Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Sie ist fristgerecht eingelegt worden und bedurfte keiner besonderen Zulassung, da nicht über eine geldwerte Sach-, Geld- oder Dienstleistung gestritten wird.
Die Berufung ist auch begründet. Zur Unrecht hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, der Klägerin das Merkzeichen "H" zuzuerkennen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" liegen und lagen bei der Klägerin während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums nicht vor. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen sind vielmehr rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Das Urteil des Sozialgerichts vom 9. Januar 2012 war daher aufzuheben und die Klage war abzuweisen.
Gemäß
§ 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden - in Schleswig-Holstein das Landesamt für soziale Dienste - das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Dabei sind die Maßstäbe des § 30
Abs. 1 BVG und der aufgrund von § 30
Abs. 17 BVG (jetzt § 30
Abs. 16 BVG) erlassenen
Rechtsverordnung anzuwenden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat auf Grundlage von § 30
Abs. 17 BVG mit Wirkung ab 1. Januar 2009 die Versorgungsmedizinverordnung (
VersMedV) erlassen. Diese enthält in ihrer Anlage zu § 2 die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (
VMG), in denen
u. a. die Einzelheiten der
GdB-Bemessung, der Voraussetzungen der Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen und der Bildung des Gesamt-
GdB bei Vorliegen mehrerer Behinderungen geregelt sind.
Gemäß § 69
Abs. 4
SGB IX treffen die nach § 69
Abs. 1
SGB IX zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen nach den gleichen Verfahrensgrundsätzen auch, wenn neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind ("Merkzeichen").
Das Merkzeichen "H" hat seine gesetzliche Grundlage in § 33b
Abs. 6 Einkommensteuergesetz (EStG). Nach dessen Satz 3 ist hilflos, wer für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (§ 33
Abs. 6 Satz 4 EStG). Eine identische Formulierung findet sich in § 35 Abs1
S.2 u.3 BVG, der den versorgungsrechtlichen Anspruch auf Pflegezulage regelt. Näher ausgestaltet sind diese Voraussetzungen in
Teil A Nr. 4 VMG. Dabei bestimmt Teil A
Nr. 4 c
VMG, dass zu den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Existenzsicherung insbesondere das An- und Auskleiden, die Nahrungsaufnahme, die Körperpflege und das Verrichten der Notdurft zählen. Diese Verrichtungen zählen auch zu den Verrichtungen, die zur Bestimmung des Grundpflegebedarfs im Sinne des sozialen Pflegeversicherungsrechts gemäß § 14
Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (
SGB XI) zu berücksichtigten sind. Daneben bestimmt Teil A
Nr. 4 c
VMG aber, dass außerdem die notwendige körperliche Bewegung, die geistige Anregung und die Möglichkeit zur Kommunikation zu berücksichtigen sind. Hilflosigkeit liegt danach auch vor, wenn ein psychisch oder geistig behinderter Mensch zwar bei zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe nicht unmittelbar bedarf, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornähme. Die ständige Bereitschaft ist
z. B. anzunehmen, wenn die Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist. Zum notwendigen zeitlichen Umfang der Hilfebedürftigkeit bestimmt Teil A
Nr. 4 d der
VMG, dass die Hilfe dauernd für zahlreiche Verrichtungen, die häufig und regelmäßig wiederkehren, benötigt werden müsse. Einzelne Verrichtungen, selbst wenn sie lebensnotwendig seien, genügen nicht. Die dazu ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts fordert einen Hilfebedarf bei mindestens 3 Verrichtungen und sieht vor, dass hilflos im Sinne der genannten Vorschrift stets derjenige ist, der bei den relevanten Verrichtungen für mindestens zwei Stunden täglich fremder Hilfe dauernd bedarf. Bei einem täglichen Zeitaufwand für fremde Hilfe zwischen einer und zwei Stunden sei Hilflosigkeit dann anzunehmen, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege besonders hoch ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Februar 2003,
B 9 SB 1/02 R). Die notwendige Bereitschaftszeit einer Hilfsperson sei dann berücksichtigungsfähig, wenn die Hilfsperson dadurch zeitlich und örtlich ebenso beansprucht werde, wie bei körperlicher Hilfeleistung (
vgl. BSG, a.a.O.; Urteil vom 8. März 1995,
9 RVs 5/94).
Daneben enthält Teil A
Nr. 4
VMG eine Reihe von Regelbeispielen, bei denen ohne nähere Prüfung angenommen werden kann, dass die Voraussetzungen von Hilflosigkeit erfüllt sind. Dies gilt gemäß Teil A
Nr. 4 f aa
VMG in der Regel auch bei geistiger Behinderung, wenn diese Behinderung allein einen
GdB von 100 bedingt.
