zu einer Funktionseinbuße führen bzw. den Verlust der transplantierten Niere nach sich ziehen. Es sei vorliegend für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" ausreichend, dass die Klägerin nach erfolgter Nierentransplantation bei geistiger Behinderung und Verhaltensstörungen in einem die gesamte Lebensführung prägenden Lebensbereich dauernder fremder Hilfe bedürfe. Diese Hilfe sei auch zur Sicherung der persönlichen Existenz der Klägerin erforderlich. Bei der Beurteilung der Erheblichkeit des Umfangs des Hilfebedarfs sei keine starre Orientierung des Zeitaufwandes vorzunehmen. Um den individuellen Verhältnissen hinreichend Rechnung zu tragen, erscheine es geboten, nicht nur auf den zeitlichen Betreuungsaufwand, sondern auch die weiteren Umstände der Hilfeleistung, insbesondere ihren wirtschaftlichen Wert, abzustellen. Dieser sei vorliegend besonders hoch, so dass es gerechtfertigt sei, Hilflosigkeit bereits bei einem täglichen Zeitaufwand anzunehmen, der eine Pflegebedürftigkeit nicht nach sich ziehe. Es sei ausreichend, dass die Klägerin in einem die gesamte Lebensführung prägenden Bereich dauernd fremder Hilfe bedürfe. Diesbezüglich hat sich das Sozialgericht auf ein Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts und des Bundessozialgericht gestützt (L 6 SB 20/09 vom 20. September 2010 bzw. B 9 RVs 1/91 vom 23. Juni 1993).

Gegen das ihm am 5. April 2012 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten. Zur Begründung seiner Berufung trägt der Beklagte vor, die Voraussetzungen des Merkzeichens "H" lägen bei der Klägerin nicht vor. Deren Hilfebedarf beschränke sich im Wesentlichen auf die Hilfe beim Duschen und die Pflege des künstlichen Blasenausgangs sowie der Einnahme der Medikamente. Die Pflege des künstlichen Blasenausgangs diene der Verhinderung von Infektionen. Sie und die Einnahme der Medikamente gehörten zur Behandlungspflege, die dem Bereich der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) zuzuordnen seien. Soweit das Sozialgericht sich auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Sächsischen Landessozialgerichts gestützt habe, lägen dem keine vergleichbaren Fälle zugrunde. Es reiche nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" nicht aus, wenn die betreffenden Menschen nur bei einzelnen Verrichtungen der Hilfe bedürften, selbst wenn diese lebensnotwendig seien und im täglichen Lebensablauf wiederholt vorkämen. Dazu zähle auch die einfache Wund- oder Heilbehandlung sowie die Hilfe bei der Heimdialyse. Die Klägerin sollte auch in der Lage sein, ein undichtes Urostoma zu bemerken, da dies zu vermehrter Nässe der Haut führe. Zudem sei es nicht so, dass ein undichtes Stoma zu einer sofortigen Gefährdung des Transplantationserfolges führe, denn die Urinproduktion sei weiterhin gegeben. Die Klägerin sei insgesamt sehr selbstständig und gehöre nicht zu dem in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Personenkreis, bei dem ständige Hilfen für eine Reihe von häufig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz zu erbringen seien, wobei für den Umfang dieser Verrichtungen wenigstens zwei Stunden täglich zu fordern seien.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 9. Januar 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor, sie benötige Hilfe beim Duschen und mehrmals täglich bei der intensiven Pflege ihres künstlichen Blasenausgangs. Die tägliche Überwachung sei erforderlich, um Entzündungen zu verhindern, da ansonsten der Transplantationserfolg gefährdet würde. Es sei eine ständige Nachtbereitschaft erforderlich, zudem ein tägliches Nachfragen von Krankheitsanzeichen.

