I.
Die Klage ist zulässig, insbesondere richtet sie sich gegen die richtige Klagegegnerin.
Durch § 1
Abs. 1, § 2
Abs. 1 des Gesetzes zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen - Eingliederungsgesetz - (
Art. 1 Abschnitt I des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007, GV. NRW
S. 482 - Straffungsgesetz -) hat der Landesgesetzgeber die den Versorgungsämtern nach
§§ 69 und
145 SGB des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX) zugewiesenen Aufgaben in zulässiger Weise mit Wirkung vom 01.01.2008 auf die Kreise und kreisfreien Städte übertragen (
vgl. dazu Landessozialgericht -
LSG - Nordrhein-Westfalen Urteil vom 12.02.2008 -
L 6 SB 101/06;
LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 05.03.2008 -
L 10 SB 40/06; zur Anwendung des Behördenprinzips in Nordrhein-Westfalen bei sozialgerichtlichen Streitigkeiten Bundessozialgericht -
BSG - Urteil vom 24.03.2009, B 9 SO 29/07 R). Die Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster zur Entscheidung über den Widerspruch ergibt sich aus § 2
Abs. 2 Satz 2 Eingliederungsgesetz in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 25.10.2011 (GV. NRW
S. 542; dazu auch
LSG NRW Beschluss vom 16.01.2012 -
L 10 SB 197/11 = juris Rn. 16;
LSG NRW Urteil vom 06.12.2009 -
L 10 SB 39/09 = juris Rn. 23
ff.).
II.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54
Abs. 2
SGG beschwert. Die Bescheide sind rechtmäßig. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Feststellung eines höheren
GdB als 70 noch liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G, B und RF vor.
1. Nach
§ 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69
Abs. 1 Satz 4
SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69
Abs. 3
SGB IX der
GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigung in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Die Bemessung des Gesamt-
GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (
BSG Beschluss vom 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5
m.w.N.;
LSG NRW Urteil vom 29.06.2012 -
L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2
Abs. 1
SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-
GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-
GdB zu bilden (
BSG Urteil vom 30.09.2009 -
B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18
m.w.N.;
LSG NRW Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
Nach
Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30
Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1
Abs. 1 und 3, des § 30
Abs. 1 und des § 35
Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008,
S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69
Abs. 1, Satz 4
SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte zuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. D) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem
GdB von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Beeinträchtigungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.
Schließlich sind bei der Feststellung des Gesamt-
GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste
GdB-Werte angegeben sind (
BSG Urteil vom 02.12.2010 -
B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25;
vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).
Bei der Klägerin bestehen seit der Antragstellung bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung folgende gesundheitliche Beeinträchtigungen:
a) schwergradige seelische Beeinträchtigung in Form einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen vor.
b) Tinnitus aurium
c) Versteifung des rechten Mittelfingers
d) Reizdarm, medikamentös behandelt.
Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte sowie des Gutachtens der Frau
Dr. S. fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von Frau
Dr. S. als erfahrener medizinischer Gutachterin unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass, an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde zu zweifeln. Substantiierte Einwendungen gegen die medizinischen Feststellungen sind von den Beteiligten ebenfalls nicht vorgebracht worden.
Für die bei der Klägerin vorliegende schwere depressive Episode mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ist der
GdB für das Funktionssystem Nerven und Psyche mit 70 zu bewerten.
Nach
Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist für den Fall einer schweren Neurose, Persönlichkeits- oder psychischen Traumafolgestörung bei mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten der
GdB zwischen 50 und 70 zu bemessen. Die Kammer geht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme - in Übereinstimmung auch mit dem Beklagten - davon aus, dass der
GdB der Klägerin grundsätzlich durch diesen Rahmen vorgegeben ist.