Nach der letztgenannten Vorschrift liegt Hilflosigkeit hier nicht vor, denn bei der Klägerin liegt allein wegen ihrer geistigen Behinderung kein
GdB von 100 vor. Zutreffend und nachvollziehbar hat Frau
Dr. L den
GdB für die geistige Behinderung mit 90 angesetzt. Gemäß
Teil B Nr. 3.4.2 VMG ist ein Intelligenzmangel mit stark eingeengter Bildungsfähigkeit, erheblichen Mängeln im Spracherwerb und einem Intelligenzrückstand entsprechend einem Intelligenzalter unter zehn Jahren (entsprechend einem IQ unter 60) bei Erwachsenen mindestens mit einem
GdB von 80 zu bewerten. Ein
GdB von 80 bis 90 kommt dabei bei relativ günstiger Persönlichkeitsentwicklung und sozialer Anpassungsmöglichkeit (Teilerfolg in einer Sonderschule, selbstständige Lebensführung in einigen Teilbereichen und Einordnung im allgemeinen Erwerbsleben mit einfachen motorischen Fertigkeiten noch möglich) in Betracht. Bei stärkerer Einschränkung der Eingliederungsmöglichkeiten mit hochgradigem Mangel an Selbstständigkeit und Bildungsfähigkeit, fehlender Sprachentwicklung, unabhängig von der Arbeitsmarktlage und auf Dauer Beschäftigungsmöglichkeit nur in einer Werkstatt für Behinderte, ist ein
GdB von 100 anzusetzen. Nach diesen Maßstäben erscheint ein
GdB von 90, also im oberen Bereich der
GdB-Spanne für die erstgenannte Kategorie, zutreffend. Zu berücksichtigen ist, dass die Klägerin zwar Leistungen der Eingliederungshilfe, insbesondere solche des betreuten Wohnens, benötigt und nur in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt werden kann, jedoch hat sie sich in Teilbereichen eine gewisse Selbstständigkeit erarbeitet. So lebt sie in der Einrichtung in einem Gebäude, in dem die weniger betreuungsintensiven Bewohner untergebracht sind, sie ist in der Lage, sich auf bekannten Wegen selbstständig zu bewegen, sie führt eine Partnerbeziehung und verbringt die Wochenenden selbstständig bei ihrem Partner, der ebenfalls in einer WfbM arbeitet, aber eine eigene Wohnung unterhält. Es besteht daher eine selbstständige Lebensführung in einigen Teilbereichen, gleichwohl eine Beschäftigungsmöglichkeit nur in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Eine fehlende Sprachentwicklung ist nicht zu konstatieren, die Klägerin spricht ausweislich des Gutachtens vielmehr zwar in einfachen, aber grammatikalisch korrekten Sätzen und kann sich ausreichend über einfache Sachverhalte sprachlich verständigen. Ein
GdB von 100 für die geistige Behinderung wird daher nicht erreicht.
Die Voraussetzungen von Hilflosigkeit nach den allgemeinen Regelungen gemäß § 33
Abs. 6 Satz 4 EStG in Verbindung mit Teil A
Nr. 4 b bis d
VMG liegen ebenfalls nicht vor. Ein durchschnittlicher zeitlicher Hilfebedarf für die nach Teil A
Nr. 4 c
VMG zu berücksichtigenden Verrichtungen liegt nämlich nur in einem zeitlichen Umfang von deutlich weniger als 60 Minuten täglich vor. Dabei ist der von der Sachverständigen P ermittelte Hilfebedarf bei der Kontrolle der Urostomaplatte auf Dichtheit im Umfang von fünf Minuten täglich, bei der Sicherstellung der gebotenen Hygiene im Umfang von zwei Minuten täglich und bei der Beobachtung des Urins ebenfalls im Umfang von zwei Minuten täglich, bei der Beaufsichtigung des Essverhaltens im Umfang von fünf Minuten täglich und bei der geistigen Anregung und Kommunikation im Umfang von 15 Minuten täglich zu berücksichtigen. Dass diese von der Sachverständigen P erkannten Hilfebedarfe auch jetzt noch dem Grunde nach bestehen, ergibt sich auch aus dem insoweit schlüssigen Gutachten der Sachverständigen
Dr. L vom August 2015. Dort ist den fremdanamnestischen Angaben der Betreuerin der Klägerin, I R , insbesondere zu entnehmen, dass die Klägerin nach wie vor Hilfe im Sinne einer emotionalen Stabilisierung bei Konflikten benötigt und sie nach wie vor die Versorgung des Urostomas und den Plattenwechsel nicht allein bewältigen kann. Den fremdanamnestischen Angaben ist auch zu entnehmen, dass es in der letzten Zeit verstärkte Probleme mit dem Urostoma gegeben hat, weil die Platte bei der Klägerin häufiger gewechselt werden müsse als üblich, an manchen Tagen sogar mehrmals. Auch würden in letzter Zeit häufiger Infekte auftreten, insbesondere dann, wenn sie längere Zeit mit ihrem Partner verbracht habe. Sie habe daher über einen längeren Zeitraum Antibiotika einnehmen müssen. Auch sei ein Krankenhausaufenthalt im Frühjahr 2015 wegen eines hochfieberhaften Harnwegsinfektes notwendig geworden. Es erscheint aufgrund dieser Schilderungen gerechtfertigt für die Kontrolle und Versorgung des Urostomas einen etwas höheren Hilfebedarf anzunehmen, als dies noch in dem Gutachten von Frau P getan wurde, so dass sich der dort ermittelte Hilfebedarf von insgesamt 29 Minuten etwas erhöht. Der in der Rechtsprechung des
BSG zum zeitlichen Mindestumfang der Hilfebedürftigkeit im Sinne von Teil A
Nr. 4 d
VMG entwickelte untere Grenzwert von 1 Stunde täglich wird aber weiterhin deutlich unterschritten.
