Urteil
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B"

Gericht:

LSG Hamburg 3. Senat


Aktenzeichen:

L 3 SB 6/09


Urteil vom:

03.07.2012


Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Dezember 2008 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" streitig.

Der am XXXXX 1956 geborene Kläger ist p. Staatsangehöriger t. Nationalität. Er stellte am 26. November 2001 einen Erstantrag nach dem Schwerbehindertengesetz und wies auf eine Psoriasis, ein HWS- und LWS-Syndrom und eine Medikamentenabhängigkeit hin. Mit Bescheid vom 28. Februar 2002 wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 zuerkannt wegen einer Hauterkrankung (Teil-GdB 20), einer Arthropathie und eines Schmerzsyndroms (Teil-GdB 20) sowie einer Schlafstörung (Teil-GdB 10). Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2002 wurde der GdB mit Blick auf ein hinzugetretenes psychisches Leiden (Teil-GdB 20) auf 40 erhöht. Mit Neufeststellungsantrag vom 23. Januar 2003 machte der Kläger geltend, es sei ein psychisches Leiden hinzugetreten. Eine von der Beklagten eingeholte gutachtliche Beurteilung nach dem Schwerbehindertenrecht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, Sozialmedizin Dr. Z. vom 10. August 2003 gelangte unverändert zu einem GdB von 40 (Teil-GdB 30 für Psoriasis mit Gelenkbeteiligung, 20 für Bandscheibenschaden/chronisches Schmerzsyndrom, 20 für psychische Minderbelastbarkeit), so dass die begehrte Neufeststellung mit Bescheid vom 19. September 2003 abgelehnt wurde. Mit Neufeststellungsbescheid vom 7. April 2004 wurde ab 26. November 2001 ein GdB von 60 zuerkannt. Hierbei wurden eine Psoriasis mit einem Teil-GdB von 30, ein Bandscheibenschaden sowie ein chronisches Schmerzsyndrom mit einem Teil-GdB von 20 und eine psychische Minderbelastbarkeit mit einem Teil-GdB von 50 berücksichtigt. Eingang in die Beurteilung fand ein Befundbericht des Facharztes für Psychiatrie Dr. T. vom 10. November 2003, der eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie und eine mittelgradige depressive Störung diagnostizierte.

Am 1. Juli 2005 und mit Ergänzung hierzu vom 11. Juli 2005 stellte der Kläger wiederum einen Neufeststellungsantrag und begehrte auch die Zuerkennung des Merkzeichens "B". Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit dem vorliegend streitgegenständlichen Bescheid vom 26. Oktober 2005 ab und stellte dabei fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "B" nicht vorlägen. Hierbei legte sie einen Befundbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. vom 15. August 2005 zugrunde, der die Diagnosen Benzodiazepinabhängigkeit, Alkoholmissbrauch, einen Verdacht auf Angst und Depression gemischt sowie akute Halluzinationen angab. Zugrunde gelegt wurde ferner ein Bericht des Klinikums N. über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 7. Juni bis 13. Juni 2005, der die Diagnosen Alkohol- und Benzodiazepinintoxikation, Benzodiazepinabhängigkeit, Verdacht auf generalisierte Angststörung, Psoriasis sowie Zustand nach Sturz mit Schmerzen in beiden Schultergelenken enthält. Gegen die Ablehnung der Zuerkennung des Merzeichens "B" erhob der Kläger Widerspruch. Nach weiterer Sachaufklärung auf dem orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet (Beiziehung eines Berichts über die operative Versorgung eines Impingementsyndroms) wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. November 2006 zurück. Das Merkzeichen "B" könne nur in Zusammenhang mit dem Merkzeichen "G" vergeben werden, dessen Voraussetzungen in Gestalt einer erheblichen Gehbehinderung jedoch bei dem Kläger nicht vorlägen.

