Die zulässige Berufung der Klägerin ist zum Teil begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-
GdB von 60 ab Juni 2014.
Nach den
§§ 2 Abs. 1,
69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (
VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412), die am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, festgelegten
"Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.
Nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen
Prof. Dr. S, denen der Senat sich anschließt, ist der Lupus erythematodes im noch streitigen Zeitraum ab Juni 2014 mit einem Einzel-
GdB von 30 zu würdigen. Nach
Teil B Nr. 18.2.2 der Anlage zu
§ 2 VersMedV richtet sich die Beurteilung des
GdB bei Kollagenosen (zu denen auch ein systemischer Lupus erythematodes zählt) nach Art und Ausmaß der jeweiligen Organbeteiligung sowie den Auswirkungen auf den Allgemeinzustand. Der Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, dass die Krankheitsaktivität bei der Klägerin geringe Auswirkungen hervorruft. Ein höherer Einzel-
GdB als 30 ist nicht zu rechtfertigen. Zum einen liegt bei der Klägerin keine therapeutisch schwer beeinflussbare Krankheitsaktivität vor. Im Rahmen von Laboruntersuchungen in den Jahren 2014 und 2015 konnte ausgeschlossen werden, dass die Entzündungsparameter nach immunsuppressiver Therapie anhaltend hoch sind. Zum anderen war keine dauernde erhebliche Funktionseinbuße festzustellen. Eine schwergradige Organbeteiligung liegt nicht vor. Der Sachverständige hat darauf hingewiesen, dass ausweislich der Arztbriefe der S-Klinik vom 8. und 27. Januar 2015 weder Luftnot noch Ödeme bestanden. Die Untersuchung der Lunge ergab ebenso wenig Auffälligkeiten wie die neurologische Untersuchung. Anhand der von dem Gutachter durchgeführten Röntgenuntersuchung lässt sich ein destruktives Krankheitsbild ausschließen.
Die Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin mit mittelgradigen funktionellen Einschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten bedingt, wie der Gutachter
Prof. Dr. S ausgeführt hat, einen Einzel-
GdB von 30. Der Senat schließt sich dieser Bewertung an, die den Vorgaben in
Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV entspricht.
Die psychische Erkrankung der Klägerin ist, auch unter Würdigung des im Rentenstreitverfahren eingeholten Gutachtens des PD
Dr. K vom 14. Februar 2010, bereits als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit zu qualifizieren. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die seelische Störung der Klägerin, wie der Sachverständige
Prof. Dr. S dargelegt hat, seit der letzten Begutachtung eine deutliche Verstärkung erfahren hat. Unter Heranziehung des in
Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV normierten Maßstabs ist nach der Überzeugung des Senats für das seelische Leiden ein Einzel-
GdB von 40 anzusetzen.
Die Bewertung der Migräne mit einem Einzel-
GdB von 20 und der übrigen Behinderungen, d.h. der Fußfehlform und Minderbelastbarkeit, des Wolf-Parkinson-White-Syndroms, des Schilddrüsenleidens und der Allergien, mit einem Einzel-
GdB von jeweils 10 steht zwischen den Beteiligten - zu Recht - nicht im Streit.
Unter Berücksichtigung der einzelnen Behinderungen der Klägerin ist der Gesamt-
GdB als Ausdruck der Gesamtbeeinträchtigung mit 60 zu bilden.
Liegen mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der
GdB gemäß § 69
Abs. 3
SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach
Teil A Nr. 3c der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-
GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-
GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.
Der einzusetzende Einzel-
GdB von 40 für die seelische Störung ist nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen mit Rücksicht auf die Wirbelsäulenerkrankung und den Lupus erythematodes, die jeweils mit einem Einzel-
GdB von 30 zu bewerten sind, um jeweils einen Zehnergrad auf insgesamt 60 anzuheben, da sie sich nachhaltig aufeinander auswirken. Eine weitere Erhöhung mit Rücksicht auf die mit einem Einzel-
GdB von 20 zu bewertende Migräne kommt nicht in Betracht, da sie beziehungslos neben den Hauptkrankheiten steht. Auch die übrigen Behinderungen erhöhen den Gesamt-
GdB nicht. Denn zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen
GdB von 10 bedingen, führen, von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen
(z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.
Soweit die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens G begehrt, hat das Sozialgericht die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin hat hierauf keinen Anspruch.
Gemäß
§ 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a
Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69
Abs. 1 und 4
SGB IX).
Nach
§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -
BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987,
9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60
Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145
Abs. 1 Satz 1, § 146
Abs. 1 Satz 1
SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe
BSG, Urteil vom 24. April 2008 -
B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146
Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (
AHP) herangezogen, die in
Nr. 30
Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so
BSG, Urteil vom 13. August 1997, -
9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60
Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die
AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die
AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (
vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (
VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009,
Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz,
GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69
SGB IX;
LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 -
L 8 SB 3119/08 - in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 -
L 8 SB 2723/13 -;
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 -
L 10 SB 39/09 -; offen gelassen von:
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 -
L 10 SB 154/12 -;
LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 -
L 13 SB 12/08 -) - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in
Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den
AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die
VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den
AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II
S. 15) Rechnung getragen, indem er in
§ 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch
Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 -
B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69
Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen
Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (
vgl. § 159
Abs. 7
SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190,
S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in
Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat - über die genannten Regelbeispiele hinausgehend - vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe
BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69
Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2
Abs. 1 Satz 1
SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren
UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (
Art. 3
Abs. 3 Satz 2
GG;
Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (
vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60
Nr. 2).
Gemessen an diesen Maßstäben ist die Klägerin nicht erheblich gehbehindert. Der Sachverständige
Prof. Dr. S hat nachvollziehbar herausgearbeitet, dass die Klägerin die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht erfüllt. Denn nach der überzeugenden Einschätzung des Gutachters, der sich der Senat anschließt, ist das Gehvermögen der Klägerin nicht so weit eingeschränkt, dass sie nicht Wegstrecken im Ortsverkehr bewältigen könnte, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2
SGG) sind nicht erfüllt.