Urteil
Rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft

Gericht:

LSG Bayern


Aktenzeichen:

L 15 SB 172/06


Urteil vom:

19.06.2007


Tenor:

I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 09.11.2006 und der Bescheid des Beklagten vom 14.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2005 insoweit abgeändert, als der Beklagte verurteilt wird, den Grad der Behinderung mit Wirkung ab 01.08.1999 bis 28. 01.2002 mit 40 festzustellen und eine entsprechende Bescheinigung nach § 33b des Einkommensteuergesetzes (EStG) auszustellen.

II. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 09.11.2006 zurückgewiesen.

III. Der Beklagte erstattet dem Kläger 2/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1949 geborene Kläger ist schwerbehindert im Sinne von § 2 und § 69 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Für die Zeit ab
29.01.2002 ist der Grad der Behinderung (GdB) mit 50 festgestellt worden. Streitig ist zwischen den Beteiligten die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit einem GdB von 50 ab August 1999.

Der Erstantrag des Klägers vom 21.01.2002 ist am 29.01.2002 im Amt für Versorgung und Familienförderung L. eingegangen. Der Beklagte hat den GdB mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung L. vom 02.08.2002 in Gestalt des
Abhilfe-Bescheides vom 30.09.2002 für die Zeit ab 29.01.2002 mit 50 festgestellt und hierbei folgende Gesundheitsstörungen berücksichtigt:

1. Schwerhörigkeit beidseits mit Ohrgeräuschen (Einzel-GdB 30);
2. seelische Störung (Einzel-GdB 30);
3. Funktionbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20);
4. funktionelle Kreislaufstörungen (Einzel-GdB 10).

Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schriftsatz vom 06.08.2004 beantragt, den GdB rückwirkend ab August 1999 mit 50 festzustellen und den Überprüfungsantrag auch im Rahmen von § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren (SGB X) zu würdigen.

Auf Veranlassung des Beklagten hat Dr.R. unter anderem den Bericht der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität R. vom 06.10.1999 übermittelt. Dort sind Kopfschmerzen unklarer Ätiologie diagnostiziert worden. Außerdem hat die Landesversicherungsanstalt Niederbayern-Oberpfalz mit Nachricht vom 04.04.2005 ihr Gutachtensheft übermittelt. Nach dem dort enthaltenen Reha-Entlassungsbericht der Klinik Bad A. vom 26.10.1999 ist der Kläger gelernter Maschinenschlosser. Die letzte Tätigkeit als Industriemechaniker bei A. könne er voraussichtlich weiterhin ausüben, dabei solle er ständige Überkopfarbeiten und ständiges Heben von schweren Lasten meiden. Er ist befristet arbeitsunfähig entlassen worden.

Entsprechend der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 02.06.2005 hat es der Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung L. vom 14.06.2005 abgelehnt, den Bescheid vom 30.09.2002 zurückzunehmen und gemäß § 44 Abs.1 und 2 SGB X für die Vergangenheit eine neue Feststellung zu treffen.

Der Widerspruch vom 20.06.2005 gegen den Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung L. vom 14.06.2005 ist mit Widerspruchsbescheid des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 19.07.2005 zurückgewiesen worden. Erst für die Zeit ab 29.01.2002 sei eine wesentliche Beeinträchtigung durch die psychische Störung dokumentiert, die im Zusammenspiel mit den weiteren Gesundheitsstörungen den Schwerbehindertenstatus ausmache.

Im Rahmen des sich anschließenden Klageverfahrens hat das Sozialgericht Landshut nach Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen mit Beweisanordnung vom 11.07.2006 Dr.V. gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zur ärztlichen Sachverständigen bestellt. Diese hat mit Gutachten vom 08.08.2006 zusammenfassend ausgeführt, unter sehr großzügiger Bewertung sei hier ab August 1999 maximal ein Gesamt-GdB von 40 vertretbar, keinesfalls aber die Schwerbehinderteneigenschaft. Denn für die zurückliegende Zeit könnten nur die Gesundheitsstörungen "Schwerhörigkeit beidseits mit Tinnitus" mit einem Einzel-GdB von 30 und "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule" mit einem Einzel-GdB von 20 berücksichtigt werden.

Dementsprechend hat das Sozialgericht Landshut die Klage mit Urteil vom 09.11.2006 abgewiesen.

