Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 144, 151
Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)) der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht der Klage auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B" stattgegeben. Der Bescheid vom 26. Oktober 2005 und der Widerspruchsbescheid vom 23. November 2006, mit denen die Beklagte den Erlass des von dem Kläger begehrten feststellenden Verwaltungsaktes abgelehnt hat, sind rechtmäßig, weil der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" hat.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist
§ 69 Abs. 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, deren Feststellung Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen - etwa die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr im Sinne des 13. Kapitels des
SGB IX (§§ 145
ff. SGB IX) - ist. Nach
§ 3 Abs. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist auf dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "G" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne der
§§ 145 Abs. 1,
146 Abs. 1 SGB IX ist. Diese Voraussetzungen liegen dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch infolge der Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Hierbei handelt es sich um Wegstrecken von 2
km Länge bei einer Fußwegdauer von etwa einer halben Stunde (Bundessozialgericht (
BSG), Urteil vom 10. Dezember 1987 -
9a RVs 11/87 -, BSGE 62, 273). Das Merkzeichen "B" ist - bei einem Inhaber des Merkzeichens "G" - zusätzlich einzutragen, wenn dieser schwerbehinderte Mensch bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen ist.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 146
Abs. 1
SGB IX. Die Vorschrift wird durch die gemäß § 69
Abs. 1 Satz 5
SGB IX auch für die Feststellungen im Schwerbehindertenrecht geltende
Anlage Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zur Verordnung zur Durchführung des § 1
Abs. 1 und 3, des 30
Abs. 1 und des § 35
Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizinverordnung (
VersMedV)) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, 2412) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I 2153) konkretisiert, die - wie zuvor bereits die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung
bzw. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, hier: Ausgaben 2004, 2005
bzw. 2008 -
AHP 2004/2005/2008) - nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (
BSG,
vgl. Urt. vom 24. April 2008 -
B 9/9a SB 10/06 R - für die
AHP sowie Urt. vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 B - für die VersmedV) als so genannte antizipierte Sachverständigengutachten im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren - in ihrer jeweils aktuellen Fassung (
vgl. BSG, Urt. vom 7. April 2011 - B 9 VJ 1/10 R) zu beachten sind.
Der Kläger leidet nicht an einer Einschränkung seines Gehvermögens. Zutreffend hat das Sozialgericht in seiner Entscheidung dargelegt, dass die bei dem Kläger vorliegenden psychischen Störungen und die damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu den in den
VG aufgeführten Regelfällen zählt. Denn er leidet weder unter einer sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen
GdB von wenigstens 50 bedingt, noch liegen bei ihm Behinderungen vor, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken wie
z.B. eine Versteifung des Hüftgelenks, Versteifungen der Knie- oder Fußgelenke in ungünstiger Stellung oder arterielle Verschlusskrankheiten. Er leidet auch nicht unter einer vergleichbaren Behinderung des Bewegungsapparates. Ferner liegt bei dem Kläger kein inneres Leiden vor, welches eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit verursacht, wie sie
z.B. bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung oder bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen ist. Ebenso fehlt es nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen und den Ergebnissen der Begutachtungen an einer Störung der Orientierungsfähigkeit infolge geistiger Erkrankung, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen kann (
vgl. VG Teil D 1 Punkt d;
AHP 2004/ 2005/ 2008 Punkt 30
Abs. 3 bis 5). Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf deshalb weiterer Erörterung nicht. Wie die in beiden Rechtszügen durchgeführten Beweisaufnahmen ergeben haben, leidet der Kläger auch nicht unter hirnorganischen Anfällen, welche unter der Voraussetzung mittlerer Anfallshäufigkeit und - nach der neuesten Fassung der
VG - eines
GdB von 70 nach den Beurteilungskriterien der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu einer Einschränkung des Gehvermögens führen. Hiervon gehen beide tätig gewesenen medizinischen Sachverständigen aus. Auch die behandelnden Ärzte haben mehr als einen Verdacht auf einen hirnorganischen Prozess nicht geäußert. Dies reicht für die hierfür erforderliche Gewissheit in der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht aus.
Allerdings ist die rechtliche Prüfung eines Anspruchs auf das Merkzeichen "G" nicht darauf zu beschränken, ob der Kläger zu einer der in den
VG bzw. in den
AHP (
vgl. VG Teil D 1;
AHP 2004/2005/2008 Punkt 30) genannten Personengruppe gehört. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine abschließende Aufzählung des anspruchsberechtigten Personenkreises, sondern lediglich um Regelbeispiele, die für andere Behinderte als Vergleichsmaßstab dienen (
BSG, Urt. vom 24. April 2008 -
B 9/9a SB 7/06 R -;
LSG Berlin-Brandenburg, Urt. vom 11. Dezember 2008 -
L 11 SB 193/08 -). Bei den beschriebenen Regelfällen handelt es sich um Beispiele, in denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen sind. Aus ihnen ergibt sich, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wird durch die Konkretisierung dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die
AHP bzw. die
VG jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (zuletzt:
BSG, Urt. vom 24. April 2008, a.a.O.).
Auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens "G". Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128
S. 1
SGG) wird er nicht von Anfällen psychischer Genese heimgesucht. Denn dies lässt sich nicht mit der hierfür erforderlichen vollen, d.h. vernünftige Zweifel ausschließenden Gewissheit feststellen. Außer dem Bericht der Prozessbevollmächtigten, die angibt, dass der Kläger einmalig auf dem Weg zum Auto zusammen zu brechen drohte, gibt es kein Zeugnis eines derartigen Vorfalls. Auch der Betreuer im Wohnheim berichtet hierüber nur vom Hörensagen. Schließlich bestätigt keiner der behandelnden Ärzte einen derartigen Vorfall. Es wird seitens der Behandler auch nicht darüber berichtet, dass der Kläger dort über derartige Ohnmachtsanfälle überhaupt geklagt habe. Geklagt wird vielmehr lediglich über Ängste. Schließlich hat es auch während der stationären Behandlung in Arolsen einen derartigen Vorfall nicht gegeben. All dies lässt den Senat nicht zu der Überzeugung gelangen, dass es derartige Vorfälle - jedenfalls in nennenswerter Zahl - überhaupt gegeben hat. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist der Kläger vielmehr in einer Weise psychisch erkrankt, die in daran hindert, am öffentlichen Straßenverkehr überhaupt teilzunehmen. Dies kommt in der Diagnose Agarophobie mit Panikstörung zum Ausdruck, wie sie anlässlich der stationären Behandlung vom 2. Juli bis 12. August 2009 in der Psychosomatischen Klinik B. gestellt wurde. Letztlich räumt dies auch der Kläger ein, wenn er davon spricht, dass die Ohnmachten bei ihm situationsbedingt, jedoch nicht anfallsartig auftreten.
Die bei dem Kläger danach vorliegenden psychischen Störungen sind nicht mit den in den
VG genannten Personengruppen vergleichbar. Seine Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern aus anderen - im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Gewährung des begehrten Nachteilsausgleichs nicht zu berücksichtigenden - Gründen beeinträchtigt. Wie er selbst vorträgt, begibt er sich - bei erhaltenem Gehvermögen - nicht auf die Straße, weil er unter einer Agoraphobie leidet. Damit erfüllt er die durch die
VG konkretisierten Kriterien des § 146
Abs. 1
SGB IX nicht. Eine analoge Anwendung der
VG auf die Gesundheitsstörung des Klägers kommt nicht in Betracht. Denn die Fälle der die Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigenden Gründe, welche bei der Zuerkennung des Merkzeichens "G" einbezogen werden dürfen, sind nach der Rechtsprechung des
BSG, der auch der erkennende Senat folgt, abschließend geregelt (
vgl. BSG, Beschluss vom 10. Mai 1994 - 9 BVs 45/93). Hierzu gehören lediglich die "Anfälle" und "Störungen der Orientierungsfähigkeit". Als nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt gelten daher psychisch erkrankte Personen, deren Leiden mit sonstigen Beeinträchtigungen oder Störungen einhergehen, wie etwa Verstimmungen, Antriebsminderung, Angstzuständen (
vgl. BSG, Beschluss vom 10. Mai 1994, a.a.O). Letzteres ist bei dem Kläger der Fall. Allein seine Angstzustände verunmöglichen ihm die Bewegung auf der Straße. Eine Abweichung von der durch die
AHP bzw. VG konkretisierten Regelung des § 146
Abs. 1
S. 1.
SGB IX ist nicht möglich, weil der Gesetzgeber auch in Kenntnis der Entscheidung des
BSG vom 10. Mai 1994 keine andere Regelung der Voraussetzungen des Merkzeichens "G" getroffen hat (
vgl. zum Ganzen:
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. September 2010 - L 11 SB 77/07 -, juris). Vielmehr ist auch nach dem Wortlaut der aktuellen Fassung der
VG davon auszugehen, dass "Analoges" einzig beim Vorliegen hypoglykämischer Schocks gilt. Dafür schließlich, dass die
VG nicht den gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160
Abs. 2
Nr. 1 oder
Nr. 2
SGG nicht vorliegen.