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes aus sozialmedizinischer Sicht ein Gutachten der Pflegefachwirtin Mb P eingeholt, welches diese auf Grundlage einer ambulanten Begutachtung der Klägerin am 21. Februar 2013 erstattet hat. Die Sachverständige bestätigt das Vorliegen einer langjährig vorhandenen geistigen Behinderung. Zu diesem Zweck hat sie mehrere Testverfahren mit der Klägerin durchgeführt, deren Ergebnisse auf eine Hirnleistungsminderung bzw. eine schwere bis schwerste kognitive Einschränkung hindeuteten. Herausgearbeitet hat die Sachverständige auch eine Aufstellung der Arztbesuche der Klägerin über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr. Ein mindestens wöchentlicher Rhythmus konnte dabei nicht erkannt werden. Zum Teil lagen mehrere Monate zwischen den einzelnen Arztbesuchen. Die Sachverständige hat einen Hilfebedarf der Klägerin im zeitlichen Umfang von durchschnittlich 101 Minuten täglich angenommen. Dabei entfielen neun Minuten auf die Hilfe bei der Verrichtung der Notdurft. Fünf Minuten hat die Sachverständige für die Kontrolle der Urostomaplatte auf Dichtheit bzw. die notwendige Auswechslung der Platte veranschlagt. Zwei Minuten entfielen auf die Sicherstellung der gebotenen Hygiene, insbesondere der Händedesinfektion zur Vorbeugung von Harnwegsinfekten und weitere zwei Minuten auf die Beobachtung des Urins und der Körpertemperatur sowie Fragen nach Schmerzen. Einen fünfminütigen Hilfebedarf hat die Sachverständige im Bereich der Ernährung erkannt. Die Klägerin benötige Ernährungsberatung und das Beaufsichtigen ihres Essverhaltens beim Frühstück und beim Abendbrot, um Normalgewicht zu erreichen und das Immunsystem zu unterstützen. Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistigen Anregung und Kommunikation seien mit 15 Minuten zu veranschlagen. Ferner sei eine 24-stündige Bereitschaft erforderlich. Wenn das Urostoma undicht werde, sei die Klägerin nicht in der Lage, mit der nötigen Sorgfalt und Hygiene zu handeln. Auf Anzeichen einer Infektion müsse unverzüglich reagiert werden, um den Transplantationserfolg nicht zu gefährden. Für den Notfall sei eine 24-stündige einsatzbereite Anwesenheit eines Mitarbeiters erforderlich. Unter Annahme, dass dies für alle 20 Bewohner des Hauses erforderlich sei, ergäben sich 72 Minuten pro Bewohner.

In einer mündlichen Verhandlung vom 23. September 2014 hat der Senat die Sachverständige P ergänzend zu ihrem Gutachten vom 21. Februar 2013 befragt.

Im Folgenden hat der Senat von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. L ein Gutachten eingeholt, welches diese am 10. August 2015 aufgrund ambulanter Untersuchungen der Klägerin am 17. Juni 2015 und am 8. Juli 2015 erstattet hat. Darin hat sie bei der Klägerin auf Basis der testpsychologischen Ermittlung eines Intelligenzquotienten von 48 eine mittelgradige Intelligenzminderung festgestellt. Diese gehe allerdings mit einer relativ günstigen Persönlichkeitsentwicklung und sozialer Anpassungsmöglichkeit einher und sei mit einem GdB von 90 zu bewerten. Ein GdB von 100 allein für die Intelligenzminderung ergebe sich nicht. Der Zustand nach Nierentransplantation sei mit einem GdB von 60 zu bewerten. Zusätzlich sei die Notwendigkeit der künstlichen Harnableitung nach außen mit einem GdB von 50 zu bewerten. Insgesamt ergebe sich ein GdB von 100.

Ergänzend wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Itzehoe Urteil vom 09.01.2012 - S 26 SB 276/09

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Sie ist fristgerecht eingelegt worden und bedurfte keiner besonderen Zulassung, da nicht über eine geldwerte Sach-, Geld- oder Dienstleistung gestritten wird.

Die Berufung ist auch begründet. Zur Unrecht hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, der Klägerin das Merkzeichen "H" zuzuerkennen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" liegen und lagen bei der Klägerin während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums nicht vor. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen sind vielmehr rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Das Urteil des Sozialgerichts vom 9. Januar 2012 war daher aufzuheben und die Klage war abzuweisen.

Gemäß § 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden - in Schleswig-Holstein das Landesamt für soziale Dienste - das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Dabei sind die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund von § 30 Abs. 17 BVG (jetzt § 30 Abs. 16 BVG) erlassenen Rechtsverordnung anzuwenden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat auf Grundlage von § 30 Abs. 17 BVG mit Wirkung ab 1. Januar 2009 die Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) erlassen. Diese enthält in ihrer Anlage zu § 2 die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG), in denen u. a. die Einzelheiten der GdB-Bemessung, der Voraussetzungen der Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen und der Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Behinderungen geregelt sind.

Gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX treffen die nach § 69 Abs. 1 SGB IX zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen nach den gleichen Verfahrensgrundsätzen auch, wenn neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind ("Merkzeichen").