Mit seiner daraufhin fristgerecht erhobenen Klage hat der Kläger die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" begehrt. Er hat eingeräumt, dass er nicht im engeren Sinne gehbehindert sei, weil er physiologisch in der Lage sei, seine Beine und Füße zu gebrauchen. Jedoch sei er wegen Angstattacken gehindert, seine Wohnung zu verlassen. Körperlich äußere sich dies in Hyperventilation, die den Kreislauf extrem belaste. In der Folge komme es zu Ohnmachtsanfällen. Immer wieder komme es vor, dass ihm unvorhersehbar schwarz vor Augen werde und er stürze. Zum Gehvermögen gehöre aber auch die psychologische Fähigkeit, die Füße zu gebrauchen. Ihr Fehlen wiege genauso schwer, wie die physiologische Unfähigkeit, die Füße zu gebrauchen. Der Gesetzeswortlaut stehe dem nicht entgegen. Die Symptomatik komme einer Gehbehinderung gleich.

Das Sozialgericht hat den Sachverhalt zunächst durch Einholung eines Befundberichts des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie S. aufgeklärt, welcher als Diagnosen eine Opiatabhängigkeit, eine Benzodiazepinabhängigkeit, eine Agarophobie und eine Depression mitgeteilt hat. In einem Befundbericht des Universitätskrankenhauses E. über einen stationären Aufenthalt vom 16. bis 18. Januar 2006 sind die Diagnosen Opiat- und Benzodiazepinabhängigkeit sowie Agoraphobie angegeben. Alsdann hat das Sozialgericht den Kläger durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B1 untersuchen und schriftlich begutachten lassen. Dieser hat zunächst festgestellt, dass der Kläger ein psychopathologisch höchst auffälliges Verhalten geboten habe, wobei ein hirnorganischer Prozess ausgeschlossen sei. Es hätten sich auch keine Anhaltspunkte für eine Erkrankung aus dem endogenen Formenkreis ergeben, so dass sich die diagnostische Betrachtung auf eine hochkomplexe Persönlichkeitsstörung einenge. Mit Blick auf die desolate Lebenssituation sei von dem Vorliegen schwerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten auszugehen. Über die Häufigkeit der behaupteten Ohnmachtsanfälle lasse sich keine Aussage treffen. Es sei jedoch davon auszugehen, dass es in Verbindung mit der Angstsymptomatik sehr wahrscheinlich sei, dass der Kläger unter ihn situativ bedrängenden Umständen, d.h. wenn er gezwungen werde, ohne Begleitperson die Wohnung zu verlassen, solche stressprovozierten Anfälle erleidet. Unter Abwägung aller Gesichtspunkte seien daher die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" ebenso mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit erfüllt wie diejenige des Merzeichens "B".

Die Beklagte hat die sozialmedizinische Stellungnahme vom 2. April 2008 eingereicht, in der darauf hingewiesen wird, dass fremdanamnestische Angaben zu Ohnmachtsanfällen fehlten und es deshalb bei der getroffenen Einschätzung verbleibe.

Durch am 5. Dezember 2008 verkündetes Urteil hat das Sozialgericht die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 26. Oktober 2005 verurteilt, bei dem Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "B" festzustellen. Dabei hat es offengelassen, an welcher Art von Anfällen der Kläger leidet. Entscheidend sei, dass Anfälle in mittlerer Anfallshäufigkeit vorlägen, die mit Bewusstseinsverlust und Sturzgefahr einhergingen. Derartige Anfälle erleide der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben. Seine Prozessbevollmächtigte habe in der mündlichen Verhandlung einen solchen Anfall aus eigener Anschauung bestätigt, indem sie geschildert habe, dass der Kläger auf dem kurzen Weg von seiner Wohnung zu ihrem Fahrzeug zu kollabieren drohte und nur mit Mühe habe zum Fahrzeug geschafft werden können. Dr. B1 habe gemeint, dass die Angaben des Klägers nachvollziehbar seien. Auf die Entscheidung wird ergänzend Bezug genommen. Sie wurde der Beklagten am 12. Februar 2009 zugestellt.