Die hiergegen gerichtete Berufung vom 19.12.2006 ging am 20.12.2006 im Bayer. Landessozialgericht ein. Zur Begründung hoben die Bevollmächtigten des Klägers hervor, dass dieser bereits im August 1999 einen "Hörsturz" erlitten habe. Er sei im Krankenhaus K. (im Bezirksklinikum R.) wegen des Verdachts auf einen Schlaganfall bzw. eine Gehirnblutung untersucht worden. Darüberhinaus leide der Kläger ebenfalls bereits seit spätestens 1999 an erheblichen Schlafstörungen.

Von Seiten des Bayer. Landessozialgerichts wurden die erstinstanzlichen Unterlagen und die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten beigezogen, ebenso diejenigen der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft. Die Tinnitus-Klinik G. in Bad A. übermittelte ihre Unterlagen vom April/Mai 2002 sowie Juni/Juli 2005. Entsprechendes gilt für das Bezirksklinikum R. hinsichtlich der stationären Behandlung des Klägers im Schlaflabor vom 11.11. bis 18.11.2002.

Der um Auswertung gebetene Beklagte machte mit versorgungsärztlichem Gutachten nach Aktenlage vom 30.03.2007 darauf aufmerksam, dass entsprechend dem Arztbrief der Klinik für Neurologie der Universität R. vom 06.10.1999 plötzliche heftige Kopfschmerzen nach Ausübung von Jagdhornblasen beschrieben worden seien. Alle Untersuchungen hätten keinen Hinweis für die Ursache ergeben. Die Diagnose einer Depression sei nicht gestellt worden; es sei auch keine antidepressive Behandlung eingeleitet worden. Im Entlassungsbericht der Tinnitus-Klinik Bad A. vom 17.06.2002 werde anamnestisch referiert, dass der Kläger nach einem Hörsturz im August 1999 seine Vereinstätigkeiten im Luftgewehrsportschießen komplett habe aufgeben müssen, auch nicht mehr zur Jagd gehe und keine Freude mehr am Erleben der Natur wie früher habe. Es seien ein chronisch-dekompensiertes Tinnitusleiden und eine depressive Episode mit ausgeprägter Erschöpfungssymptomatik diagnostiziert und eine ambulante Psychotherapie samt antidepressiver Medikation empfohlen worden. Über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 28.09. bis 26.10.1999 liege der Entlassungsbericht der Rheumaklinik Bad A. vor. In der damaligen Anamnese kurz nach dem Ereignis vom August 1999 seien zwar Durchschlafstörungen und "keine Hobbys" angegeben, aber auch ein unauffälliger psychischer Befund beschrieben worden. Eine antidepressive Medikation oder Psychotherapie seien damals nicht empfohlen worden. Nach den vorliegenden Unterlagen sei deshalb ab August 1999 zwar eine psychovegetative Symptomatik anzunehmen. Eine depressive Störung mit einem Einzel-GdB von 30 lasse sich jedoch weder durch den damals erhobenen psychischen Befund noch durch die Behandlung zu diesem frühen Zeitpunkt ausreichend begründen.

Das Bayer. Landessozialgericht ersuchte die Bevollmächtigten des Klägers mit Nachricht vom 12.04.2007 um Stellungnahme bis 01.06.2007. Vorsorglich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft rückwirkend vor Erstantragstellung entsprechend der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom
29.05.1991 - 9a/9 RVs 11/89 regelmäßig auf offenkundige Fälle beschränkt ist.

Die Bevollmächtigten des Klägers erwiderten mit Schriftsatz vom 23.04.2007, dass die zitierte Rechtsprechung des BSG noch nicht den rentenrechtlich relevanten Stichtag 16.11.2000 betroffen haben könne. § 236a SGB VI sei erst wesentlich später eingeführt worden. Im Übrigen habe auch Dr.R. bereits ab 1999 sowohl eine deutliche Verschlechterung der Befunde als auch das Hinzutreten neuer Leiden festgestellt und bestätigt. Auf den ausgeprägten sozialen Rückzug im Sinne einer stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit werde nochmals ausdrücklich hingewiesen.

In der mündlichen Verhandlung vom 19.06.2007 stellt der Bevollmächtigten des Klägers den Antrag,

das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 09.11.2006 sowie den Bescheid vom 14.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ab August 1999 beim Kläger einen GdB in Höhe von 50, hilfsweise in Höhe von 40, anzuerkennen.

Der Bevollmächtigte des Beklagten stellt den Antrag,

die Berufung des Klägers insoweit zurückzuweisen, als ab August 1999 ein höherer GdB als 40 beantragt wird.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 202 SGG i.V.m. § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie entsprechend § 136 Abs. 2 SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Rechtsweg:

SG Landshut Urteil vom 09.11.2006 - S 10 SB 401/05 -

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 und 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, jedoch nur teilweise, d.h. im Hilfsantrag begründet: Das Sozialgericht Landshut hat die Klage mit Urteil vom
09.11.2006 - S 10 SB 401/05 - im Hauptantrag zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung L. vom 14.06.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familieförderung vom 19.07.2005 ist insoweit zutreffend ergangen.