Das Merkzeichen "H" hat seine gesetzliche Grundlage in § 33b Abs. 6 Einkommensteuergesetz (EStG). Nach dessen Satz 3 ist hilflos, wer für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (§ 33 Abs. 6 Satz 4 EStG). Eine identische Formulierung findet sich in § 35 Abs1 S.2 u.3 BVG, der den versorgungsrechtlichen Anspruch auf Pflegezulage regelt. Näher ausgestaltet sind diese Voraussetzungen in Teil A Nr. 4 VMG. Dabei bestimmt Teil A Nr. 4 c VMG, dass zu den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Existenzsicherung insbesondere das An- und Auskleiden, die Nahrungsaufnahme, die Körperpflege und das Verrichten der Notdurft zählen. Diese Verrichtungen zählen auch zu den Verrichtungen, die zur Bestimmung des Grundpflegebedarfs im Sinne des sozialen Pflegeversicherungsrechts gemäß § 14 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (SGB XI) zu berücksichtigten sind. Daneben bestimmt Teil A Nr. 4 c VMG aber, dass außerdem die notwendige körperliche Bewegung, die geistige Anregung und die Möglichkeit zur Kommunikation zu berücksichtigen sind. Hilflosigkeit liegt danach auch vor, wenn ein psychisch oder geistig behinderter Mensch zwar bei zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe nicht unmittelbar bedarf, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornähme. Die ständige Bereitschaft ist z. B. anzunehmen, wenn die Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist. Zum notwendigen zeitlichen Umfang der Hilfebedürftigkeit bestimmt Teil A Nr. 4 d der VMG, dass die Hilfe dauernd für zahlreiche Verrichtungen, die häufig und regelmäßig wiederkehren, benötigt werden müsse. Einzelne Verrichtungen, selbst wenn sie lebensnotwendig seien, genügen nicht. Die dazu ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts fordert einen Hilfebedarf bei mindestens 3 Verrichtungen und sieht vor, dass hilflos im Sinne der genannten Vorschrift stets derjenige ist, der bei den relevanten Verrichtungen für mindestens zwei Stunden täglich fremder Hilfe dauernd bedarf. Bei einem täglichen Zeitaufwand für fremde Hilfe zwischen einer und zwei Stunden sei Hilflosigkeit dann anzunehmen, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege besonders hoch ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Februar 2003, B 9 SB 1/02 R). Die notwendige Bereitschaftszeit einer Hilfsperson sei dann berücksichtigungsfähig, wenn die Hilfsperson dadurch zeitlich und örtlich ebenso beansprucht werde, wie bei körperlicher Hilfeleistung (vgl. BSG, a.a.O.; Urteil vom 8. März 1995, 9 RVs 5/94).

Daneben enthält Teil A Nr. 4 VMG eine Reihe von Regelbeispielen, bei denen ohne nähere Prüfung angenommen werden kann, dass die Voraussetzungen von Hilflosigkeit erfüllt sind. Dies gilt gemäß Teil A Nr. 4 f aa VMG in der Regel auch bei geistiger Behinderung, wenn diese Behinderung allein einen GdB von 100 bedingt.

Nach der letztgenannten Vorschrift liegt Hilflosigkeit hier nicht vor, denn bei der Klägerin liegt allein wegen ihrer geistigen Behinderung kein GdB von 100 vor. Zutreffend und nachvollziehbar hat Frau Dr. L den GdB für die geistige Behinderung mit 90 angesetzt. Gemäß Teil B Nr. 3.4.2 VMG ist ein Intelligenzmangel mit stark eingeengter Bildungsfähigkeit, erheblichen Mängeln im Spracherwerb und einem Intelligenzrückstand entsprechend einem Intelligenzalter unter zehn Jahren (entsprechend einem IQ unter 60) bei Erwachsenen mindestens mit einem GdB von 80 zu bewerten. Ein GdB von 80 bis 90 kommt dabei bei relativ günstiger Persönlichkeitsentwicklung und sozialer Anpassungsmöglichkeit (Teilerfolg in einer Sonderschule, selbstständige Lebensführung in einigen Teilbereichen und Einordnung im allgemeinen Erwerbsleben mit einfachen motorischen Fertigkeiten noch möglich) in Betracht. Bei stärkerer Einschränkung der Eingliederungsmöglichkeiten mit hochgradigem Mangel an Selbstständigkeit und Bildungsfähigkeit, fehlender Sprachentwicklung, unabhängig von der Arbeitsmarktlage und auf Dauer Beschäftigungsmöglichkeit nur in einer Werkstatt für Behinderte, ist ein GdB von 100 anzusetzen. Nach diesen Maßstäben erscheint ein GdB von 90, also im oberen Bereich der GdB-Spanne für die erstgenannte Kategorie, zutreffend. Zu berücksichtigen ist, dass die Klägerin zwar Leistungen der Eingliederungshilfe, insbesondere solche des betreuten Wohnens, benötigt und nur in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt werden kann, jedoch hat sie sich in Teilbereichen eine gewisse Selbstständigkeit erarbeitet. So lebt sie in der Einrichtung in einem Gebäude, in dem die weniger betreuungsintensiven Bewohner untergebracht sind, sie ist in der Lage, sich auf bekannten Wegen selbstständig zu bewegen, sie führt eine Partnerbeziehung und verbringt die Wochenenden selbstständig bei ihrem Partner, der ebenfalls in einer WfbM arbeitet, aber eine eigene Wohnung unterhält. Es besteht daher eine selbstständige Lebensführung in einigen Teilbereichen, gleichwohl eine Beschäftigungsmöglichkeit nur in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Eine fehlende Sprachentwicklung ist nicht zu konstatieren, die Klägerin spricht ausweislich des Gutachtens vielmehr zwar in einfachen, aber grammatikalisch korrekten Sätzen und kann sich ausreichend über einfache Sachverhalte sprachlich verständigen. Ein GdB von 100 für die geistige Behinderung wird daher nicht erreicht.

