Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 und 151 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig, jedoch nur teilweise, d.h. im Hilfsantrag begründet: Das Sozialgericht Landshut hat die Klage mit Urteil vom
09.11.2006 - S 10 SB 401/05 - im Hauptantrag zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung L. vom 14.06.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familieförderung vom 19.07.2005 ist insoweit zutreffend ergangen.
Verfahrensrechtlich ist vorab darauf hinzuweisen, dass entsprechend dem erstinstanzlich eingeholten Gutachten von
Dr.V. vom 08.08.2006 für die Zeit ab August 1999 ein Gesamt-
GdB von 40 festgestellt werden kann. Eine solche Feststellung ist von Seiten des Klägers erstinstanzlich jedoch nicht beantragt worden, auch nicht hilfsweise. Der Kläger begehrt auch zweitinstanzlich vor allem die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft für die Zeit ab August 1999 in Hinblick auf den rentenrechtlich relevanten Stichtag 16.11.2000 im Sinne von § 236a
SGB VI.
Im Rahmen des Spannungsverhältnisses zwischen § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren (
SGB X) und
§ 6 Abs.1 Satz 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwVO) hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 29.05.1991 -
9a/9 RVs 11/89 (SozR 3-1300 § 44
Nr.3) grundlegend ausgeführt: Die Sonderregelungen des § 44
Abs.1 und 4
SGB X, die zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte auch für die Vergangenheit verpflichten, beschränken sich auf Verwaltungsakte, die ausschließlich über die Gewährung von Sozialleistungen entscheiden. Die Feststellungen nach dem
SchwbG sind auch in Verbindung mit der Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheides zu Gunsten des Betroffenen grundsätzlich nur für die Zukunft zu treffen; die Rückwirkung liegt im Ermessen der Verwaltung. Die Statusänderung wirkt prinzipiell in die Zukunft; eine beschränkte Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung (§ 6
Abs.1 Satz 1 SchwbAwVO) trägt im Interesse der Behinderten daran Rechnung, dass sie nicht durch die Dauer eines Verwaltungsverfahrens unzumutbar benachteiligt werden. Nach Antragstellung können sie auch bei allen wesentlichen Belangen bereits auf ein laufendes Verfahren zur Anerkennung hinweisen. Die weitere Rückwirkung eines Antrags, wie sie in § 6
Abs.1 Satz 2 SchwbAwVO vorgesehen ist, muss auf offenkundige Fälle beschränkt werden, in denen auch bei Anwendung des § 44
Abs.2
SGB X das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung gebieten könnte.
Wenngleich das vorstehend auszugsweise zitierte Urteil des
BSG in Hinblick auf etwaige steuerrechtliche Nachteilsausgleiche im Sinne von § 33b des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergangen ist, gelten dessen Grundsätze gleichermaßen in Hinblick auf den hier rentenrechtlich relevanten Stichtag 16.11.2000 im Sinne von § 236a
SGB VI.
Menschen sind gemäß § 2
Abs.1
SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Menschen sind gemäß
§ 2 Abs.2 SGB IX im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein
GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des
§ 73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den
GdB fest. Das KOV-VfG ist entsprechend anzuwenden, soweit nicht das
SGB X Anwendung findet. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als
GdB nach 10-er Graden abgestuft festgestellt. Die im Rahmen des § 30
Abs.1 BVG festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein
GdB von wenigstens 20 vorliegt (
§ 69 Abs.1 SGB IX).
Die eingangs zitierten Rechtsnormen werden durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996
bzw. 2004 und 2005" ausgefüllt. Wenngleich diese Verwaltungsvorschriften, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, für das Gericht nicht zwingend bindend sind, werden sie dennoch regelmäßig zur Gesetzesauslegung und als wertvolle Entscheidungshilfe herangezogen. Das Gebot der Gleichbehandlung, wie es in
Art.3
Abs.1 des Grundgesetzes (
GG) normiert ist, erfordert es auch in diesem Fall, keinen anderen Bewertungsmaßstab als den üblichen anzulegen (
vgl. Urteil des 9a Senats des
BSG vom 29.08.1990 -
9a/9 RVs
7/89 in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1991,
S.227
ff. zu "Anhaltspunkte 1983").
Mit Urteilen vom 23.06.1993 - 9a/9 RVs 1/91 und 9a/9 RVs 5/92 (ersteres publiziert in BSGE 72, 285 = MDR 1994
S.78, 79) hat das
BSG wiederholt dargelegt, dass den "Anhaltspunkten 1983" keine Normqualität zukommt; es handelt sich nur um antizipierte Sachverständigengutachten. Sie wirken sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung jedoch normähnlich aus. Ihre Überprüfung durch die Gerichte muss dieser Zwitterstellung Rechnung tragen. - Die "Anhaltspunte 1983" haben sich normähnlich entwickelt nach Art der untergesetzlichen Normen, die von sachverständigen Gremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden. Allerdings fehlt es insoweit an der erforderlichen Ermächtigungsnorm sowie an klaren gesetzlichen Vorgaben und der parlamentarischen Verantwortung hinsichtlich der Besetzung des Gremiums sowie der für Normen maßgeblichen Veröffentlichung.