Nicht berücksichtigungsfähig ist entgegen dem Votum der Sachverständigen P die ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung im Falle einer Undichtigkeit des Urostomas. Zwar berücksichtigt Teil A
Nr. 4 d
VMG grundsätzlich auch die Erforderlichkeit der ständigen Bereitschaft zur Hilfeleistung, diese ist nach Teil A
Nr. 4 c
VMG aber beispielhaft dann anzunehmen, wenn die Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist. Die Sachverständige P konnte in der mündlichen Verhandlung vom September 2014 die Frage nach der Häufigkeit der Notwendigkeit des Einschreitens wegen eines undichten Urostomas nicht eindeutig beantworten. Aus den Schilderungen der Frau R ergibt sich, dass dies in der letzten Zeit häufiger der Fall war, weil sich im letzten Dreivierteljahr vor der Untersuchung die Platte stets vor dem geplanten Wechsel gelöst hatte und Urin ausgetreten war. Legt man diese durchaus glaubhaften Angaben zugrunde, so lässt sich das Kriterium der Häufigkeit nach Teil A
Nr. 4 c
VMG bejahen, es fehlt aber - erfreulicherweise - nach wie vor an einer akuten Lebensgefahr für die Klägerin. Nicht zu verkennen ist, dass das Nichteinschreiten mit der Gefahr von Harnwegsinfekten einhergeht und darüber hinaus die Gefahr besteht, dass die Infekte in die Niere aufsteigen und so den Transplantationserfolg gefährden. Daher sind eine regelmäßige Kontrolle des Stomas und eine Beobachtung der Klägerin auf Krankheitszeichen wie Fieber und ähnliches durchaus erforderlich, um eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu verhindern. Mit der Vermeidung einer akuten Lebensgefahr ist dies indessen nicht zu vergleichen. Die Annahme von Hilflosigkeit bei ständiger Bereitschaft zur Hilfeleistung ist zwar nicht auf die Vermeidung akuter Lebensgefahr beschränkt, jedoch muss es sich um vergleichbar schwerwiegende gesundheitliche Risiken handeln. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da im Falle der Undichtigkeit des Urostomas eine Gefahr für den Transplantationserfolg nur mittelbar besteht, wenn sich eine Harnwegsinfektion bildet und wenn diese nicht zeitnah therapiert wird und es zu einem Aufsteigen der Infektion durch die Harnleiter in die Niere kommt. Die Gefahr eines schwerwiegenden Gesundheitsschadens besteht somit nur dann, wenn die Klägerin einen Urinaustritt aus dem undichten Stoma nicht zeitnah bemerkt und dann noch mehrere negative Entwicklungen zusammenkommen. Bestätigt wird diese Bewertung durch den Umstand, dass der Klägerin die kontinuierliche Bereitschaft zur Hilfeleistung zeitweise gar nicht zur Verfügung steht, etwa wenn sie über das Wochenende ihren Partner besucht. In diesen Zeiten wird ausweislich des Gutachtens von Frau
Dr. L bewusst ein höheres Risiko in Bezug auf die gesundheitliche Situation der Klägerin in Kauf genommen, um ihr mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Zwar handelt es sich dabei um eine im Einzelfall getroffene Abwägungsentscheidung trotz eines bestehenden Risikos, jedoch belegt die Entscheidung auch, dass das eingegangene Risiko gesundheitlich vertretbar ist.
Nicht berücksichtigungsfähig ist ferner die Begleitung der Klägerin zu Arztterminen. In Anlehnung zu den in der Pflegeversicherung gemäß §§ 17, 53a
SGB XI geltenden Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (BRI) ist die Begleitung zu Arztbesuchen oder Therapien nur berücksichtigungsfähig, wenn diese Termine regelmäßig mindestens einmal pro Woche stattfinden (Teil D
Nr. 4.3.15 BRI 2013). Dies ist ausweislich der gutachterlichen Feststellungen der Sachverständigen P bei der Klägerin nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
Abs.1 u
Abs.4
SGG und folgt der Sachentscheidung.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht. Insbesondere liegt kein Abweichen von den Maßstäben des
BSG-Urteils vom 26. Februar 1965 im Verfahren 9/11 RV 660/63 vor. Dort hatte das
BSG zwar die zeitweilige Notwendigkeit der Überwachung und Beobachtung des Betroffenen hilfebedarfserhöhend berücksichtigt, gleichwohl betont, dass eine Entscheidung anhand der besonderen Umstände des Einzelfalles zu treffen ist. Einen Rechtssatz, von dem die vorliegende Entscheidung abweicht, erblickt der Senat in der genannten Entscheidung des
BSG daher nicht.