Die Voraussetzungen von Hilflosigkeit nach den allgemeinen Regelungen gemäß § 33 Abs. 6 Satz 4 EStG in Verbindung mit Teil A Nr. 4 b bis d VMG liegen ebenfalls nicht vor. Ein durchschnittlicher zeitlicher Hilfebedarf für die nach Teil A Nr. 4 c VMG zu berücksichtigenden Verrichtungen liegt nämlich nur in einem zeitlichen Umfang von deutlich weniger als 60 Minuten täglich vor. Dabei ist der von der Sachverständigen P ermittelte Hilfebedarf bei der Kontrolle der Urostomaplatte auf Dichtheit im Umfang von fünf Minuten täglich, bei der Sicherstellung der gebotenen Hygiene im Umfang von zwei Minuten täglich und bei der Beobachtung des Urins ebenfalls im Umfang von zwei Minuten täglich, bei der Beaufsichtigung des Essverhaltens im Umfang von fünf Minuten täglich und bei der geistigen Anregung und Kommunikation im Umfang von 15 Minuten täglich zu berücksichtigen. Dass diese von der Sachverständigen P erkannten Hilfebedarfe auch jetzt noch dem Grunde nach bestehen, ergibt sich auch aus dem insoweit schlüssigen Gutachten der Sachverständigen Dr. L vom August 2015. Dort ist den fremdanamnestischen Angaben der Betreuerin der Klägerin, I R , insbesondere zu entnehmen, dass die Klägerin nach wie vor Hilfe im Sinne einer emotionalen Stabilisierung bei Konflikten benötigt und sie nach wie vor die Versorgung des Urostomas und den Plattenwechsel nicht allein bewältigen kann. Den fremdanamnestischen Angaben ist auch zu entnehmen, dass es in der letzten Zeit verstärkte Probleme mit dem Urostoma gegeben hat, weil die Platte bei der Klägerin häufiger gewechselt werden müsse als üblich, an manchen Tagen sogar mehrmals. Auch würden in letzter Zeit häufiger Infekte auftreten, insbesondere dann, wenn sie längere Zeit mit ihrem Partner verbracht habe. Sie habe daher über einen längeren Zeitraum Antibiotika einnehmen müssen. Auch sei ein Krankenhausaufenthalt im Frühjahr 2015 wegen eines hochfieberhaften Harnwegsinfektes notwendig geworden. Es erscheint aufgrund dieser Schilderungen gerechtfertigt für die Kontrolle und Versorgung des Urostomas einen etwas höheren Hilfebedarf anzunehmen, als dies noch in dem Gutachten von Frau P getan wurde, so dass sich der dort ermittelte Hilfebedarf von insgesamt 29 Minuten etwas erhöht. Der in der Rechtsprechung des BSG zum zeitlichen Mindestumfang der Hilfebedürftigkeit im Sinne von Teil A Nr. 4 d VMG entwickelte untere Grenzwert von 1 Stunde täglich wird aber weiterhin deutlich unterschritten.