- Hinsichtlich der richterlichen Kontrolle der "Anhaltspunkte 1983" ergeben sich Besonderheiten, ungeachtet der Rechtsqualität der "Anhaltspunkte 1983". Sie sind vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben zu messen. Sie können nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden; die Gerichte sind insoweit prinzipiell auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. Eine solche eingeschränkte Kontrolldichte wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Regelungsbereiches und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber begründet (
vgl. Papier, DÜV 1986,
S.621
ff. und in Festschrift für Ule, 1987,
S.235
ff.). Eine solche Beschränkung in der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die "Anhaltspunkte 1983" geboten, weil sonst der Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde.
Das Bundesverfassungsgericht (
BVerfG) hat mit Beschluss vom 06.03.1995 -
1 BvR 60/95 (
vgl. NJW 1995,
S. 3049, 3050) die Beachtlichkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983" im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren als "antizipierte Sachverständigengutachten" bestätigt. Der in
Art.3 des Grundgesetzes (
GG) normierte allgemeine Gleichheitssatz gewährleistet innerhalb des § 3
SchwbG nur dann eine entsprechende Rechtsanwendung, wenn bei der Beurteilung der verschiedenen Behinderungen regelmäßig gleiche Maßstäbe zur Anwendung kommen. - Entsprechendes gilt auch für die neu gefassten "Anhaltspunkte 1996", die die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen, die Rechtsprechung des
BSG, zwischenzeitliche Änderungen der Rechtsgrundlagen sowie Erfahrungen bei der Anwendung der bisherigen "Anhaltspunkte 1983" eingearbeitet haben (
BSG mit Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/03 R in SGb 2004
S.378)
bzw. nunmehr die "Anhaltspunkte 2004 und 2005".
Hiervon ausgehend hat
Dr.K. mit versorgungsärztlichem Gutachten nach Aktenlage vom 30.03.2007 schlüssig und überzeugend die Ausführungen von Frau
Dr.V. mit Gutachten vom 08.08.2006 bestätig, dass eine rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft für den Zeitraum vor dem 29.01.2002 nicht möglich ist. Es fehlt vor allem an dem Nachweis einer erheblichen seelischen Störung, wie sie sich erstmalig aus den Bericht der Tinnitus-Klinik in Bad A. auf Grund der stationären Behandlung vom 16.04.2002 bis 28.05.2002 ergibt. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass auch der Kläger selbst im Rahmen seines Erstantrages vom 21.01.2002 noch nicht auf ein entsprechendes seelisches Leiden hingewiesen hat. Die Folgen des von ihm hervorgehobenen Tinnitus und Innenohrschaden sind entsprechend dem Votum von
Dr.V. vom 08.08.2006 mit einem Einzel-
GdB von 30 zutreffend und angemessen berücksichtigt worden. Dies entspricht den Vorgaben der "Anhaltspunkte 1996" in Rz.26.5, wenn dort der Innenohrschaden nur in Berücksichtigung des Tinnitus und der psychovegetativen Begleiterscheinungen mit einem Einzel-
GdB von 30 bewertbar ist.
Das Bayer. Landessozialgericht verkennt nicht, dass sich der Kläger im Laufe der zweiten Jahreshälfte 1999 vor allem aus seinen jagdsportlichen und -musikalischen Aktivitäten zurückgezogen hat. Ein Tinnitus mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (
z.B. ausgeprägte depressive Störungen) ist jedoch zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht nachgewiesen. Vor allem enthält der Reha-Entlassungsbericht der Klinik Bad A. vom 26.10.1999 keinen entsprechenden Hinweis. Vielmehr hat die allgemeine und soziale Anamnese ergeben, dass keine psychischen und sozialen Belastungen bestanden haben. Zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit des Klägers ist bei Entlassung eine ambulante Fortsetzung der durchgeführten balneo- physikalischen Anwendungen unter Fortsetzung einer stabilisierenden krankengymnastischen Beübung der Rumpfmuskulatur befürwortet worden. Der Kläger ist befristet arbeitsunfähig entlassen worden.
Nach alledem ist die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 09.11.2006 zurückzuweisen, soweit diese über den in der mündlichen Verhandlung vom 19.06.2007 gestellten Hilfsantrag hinausgeht, der auf der Grundlage des Gutachtens der
Dr.V. vom 08.08.2006 begründet ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193
SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160
Abs.2 Nrn.1 und 2
SGG).