Verfahrensrechtlich ist vorab darauf hinzuweisen, dass entsprechend dem erstinstanzlich eingeholten Gutachten von Dr.V. vom 08.08.2006 für die Zeit ab August 1999 ein Gesamt-GdB von 40 festgestellt werden kann. Eine solche Feststellung ist von Seiten des Klägers erstinstanzlich jedoch nicht beantragt worden, auch nicht hilfsweise. Der Kläger begehrt auch zweitinstanzlich vor allem die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft für die Zeit ab August 1999 in Hinblick auf den rentenrechtlich relevanten Stichtag 16.11.2000 im Sinne von § 236a SGB VI.

Im Rahmen des Spannungsverhältnisses zwischen § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren (SGB X) und § 6 Abs.1 Satz 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwVO) hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 29.05.1991 - 9a/9 RVs 11/89 (SozR 3-1300 § 44 Nr.3) grundlegend ausgeführt: Die Sonderregelungen des § 44 Abs.1 und 4 SGB X, die zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte auch für die Vergangenheit verpflichten, beschränken sich auf Verwaltungsakte, die ausschließlich über die Gewährung von Sozialleistungen entscheiden. Die Feststellungen nach dem SchwbG sind auch in Verbindung mit der Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheides zu Gunsten des Betroffenen grundsätzlich nur für die Zukunft zu treffen; die Rückwirkung liegt im Ermessen der Verwaltung. Die Statusänderung wirkt prinzipiell in die Zukunft; eine beschränkte Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung (§ 6 Abs.1 Satz 1 SchwbAwVO) trägt im Interesse der Behinderten daran Rechnung, dass sie nicht durch die Dauer eines Verwaltungsverfahrens unzumutbar benachteiligt werden. Nach Antragstellung können sie auch bei allen wesentlichen Belangen bereits auf ein laufendes Verfahren zur Anerkennung hinweisen. Die weitere Rückwirkung eines Antrags, wie sie in § 6 Abs.1 Satz 2 SchwbAwVO vorgesehen ist, muss auf offenkundige Fälle beschränkt werden, in denen auch bei Anwendung des § 44 Abs.2 SGB X das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung gebieten könnte.

Wenngleich das vorstehend auszugsweise zitierte Urteil des BSG in Hinblick auf etwaige steuerrechtliche Nachteilsausgleiche im Sinne von § 33b des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergangen ist, gelten dessen Grundsätze gleichermaßen in Hinblick auf den hier rentenrechtlich relevanten Stichtag 16.11.2000 im Sinne von § 236a SGB VI.

Menschen sind gemäß § 2 Abs.1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Menschen sind gemäß § 2 Abs.2 SGB IX im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.

Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Das KOV-VfG ist entsprechend anzuwenden, soweit nicht das SGB X Anwendung findet. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10-er Graden abgestuft festgestellt. Die im Rahmen des § 30 Abs.1 BVG festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 69 Abs.1 SGB IX).

Die eingangs zitierten Rechtsnormen werden durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 bzw. 2004 und 2005" ausgefüllt. Wenngleich diese Verwaltungsvorschriften, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, für das Gericht nicht zwingend bindend sind, werden sie dennoch regelmäßig zur Gesetzesauslegung und als wertvolle Entscheidungshilfe herangezogen. Das Gebot der Gleichbehandlung, wie es in Art.3 Abs.1 des Grundgesetzes (GG) normiert ist, erfordert es auch in diesem Fall, keinen anderen Bewertungsmaßstab als den üblichen anzulegen (vgl. Urteil des 9a Senats des BSG vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs
7/89
in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1991, S.227 ff. zu "Anhaltspunkte 1983").