Mit ihrer am 27. Februar 2009 eingelegten Berufung trägt die Beklagte unter Hinweis auf eine beigefügte versorgungsärztliche Stellungnahme der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. von Metzler vor, es könnten nur diejenigen Personen das Merkzeichen "G" beanspruchen, deren Bewegungsfähigkeit infolge von Anfällen erheblich beeinträchtigt sei. Bei hirnorganischen Anfällen sei auf eine erhebliche Beeinträchtigung ab einer mittleren Anfallshäufigkeit zu schließen, wenn die Anfälle tagsüber auftreten. Vorliegend sei bislang immer nur von einem psychischen Leiden ausgegangen worden, ein fokales Anfallsleiden habe nicht gesichert werden können. Die in dem Gutachten genannten "deutlichen Hinweise" stellten keine gesicherte Erkenntnis dar. Auch mit Blick auf "mögliche Ohnmachtsanfälle" sei dies nicht der Fall.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Dezember 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das Berufungsgericht hat einen Entlassungsbericht der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik B. vom 31. August 2009 eingeholt, wo sich der Kläger vom 2. Juli bis zum 12. August 2009 in stationärer Behandlung befunden hat. Als Diagnosen werden dort eine Agoraphobie (ICD-10 F 40.01), eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (ICD-10 F 33.1) und eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1) sowie Tinnitus aurium (ICD-10 H 93.1), Innenohrschwerhörigkeit beidseits (ICD-10 H 90.3), Psoriasis vulgaris (ICD-10 L 40.0) und sonstige Rückenschmerzen: mehrere Lokalisationen der Wirbelsäule (ICD-10 M 54.80) angegeben, ferner der Verdacht auf eine somatoforme autonome Funktionsstörung im Sinne psychogener Anfälle (ICD-10 F 45.39), der Verdacht auf eine emotional instabile Persönlichkeit vom Borderline Typ (ICD-10 F 60.31) und schließlich der Verdacht auf psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen: Benzodiazepine (ICD-10 F 19.1). Differentialdiagnostisch bestehe der Verdacht auf eine fokale Epilepsie (ICD-10 F 19.1). Weiter heißt es, es habe eine posttraumatische Belastungsstörung gesichert werden können. Der Patient sei in der Kindheit sexuell misshandelt worden. Zu beobachtbaren Anfällen sei es während der stationären Behandlung nicht gekommen. Hier seien die Angaben des Patienten nicht eindeutig, so dass auch ein psychogenes Anfallsleiden in Betracht gezogen werden könnte.

Das Berufungsgericht hat den Kläger durch die Nervenärztin und Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen Dr. M. mit der Fragestellung untersuchen und schriftlich begutachten lassen, ob bei ihm ein hirnorganisches Anfallsleiden vorliegt und ob - bejahendenfalls - von einer mittleren Häufigkeit von am Tage auftretenden Anfällen auszugehen ist. In ihrem Gutachten vom 21. Mai 2010 verneint die medizinische Sachverständige dies unter Anschluss an die Einschätzung von Dr. B1. Ein hirnorganisches Anfallsleiden habe bisher nicht gesichert werden können. Es bestünden gesichert dissoziative Störungen mit Einengung des Bewusstseins, Stürzen und Bewegungsstörungen im Rahmen einer schweren komplexen psychischen Grunderkrankung. Diese träten in mittlerer Anfallshäufigkeit auf, so dass aus nervenärztlicher Sicht die analoge Beurteilung zu einem hirnorganischen Anfallsleiden und damit die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" seit Antragstellung für gerechtfertigt gehalten werde.

