Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht - wenn auch ohne die hierfür nötige Sachaufklärung - hat das Sozialgericht es abgelehnt, dem Kläger einen
GdB von mehr als 70 zuzuerkennen
bzw. die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und B festzustellen.
Nach den
§§ 2 Abs. 1,
69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu bewerten. Heranzuziehen sind hierbei die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (
VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) festgelegten
"Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG).
Im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme durch Einholung medizinischer Gutachten, deren Ergebnis und sonstigen Inhalten der Kläger inhaltlich in keiner Weise entgegengetreten ist und das sich der Senat zu eigen macht, steht zur Überzeugung des Senates fest, dass beim Kläger Funktionsbeeinträchtigungen im Gebiet der oberen oder unteren Extremitäten
bzw. der Wirbelsäule nicht in dem von ihm geklagten Umfange vorliegen. Insbesondere zeigt die im Wege bildgebender Verfahren festgestellte Spinalkanalstenose bislang nicht die mit ihr möglicherweise verbundenen Auswirkungen auf die Beweglichkeit und begründet daher trotz der im bildgebenden Verfahren nachgewiesenen Ausgeprägtheit nicht die Zuerkennung eines
GdB von mehr als 20. Deutlicher auf die Gehfähigkeit des Klägers wirken sich vielmehr dessen Adipositas und die Lymphstauung der Beine aus.
Im Ergebnis der gutachterlichen Untersuchungen ist festzustellen, dass der Kläger an folgenden Funktionsbeeinträchtigungen seit Mai 2012 leidet:
1) Neurologische und psychische Ausfälle im Rahmen einer arteriosklerotischen Enzephalopathie,
2) a) Funktionsbeeinträchtigung des Achsenorgans,
b) Funktionsbeeinträchtigung der unteren Extremitäten,
c) Funktionsbeeinträchtigung des venös-lymphatischen Abflusssystems.
Hinsichtlich der durch orthopädische Begutachtung festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen zu 2) hat der Sachverständige nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, dass die Wirbelsäule im Sinne mittelgradiger funktioneller Auswirkungen in einem Abschnitt (LWS) betroffen sei, woraus sich nach Ziffer
18.9 der VMG ein
GdB von 20 ergibt. Er hat weiter dargelegt, dass beim Kläger eine Störung des venös-lymphatischen Abflusssystems mit deutlicher Stauung an beiden Unterschenkeln festzustellen sei, wobei bislang weder Ulzerationen noch Insuffizienzen aufgetreten seien. Dies rechtfertigt nach
Ziffer 9.2.3 einen
GdB von ebenfalls 20. Hinsichtlich der unteren Extremitäten hat der Sachverständige praktisch keine Funktionsbeeinträchtigungen der Knie- und Fußgelenke feststellen können. Lediglich im Hüftbereich hat sich eine leichte degenerationsbedingte Einschränkung der Beweglichkeit objektivieren lassen. Insofern ist
gem. Ziffer 18.14 der
VMG ein
GdB von 10 angemessen.
Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet hat der Sachverständige eine arteriosklerotische Enzephalopathie festgestellt, also eine hirnorganisch bedingte Funktionsbeeinträchtigung mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung im Sinne von
Ziffer 3.1.1 der
VMG, die hierfür eine
GdB-Spanne von 50 bis 60 vorsieht. Ob insoweit der untere oder der obere Spannenwert anzusetzen ist, kann hier indes dahinstehen, denn auch bei Ansetzung eines
GdB von 60 ergäbe sich kein Gesamt-
GdB über den beim Kläger bereits festgestellten Wert von 70. Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der
GdB gemäß § 69
Abs. 3
SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach
Teil A Nr. 3c der Anlage zur
VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-
GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-
GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, wobei es
gem. Nr. 3.d)ee) bei einem ein
GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Hiervon ausgehend, ist das orthopädische Leiden in der Gesamtschau dahingehend zu bewerten, dass die Beeinträchtigung der LWS und die lymphatische Stauung zu einander überlagernder Symptomatik führen, die insgesamt mit einem
GdB von 20 zutreffend bewertet ist. Selbst wenn man mit dem neurologisch/psychiatrischen Sachverständigen für das hirnorganische Leiden einen
GdB von 60 annähme, würde daher ein Gesamt-
GdB von mehr als 70 nicht erreicht werden.
Die Berufung bleibt auch in Bezug auf die begehrten Merkzeichen G und B ohne Erfolg. Gemäß
§ 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a
Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69
Abs. 1 und 4
SGB IX).
Nach
§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -
BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987,
9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60
Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145
Abs. 1 Satz 1, § 146
Abs. 1 Satz 1
SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe
BSG, Urteil vom 24. April 2008 -
B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146
Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (
AHP) herangezogen, die in
Nr. 30
Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so
BSG, Urteil vom 13. August 1997, -
9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60
Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die
AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die
AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (
vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (
VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I
S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009,
Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz,
GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69
SGB IX;
LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 -
L 8 SB 3119/08 - in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 -
L 8 SB 2723/13 -;
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 -
L 10 SB 39/09 -; offen gelassen von:
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 -
L 10 SB 154/12 -;
LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 -
L 13 SB 12/08 -) - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in
Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den
AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die
VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den
AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II
S. 15) Rechnung getragen, indem er in
§ 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch
Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 -
B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69
Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen
Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (
vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190,
S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in
Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat - über die genannten Regelbeispiele hinausgehend - vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe
BSG, Urteil vom 11. August 2015 -
B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69
Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2
Abs. 1 Satz 1
SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren
UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (
Art. 3
Abs. 3 Satz 2
GG;
Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (
vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60
Nr. 2).
Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger nicht erheblich gehbehindert. Beide Sachverständige haben in ihren Gutachten nachvollziehbar herausgearbeitet, dass der Kläger die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht erfüllt. Denn nach der überzeugenden Einschätzung der Gutachter, der sich der Senat anschließt, ist das Gehvermögen des Klägers nicht behinderungsbedingt so weit eingeschränkt, dass er nicht Wegstrecken im Ortsverkehr in adäquater Zeit zu Fuß zurücklegen könnte. Insbesondere könnte er nach den Ausführungen des orthopädischen Gutachters nötigenfalls ohne weiteres einen sog. Rollator zu Hilfe nehmen, um eventuell auftretende Gangunsicherheiten abzufangen, wolle dies aber nicht, weil er mit einem solchen Hilfsmittel zu alt aussehe. Damit sind offenkundig auch die Voraussetzungen der §§ 145
Abs. 2
Nr. 1, 146
Abs. 2
SGB IX für das Merkzeichen B nicht gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG. Die Voraussetzungen des § 160
Abs. 2
SGG für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.