II.
Die Berufung des Beklagten wird nach § 153
Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Das Urteil des Sozialgerichts ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Der Kläger hat auch Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G.
Gemäß
§ 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a
Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (
§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach
§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -
BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987,
9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60
Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145
Abs. 1 Satz 1, § 146
Abs. 1 Satz 1
SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe
BSG, Urteil vom 24. April 2008 -
B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146
Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (
AHP) herangezogen, die in
Nr. 30
Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so
BSG, Urteil vom 13. August 1997, -
9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60
Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die
AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die
AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (
vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (
VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) festgelegten "
Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009,
Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz,
GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69
SGB IX;
LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 -
L 8 SB 3119/08 - in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 -
L 8 SB 2723/13 -;
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 -
L 10 SB 39/09 -; offen gelassen von:
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 -
L 10 SB 154/12 -;
LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - L 13 SB 12/08 -) - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in
Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den
AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die
VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den
AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II
S. 15) Rechnung getragen, indem er in
§ 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch
Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 -
B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69
Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen
Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (
vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190,
S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D
Nr. 1d bis
Nr. 1f der Anlage zu § 2
VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat - über die genannten Regelbeispiele hinausgehend - vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe
BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69
Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des
§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren
UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (
Art. 3
Abs. 3 Satz 2
GG;
Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (
vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60
Nr. 2).
Der Kläger erfüllt danach die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G, da er infolge seiner Behinderung in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Dies hat das Sozialgericht auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Sachverständigen überzeugend herausgearbeitet, wobei es entgegen der Auffassung des Beklagten unerheblich ist, ob der Einzel-
GdB für die Funktionseinschränkungen der Beine mit 30 oder 40 zu bewerten ist. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung und sieht nach § 153
Abs. 2
SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160
Abs. 2
SGG) sind nicht erfüllt.