Nicht berücksichtigungsfähig ist entgegen dem Votum der Sachverständigen P die ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung im Falle einer Undichtigkeit des Urostomas. Zwar berücksichtigt Teil A Nr. 4 d VMG grundsätzlich auch die Erforderlichkeit der ständigen Bereitschaft zur Hilfeleistung, diese ist nach Teil A Nr. 4 c VMG aber beispielhaft dann anzunehmen, wenn die Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist. Die Sachverständige P konnte in der mündlichen Verhandlung vom September 2014 die Frage nach der Häufigkeit der Notwendigkeit des Einschreitens wegen eines undichten Urostomas nicht eindeutig beantworten. Aus den Schilderungen der Frau R ergibt sich, dass dies in der letzten Zeit häufiger der Fall war, weil sich im letzten Dreivierteljahr vor der Untersuchung die Platte stets vor dem geplanten Wechsel gelöst hatte und Urin ausgetreten war. Legt man diese durchaus glaubhaften Angaben zugrunde, so lässt sich das Kriterium der Häufigkeit nach Teil A Nr. 4 c VMG bejahen, es fehlt aber - erfreulicherweise - nach wie vor an einer akuten Lebensgefahr für die Klägerin. Nicht zu verkennen ist, dass das Nichteinschreiten mit der Gefahr von Harnwegsinfekten einhergeht und darüber hinaus die Gefahr besteht, dass die Infekte in die Niere aufsteigen und so den Transplantationserfolg gefährden. Daher sind eine regelmäßige Kontrolle des Stomas und eine Beobachtung der Klägerin auf Krankheitszeichen wie Fieber und ähnliches durchaus erforderlich, um eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu verhindern. Mit der Vermeidung einer akuten Lebensgefahr ist dies indessen nicht zu vergleichen. Die Annahme von Hilflosigkeit bei ständiger Bereitschaft zur Hilfeleistung ist zwar nicht auf die Vermeidung akuter Lebensgefahr beschränkt, jedoch muss es sich um vergleichbar schwerwiegende gesundheitliche Risiken handeln. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da im Falle der Undichtigkeit des Urostomas eine Gefahr für den Transplantationserfolg nur mittelbar besteht, wenn sich eine Harnwegsinfektion bildet und wenn diese nicht zeitnah therapiert wird und es zu einem Aufsteigen der Infektion durch die Harnleiter in die Niere kommt. Die Gefahr eines schwerwiegenden Gesundheitsschadens besteht somit nur dann, wenn die Klägerin einen Urinaustritt aus dem undichten Stoma nicht zeitnah bemerkt und dann noch mehrere negative Entwicklungen zusammenkommen. Bestätigt wird diese Bewertung durch den Umstand, dass der Klägerin die kontinuierliche Bereitschaft zur Hilfeleistung zeitweise gar nicht zur Verfügung steht, etwa wenn sie über das Wochenende ihren Partner besucht. In diesen Zeiten wird ausweislich des Gutachtens von Frau Dr. L bewusst ein höheres Risiko in Bezug auf die gesundheitliche Situation der Klägerin in Kauf genommen, um ihr mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Zwar handelt es sich dabei um eine im Einzelfall getroffene Abwägungsentscheidung trotz eines bestehenden Risikos, jedoch belegt die Entscheidung auch, dass das eingegangene Risiko gesundheitlich vertretbar ist.

Nicht berücksichtigungsfähig ist ferner die Begleitung der Klägerin zu Arztterminen. In Anlehnung zu den in der Pflegeversicherung gemäß §§ 17, 53a SGB XI geltenden Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (BRI) ist die Begleitung zu Arztbesuchen oder Therapien nur berücksichtigungsfähig, wenn diese Termine regelmäßig mindestens einmal pro Woche stattfinden (Teil D Nr. 4.3.15 BRI 2013). Dies ist ausweislich der gutachterlichen Feststellungen der Sachverständigen P bei der Klägerin nicht der Fall.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs.1 u Abs.4 SGG und folgt der Sachentscheidung.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht. Insbesondere liegt kein Abweichen von den Maßstäben des BSG-Urteils vom 26. Februar 1965 im Verfahren 9/11 RV 660/63 vor. Dort hatte das BSG zwar die zeitweilige Notwendigkeit der Überwachung und Beobachtung des Betroffenen hilfebedarfserhöhend berücksichtigt, gleichwohl betont, dass eine Entscheidung anhand der besonderen Umstände des Einzelfalles zu treffen ist. Einen Rechtssatz, von dem die vorliegende Entscheidung abweicht, erblickt der Senat in der genannten Entscheidung des BSG daher nicht.

Referenznummer:

R/R6990


Informationsstand: 07.09.2016