Die Beklagte trägt hierzu unter Hinweis auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Ärztin für Sozialmedizin Dr. F. vor, das Gutachten stütze sich ausschließlich auf die subjektiven Angaben des Klägers. Lediglich sein Betreuer H. berichte von einem Sturz, von welchem er vom Hörensagen Kenntnis erlangt habe. Dass EEG sei nicht verwertbar gewesen. Somit sei der Beweis eines hirnorganischen Anfallsleidens nicht erbracht, was letztlich auch die Gutachterin konstatiere. Eine analoge Beurteilung zu einem hirnorganischen Anfallsleiden komme nicht in Betracht. Auch insoweit fehle es an der mittleren Anfallshäufigkeit der psychogenen Anfälle. Des Weiteren sei ein Analogieschluss unzulässig. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der Versorgungsmedizinverordnung, wo eine Analogie nur bei Diabetes Mellitus mit häufigen hypoglykämischen Schocks zugelassen werde.

Der Kläger räumt in seiner daraufhin abgegebenen Stellungnahme ein, es gehe bei ihm nicht um das Vorliegen eines hirnorganischen Anfallsleidens, sondern nur darum, ob er in der Lage sei, sich ohne Begleitung sicher im öffentlichen Verkehr zu bewegen. Hierzu könne nicht auf die Häufigkeit eventueller Anfälle abgestellt werden. Denn diese überkämen ihn situationsbedingt und er sei nicht verpflichtet, derartige Situationen zu vermeiden. Es könne deshalb die Häufigkeit derartiger Anfälle nicht bewiesen werden und brauche es auch nicht. Die Ablehnung der Analogie durch die Beklagte beruhe schließlich auf einem rechtlich nicht haltbaren Schluss. Es sei unzutreffend, dass der Verordnungsgeber nur diese eine Analogie habe zulassen wollen. Dies komme im Wortlaut nicht zum Ausdruck und wäre überdies unter grundrechtlichen Aspekten unzulässig. Denn es gehe nach Sinn und Zweck des Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) - vor allem um die Selbstbestimmung. Deshalb sei der Behindertenbegriff weit gefasst und es werde auf die Ursache nicht abgestellt. Eine Einschränkung durch die Verordnung ginge nicht mit dem Ermächtigungsgesetz konform.

Auf den Hinweis des Berufungsgerichts, dass es in ständiger Rechtsprechung in Übereinstimmung mit dem Bundessozialgericht (Urteil vom 10. Mai 1994 - 9 BVs 45/93) davon ausgehe, das die in § 146 Abs. 1 SGB IX enthaltene Aufzählung abschließend sei und deshalb mit Anfällen nur solche hirnorganischen Ursprungs gemeint sei könnten sowie eine Einbeziehung psychogener Anfälle nicht möglich sei, trägt der Kläger vor, die angeführte Entscheidung des Bundessozialgerichts sei nicht einschlägig, denn diese befasse sich mit Antriebsstörungen, Verstimmungen und Angstzuständen, die ohne Bewusstseinsverlust aufträten. Im Übrigen müsse die Vorschrift dann zugunsten des Klägers erweiternd ausgelegt werden. Demgegenüber vertritt die Beklagte die Auffassung, dass die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts uneingeschränkt anwendbar sei.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der in der Sitzungsniederschrift vom 3. Juli 2012 aufgeführten Akten und Unterlagen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Rechtsweg:

SG Hamburg Urteil vom 05.12.2008 - S 46 SB 1/07

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht der Klage auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B" stattgegeben. Der Bescheid vom 26. Oktober 2005 und der Widerspruchsbescheid vom 23. November 2006, mit denen die Beklagte den Erlass des von dem Kläger begehrten feststellenden Verwaltungsaktes abgelehnt hat, sind rechtmäßig, weil der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" hat.

Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, deren Feststellung Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen - etwa die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr im Sinne des 13. Kapitels des SGB IX (§§ 145 ff. SGB IX) - ist. Nach § 3 Abs. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist auf dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "G" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne der §§ 145 Abs. 1, 146 Abs. 1 SGB IX ist. Diese Voraussetzungen liegen dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch infolge der Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Hierbei handelt es sich um Wegstrecken von 2 km Länge bei einer Fußwegdauer von etwa einer halben Stunde (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 -, BSGE 62, 273). Das Merkzeichen "B" ist - bei einem Inhaber des Merkzeichens "G" - zusätzlich einzutragen, wenn dieser schwerbehinderte Mensch bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen ist.

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 146 Abs. 1 SGB IX. Die Vorschrift wird durch die gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX auch für die Feststellungen im Schwerbehindertenrecht geltende Anlage Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zur Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV)) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, 2412) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I 2153) konkretisiert, die - wie zuvor bereits die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung bzw. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, hier: Ausgaben 2004, 2005 bzw. 2008 - AHP 2004/2005/2008) - nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, vgl. Urt. vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 10/06 R - für die AHP sowie Urt. vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 B - für die VersmedV) als so genannte antizipierte Sachverständigengutachten im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren - in ihrer jeweils aktuellen Fassung (vgl. BSG, Urt. vom 7. April 2011 - B 9 VJ 1/10 R) zu beachten sind.

Der Kläger leidet nicht an einer Einschränkung seines Gehvermögens. Zutreffend hat das Sozialgericht in seiner Entscheidung dargelegt, dass die bei dem Kläger vorliegenden psychischen Störungen und die damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu den in den VG aufgeführten Regelfällen zählt. Denn er leidet weder unter einer sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingt, noch liegen bei ihm Behinderungen vor, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken wie z.B. eine Versteifung des Hüftgelenks, Versteifungen der Knie- oder Fußgelenke in ungünstiger Stellung oder arterielle Verschlusskrankheiten. Er leidet auch nicht unter einer vergleichbaren Behinderung des Bewegungsapparates. Ferner liegt bei dem Kläger kein inneres Leiden vor, welches eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit verursacht, wie sie z.B. bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung oder bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen ist. Ebenso fehlt es nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen und den Ergebnissen der Begutachtungen an einer Störung der Orientierungsfähigkeit infolge geistiger Erkrankung, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen kann (vgl. VG Teil D 1 Punkt d; AHP 2004/ 2005/ 2008 Punkt 30 Abs. 3 bis 5). Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf deshalb weiterer Erörterung nicht. Wie die in beiden Rechtszügen durchgeführten Beweisaufnahmen ergeben haben, leidet der Kläger auch nicht unter hirnorganischen Anfällen, welche unter der Voraussetzung mittlerer Anfallshäufigkeit und - nach der neuesten Fassung der VG - eines GdB von 70 nach den Beurteilungskriterien der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu einer Einschränkung des Gehvermögens führen. Hiervon gehen beide tätig gewesenen medizinischen Sachverständigen aus. Auch die behandelnden Ärzte haben mehr als einen Verdacht auf einen hirnorganischen Prozess nicht geäußert. Dies reicht für die hierfür erforderliche Gewissheit in der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht aus.

Allerdings ist die rechtliche Prüfung eines Anspruchs auf das Merkzeichen "G" nicht darauf zu beschränken, ob der Kläger zu einer der in den VG bzw. in den AHP (vgl. VG Teil D 1; AHP 2004/2005/2008 Punkt 30) genannten Personengruppe gehört. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine abschließende Aufzählung des anspruchsberechtigten Personenkreises, sondern lediglich um Regelbeispiele, die für andere Behinderte als Vergleichsmaßstab dienen (BSG, Urt. vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R -; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 11. Dezember 2008 - L 11 SB 193/08 -). Bei den beschriebenen Regelfällen handelt es sich um Beispiele, in denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen sind. Aus ihnen ergibt sich, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wird durch die Konkretisierung dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP bzw. die VG jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (zuletzt: BSG, Urt. vom 24. April 2008, a.a.O.).

Auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens "G". Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 S. 1 SGG) wird er nicht von Anfällen psychischer Genese heimgesucht. Denn dies lässt sich nicht mit der hierfür erforderlichen vollen, d.h. vernünftige Zweifel ausschließenden Gewissheit feststellen. Außer dem Bericht der Prozessbevollmächtigten, die angibt, dass der Kläger einmalig auf dem Weg zum Auto zusammen zu brechen drohte, gibt es kein Zeugnis eines derartigen Vorfalls. Auch der Betreuer im Wohnheim berichtet hierüber nur vom Hörensagen. Schließlich bestätigt keiner der behandelnden Ärzte einen derartigen Vorfall. Es wird seitens der Behandler auch nicht darüber berichtet, dass der Kläger dort über derartige Ohnmachtsanfälle überhaupt geklagt habe. Geklagt wird vielmehr lediglich über Ängste. Schließlich hat es auch während der stationären Behandlung in Arolsen einen derartigen Vorfall nicht gegeben. All dies lässt den Senat nicht zu der Überzeugung gelangen, dass es derartige Vorfälle - jedenfalls in nennenswerter Zahl - überhaupt gegeben hat. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist der Kläger vielmehr in einer Weise psychisch erkrankt, die in daran hindert, am öffentlichen Straßenverkehr überhaupt teilzunehmen. Dies kommt in der Diagnose Agarophobie mit Panikstörung zum Ausdruck, wie sie anlässlich der stationären Behandlung vom 2. Juli bis 12. August 2009 in der Psychosomatischen Klinik B. gestellt wurde. Letztlich räumt dies auch der Kläger ein, wenn er davon spricht, dass die Ohnmachten bei ihm situationsbedingt, jedoch nicht anfallsartig auftreten.

Die bei dem Kläger danach vorliegenden psychischen Störungen sind nicht mit den in den VG genannten Personengruppen vergleichbar. Seine Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern aus anderen - im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Gewährung des begehrten Nachteilsausgleichs nicht zu berücksichtigenden - Gründen beeinträchtigt. Wie er selbst vorträgt, begibt er sich - bei erhaltenem Gehvermögen - nicht auf die Straße, weil er unter einer Agoraphobie leidet. Damit erfüllt er die durch die VG konkretisierten Kriterien des § 146 Abs. 1 SGB IX nicht. Eine analoge Anwendung der VG auf die Gesundheitsstörung des Klägers kommt nicht in Betracht. Denn die Fälle der die Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigenden Gründe, welche bei der Zuerkennung des Merkzeichens "G" einbezogen werden dürfen, sind nach der Rechtsprechung des BSG, der auch der erkennende Senat folgt, abschließend geregelt (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Mai 1994 - 9 BVs 45/93). Hierzu gehören lediglich die "Anfälle" und "Störungen der Orientierungsfähigkeit". Als nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt gelten daher psychisch erkrankte Personen, deren Leiden mit sonstigen Beeinträchtigungen oder Störungen einhergehen, wie etwa Verstimmungen, Antriebsminderung, Angstzuständen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Mai 1994, a.a.O). Letzteres ist bei dem Kläger der Fall. Allein seine Angstzustände verunmöglichen ihm die Bewegung auf der Straße. Eine Abweichung von der durch die AHP bzw. VG konkretisierten Regelung des § 146 Abs. 1 S. 1. SGB IX ist nicht möglich, weil der Gesetzgeber auch in Kenntnis der Entscheidung des BSG vom 10. Mai 1994 keine andere Regelung der Voraussetzungen des Merkzeichens "G" getroffen hat (vgl. zum Ganzen: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. September 2010 - L 11 SB 77/07 -, juris). Vielmehr ist auch nach dem Wortlaut der aktuellen Fassung der VG davon auszugehen, dass "Analoges" einzig beim Vorliegen hypoglykämischer Schocks gilt. Dafür schließlich, dass die VG nicht den gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.

Referenznummer:

R/R5716


Informationsstand: 14.05.2013