Urteil
Zulässigkeit einer vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens erhobenen Klage - Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung diverser Merkzeichen

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat


Aktenzeichen:

L 13 SB 101/11


Urteil vom:

06.09.2012


Grundlage:

  • SGG § 105 Abs. 1 S. 3 |
  • SGG § 159 Abs. 1 Nr. 1

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 13. Mai 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Cottbus zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung der Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung), "B" (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson), "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), "H" (Hilflosigkeit) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).

Der 1945 geborene Kläger, bei dem 2002 ein GdB von 60 festgestellt worden war, beantragte am 15. Juli 2010 die Neufeststellung des GdB sowie die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "aG". Telefonisch bat er am 30. Juli 2010, das Merkzeichen "RF" in den Antrag aufzunehmen.

Am 12. Oktober 2010 ging ein undatiertes Schreiben des Klägers bei dem Sozialgericht Cottbus ein, in dem er u.a. ausführte: "Widerspruch gegen diese Entscheidung! Ebenso gibt es keine neue Begutachtung des MDK für eine Pflegestufe. Beantragt Erhöhung Schwerbehinderung, jetzt 60 unbefristet." Auf telefonische Nachfrage des Gerichts erklärte er am 13. Oktober 2010, dass er gegen die AOK Teltow wegen Erteilung einer Pflegestufe klage.

Mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 trennte das Sozialgericht das "Klageverfahren bezüglich der Feststellung des GdB" von dem die Leistungen der Pflegeversicherung betreffenden Klageverfahren ab und führte es unter dem Az. S 26 SB 258/10.

Mit Bescheid vom 25. Oktober 2010 lehnte der Beklagte eine Erhöhung des GdB sowie die Zuerkennung der Merkzeichen "G", "aG" und "RF" ab.

Am 2. November 2010 ist bei dem Sozialgericht das Schreiben des Klägers vom 30. Oktober 2010 eingegangen, mit welchem er "Widerspruch" gegen den Ablehnungsbescheid vom 25. Oktober 2010 eingelegt hat. Mit weiterem Schreiben vom 10. November 2010, bei dem Sozialgericht am 12. November 2010 eingegangen, hat der Kläger ausgeführt, er habe die Merkzeichen "aG" und "RF" beantragt. Wörtlich heißt es weiter: "Dazu müsste noch H. B." Dies habe er dem Merkblatt entnommen.

Nach Anhörung des Klägers hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 13. Mai 2011 die auf die Zuerkennung der Merkzeichen "aG", "RF", "B" und "H" gerichtete Klage als unzulässig abgewiesen: Denn der Kläger habe bereits am 12. Oktober 2010 und somit vor Erteilung des Ablehnungsbescheides vom 25. Oktober 2010 Klage erhoben. Eine vorsorgliche Klageerhebung sei jedoch nicht möglich. Zudem sei das erforderliche Widerspruchsverfahren nicht durchgeführt worden.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt.

Während des Berufungsverfahrens hat der Beklagte den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2012 mit der Begründung zurückgewiesen, der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB und Zuerkennung der Merkzeichen "G", "B", "aG", "H" und "RF".

Dem Vorbringen des Klägers ist der Antrag zu entnehmen,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 13. Mai 2011 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 25. Oktober 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2012 zu verurteilen, bei ihm ab Antragstellung einen Grad der Behinderung von mehr als 60 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G", "B", "aG", "H" und "RF" festzustellen.

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Rechtsweg:

SG Cottbus Gerichtsbescheid vom 13.05.2011 - S 26 SB 258/10
Zurückverweisung an das SG

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin verhandeln und entscheiden (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.

Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden.

I. Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.

1. Die Unzulässigkeit der Klage folgt nicht daraus, dass der Kläger sich bereits vor Bescheiderteilung an das Gericht gewandt hätte. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob das am 12. Oktober 2010 eingegangene Schreiben des Klägers überhaupt als eine auf Erhöhung des GdB gerichtete Klage verstanden werden darf. Der Wortlaut ("Widerspruch gegen diese Entscheidung") legt es vielmehr nahe, dass der Kläger keine vorbeugende Klage erheben wollte, sondern sich gegen einen bereits erlassenen Verwaltungsakt - offenbar im Bereich des Pflegeversicherungsrechts - wandte. Hierfür spricht auch die Erklärung des Klägers im Telefonat vom 13. Oktober 2010, dass er gegen die AOK Teltow wegen Erteilung einer Pflegestufe klage. Die Wendung "Beantragt Erhöhung Schwerbehinderung, jetzt 60 unbefristet" stellt sich vor diesem Hintergrund als bloßes Begründungselement dar. Dies kann jedoch offen bleiben. Denn jedenfalls hat der Kläger mit dem an das Sozialgericht gerichteten Schreiben vom 30. Oktober 2010 gegen den Ablehnungsbescheid vom 25. Oktober 2010 - also zeitlich nach dessen Erlass - Klage erhoben.

2. Ferner war das Sozialgericht rechtlich gehindert, die Klage mit der Begründung als unzulässig abzuweisen, dass das erforderliche Widerspruchsverfahren nicht durchgeführt worden sei. In diesem Fall hätte es - u.U. unter Aussetzung des Klageverfahrens - dem Kläger die Möglichkeit geben müssen, das Widerspruchsverfahren nachzuholen (vgl. Leitherer, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, Rn. 3a zu § 78 SGG, mit weiteren Nachweisen). Die Nachholung war auch nicht ausgeschlossen. Denn in der Klageerhebung liegt gleichzeitig die Einlegung des Widerspruchs (vgl. Leitherer a.a.O., Rn. 3b zu § 78 SGG). Bei Eingang des Schreibens vom 30. Oktober 2010 am 2. November 2010 war die Widerspruchsfrist gegen den Ablehnungsbescheid vom 25. Oktober 2010 noch nicht abgelaufen. Da inzwischen der Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2012 erlassen hat, steht der Zulässigkeit der Klage das Fehlen eines Vorverfahrens nicht mehr entgegen.

3. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist das Begehren des Klägers, dass bei ihm ein höherer GdB als 60 festgestellt wird, Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits. Dies ergibt sich daraus, dass dieser sich mit dem Schreiben vom 30. Oktober 2010 ohne Einschränkung gegen den Bescheid vom 25. Oktober 2010 gewandt hat, mit welchem der Beklagte nicht nur die Zuerkennung der Merkzeichen "G", "aG" und "RF", sondern auch die Festsetzung eines höheren GdB als 60 ablehnte. Obwohl hinsichtlich der ferner geltend gemachten Merkzeichen "B" und "H" ein Ausgangsbescheid fehlt, bildet auch dieses Begehren einen zulässigen Streitgegenstand, da der Beklagte hierüber im Widerspruchsbescheid entschieden hat. Denn ein Vorverfahren ist entbehrlich, wenn der Widerspruchsbescheid ohne vorangehenden Verwaltungsakt ergangen ist (vgl. Leitherer a.a.O., Rn. 8 zu § 78 SGG).

II. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse des Klägers an einer Erledigung des Rechtsstreits im vorliegenden Berufungsverfahren gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und tatsächliche Ermittlungen im erheblichen Umfang erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen Sachentscheidung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fällt. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn der Widerspruchsbescheid ist erst im Januar 2012 erlassen worden, so dass es prozessökonomischer erscheint, dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben.

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben.

Referenznummer:

R/R6052


Informationsstand: 06.03.2014