Mit Urteilen vom 23.06.1993 - 9a/9 RVs 1/91 und 9a/9 RVs 5/92 (ersteres publiziert in BSGE 72, 285 = MDR 1994 S.78, 79) hat das BSG wiederholt dargelegt, dass den "Anhaltspunkten 1983" keine Normqualität zukommt; es handelt sich nur um antizipierte Sachverständigengutachten. Sie wirken sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung jedoch normähnlich aus. Ihre Überprüfung durch die Gerichte muss dieser Zwitterstellung Rechnung tragen. - Die "Anhaltspunte 1983" haben sich normähnlich entwickelt nach Art der untergesetzlichen Normen, die von sachverständigen Gremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden. Allerdings fehlt es insoweit an der erforderlichen Ermächtigungsnorm sowie an klaren gesetzlichen Vorgaben und der parlamentarischen Verantwortung hinsichtlich der Besetzung des Gremiums sowie der für Normen maßgeblichen Veröffentlichung.
- Hinsichtlich der richterlichen Kontrolle der "Anhaltspunkte 1983" ergeben sich Besonderheiten, ungeachtet der Rechtsqualität der "Anhaltspunkte 1983". Sie sind vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben zu messen. Sie können nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden; die Gerichte sind insoweit prinzipiell auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. Eine solche eingeschränkte Kontrolldichte wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen Regelungsbereiches und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber begründet (vgl. Papier, DÜV 1986, S.621 ff. und in Festschrift für Ule, 1987, S.235 ff.). Eine solche Beschränkung in der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die "Anhaltspunkte 1983" geboten, weil sonst der Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 06.03.1995 - 1 BvR 60/95 (vgl. NJW 1995, S. 3049, 3050) die Beachtlichkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983" im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren als "antizipierte Sachverständigengutachten" bestätigt. Der in Art.3 des Grundgesetzes (GG) normierte allgemeine Gleichheitssatz gewährleistet innerhalb des § 3 SchwbG nur dann eine entsprechende Rechtsanwendung, wenn bei der Beurteilung der verschiedenen Behinderungen regelmäßig gleiche Maßstäbe zur Anwendung kommen. - Entsprechendes gilt auch für die neu gefassten "Anhaltspunkte 1996", die die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen, die Rechtsprechung des BSG, zwischenzeitliche Änderungen der Rechtsgrundlagen sowie Erfahrungen bei der Anwendung der bisherigen "Anhaltspunkte 1983" eingearbeitet haben (BSG mit Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/03 R in SGb 2004 S.378) bzw. nunmehr die "Anhaltspunkte 2004 und 2005".

Hiervon ausgehend hat Dr.K. mit versorgungsärztlichem Gutachten nach Aktenlage vom 30.03.2007 schlüssig und überzeugend die Ausführungen von Frau Dr.V. mit Gutachten vom 08.08.2006 bestätig, dass eine rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft für den Zeitraum vor dem 29.01.2002 nicht möglich ist. Es fehlt vor allem an dem Nachweis einer erheblichen seelischen Störung, wie sie sich erstmalig aus den Bericht der Tinnitus-Klinik in Bad A. auf Grund der stationären Behandlung vom 16.04.2002 bis 28.05.2002 ergibt. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass auch der Kläger selbst im Rahmen seines Erstantrages vom 21.01.2002 noch nicht auf ein entsprechendes seelisches Leiden hingewiesen hat. Die Folgen des von ihm hervorgehobenen Tinnitus und Innenohrschaden sind entsprechend dem Votum von Dr.V. vom 08.08.2006 mit einem Einzel-GdB von 30 zutreffend und angemessen berücksichtigt worden. Dies entspricht den Vorgaben der "Anhaltspunkte 1996" in Rz.26.5, wenn dort der Innenohrschaden nur in Berücksichtigung des Tinnitus und der psychovegetativen Begleiterscheinungen mit einem Einzel-GdB von 30 bewertbar ist.

Das Bayer. Landessozialgericht verkennt nicht, dass sich der Kläger im Laufe der zweiten Jahreshälfte 1999 vor allem aus seinen jagdsportlichen und -musikalischen Aktivitäten zurückgezogen hat. Ein Tinnitus mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägte depressive Störungen) ist jedoch zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht nachgewiesen. Vor allem enthält der Reha-Entlassungsbericht der Klinik Bad A. vom 26.10.1999 keinen entsprechenden Hinweis. Vielmehr hat die allgemeine und soziale Anamnese ergeben, dass keine psychischen und sozialen Belastungen bestanden haben. Zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit des Klägers ist bei Entlassung eine ambulante Fortsetzung der durchgeführten balneo- physikalischen Anwendungen unter Fortsetzung einer stabilisierenden krankengymnastischen Beübung der Rumpfmuskulatur befürwortet worden. Der Kläger ist befristet arbeitsunfähig entlassen worden.

Nach alledem ist die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 09.11.2006 zurückzuweisen, soweit diese über den in der mündlichen Verhandlung vom 19.06.2007 gestellten Hilfsantrag hinausgeht, der auf der Grundlage des Gutachtens der Dr.V. vom 08.08.2006 begründet ist.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).

Referenznummer:

R/R2810


Informationsstand: 12.01.2008