Der Rahmen ist nach oben auszuschöpfen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können zur Auslegung der Begriffe "mittelgradige" und "schwere" soziale Anpassungsschwierigkeiten die vom ärztlichen Sachverständigenbeirat am Beispiel des "schizophrenen Residualzustandes" entwickelten Abgrenzungskriterien herangezogen werden (
vgl. BSG, Urteil vom 23. April 2009 - B 9
VG 1/08 R = juris Rn. 43. juris unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 und vom 8./9. November 2000; so unlängst auch
LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 06.02.2013 - L 11 SB 245/10 = juris Rn. 45 ff;
vgl. auch Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil B Ziffer 3.7; Steffens, in: Nieder/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, B 3, S 86
ff.). Danach werden leichte soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen, wenn
z. B. Berufstätigkeit trotz Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ohne wesentliche Beeinträchtigung möglich ist (wesentliche Beeinträchtigung nur in besonderen Berufen,
z. B. Lehrer, Manager) und keine wesentliche Beeinträchtigung der familiären Situation oder bei Freundschaften,
d. h. keine krankheitsbedingten wesentlichen Eheprobleme bestehen. Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten werden angenommen bei einer in den meisten Berufen sich auswirkenden psychischen Veränderung, die zwar eine weitere Tätigkeit grundsätzlich noch erlaubt, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingt, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt; als weiteres Kriterium werden erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung genannt, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der
z. B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte. Schließlich liegen nach dieser Einstufung schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten dann vor, wenn die weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen ist; als weiteres Kriterium werden schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- oder Bekanntenkreis bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis benannt. Eine weitere Konkretisierung und Spezifizierung kann darüber hinaus anhand der Vorgaben des
ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) aus dem Jahr 2005 erfolgen, welche die Alltagstauglichkeit ausdifferenzierter beschreiben, als dies durch die oben genannten Beschlüsse des Sachverständigenbeirats gewährleistet wird (
vgl. hierzu auch Steffens, in: Nieder/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, B 3, S 86
ff.).
Die Klägerin ist in ihrem Alltagsleben infolge ihrer seelischen Beeinträchtigung erheblich eingeschränkt. Die Einschränkungen resultieren dabei insbesondere aus der mit der schwergradigen depressiven Störung verbundenen Antriebs- und Interesselosigkeit, die sich sowohl auf das Alltagsleben als auch die Erwerbsfähigkeit der Klägerin und ihr Sozialleben auswirken. So ist die Klägerin seit dem Jahr 0000 aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung nicht mehr in der Lage, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen und bezieht inzwischen eine 100%ige Erwerbsminderungsrente bis zum Eintritt in das gesetzliche Rentenalter. Das Haus verlässt sie nur noch ungern und sehr sporadisch bevorzugt in Begleitung ihres Ehemannes. Über einen persönlichen Freundeskreis verfügt sie nicht mehr. Seit 0000 führt die Klägerin auch kein Fahrzeug mehr.
Gleichwohl ist bei der Klägerin trotz ihrer Erkrankung ein nicht zu vernachlässigendes Restfunktionsniveau erhalten, das eine Integration der Klägerin in bestimmte Lebensbereiche jedenfalls mit Unterstützung ihres Ehemannes ermöglicht. Insbesondere gelingt es ihr nach wie vor, in gewissem Umfang Verantwortung für das Familienleben und ihre Kinder zu übernehmen sowie relativ komplexe Planungsleistungen zu erbringen. So kocht die Klägerin mindestens viermal in der Woche für ihre Familie abends zu einem festen Zeitpunkt und beaufsichtigt aus eigenem Antrieb die Hausaufgaben ihrer jüngeren Tochter. Auch an ihrer Ehe hält die Klägerin fest. In Begleitung ihres Ehemannes nimmt sie außerdem an Familienfeierlichkeiten teil. Darüber hinaus gibt sie ihrem Ehemann regelmäßig die Einkäufe für den Haushalt vor. Es gelingt ihr mithin trotz ihrer Erkrankung, sich einen Überblick über die Notwendigkeiten und Bedürfnisse ihrer Familie und des Haushalts zu verschaffen und sogar selbständig entsprechend planerisch zu handeln.
Aufgrund der dargestellten deutlichen Einschränkungen - insbesondere auch im Hinblick auf die Tatsache, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage ist zu arbeiten - ist der
GdB für die seelische Beeinträchtigung der Klägerin nach Auffassung der Kammer dennoch im oberen Bereich anzusiedeln, so dass ein
GdB von 70 für die seelische Beeinträchtigung der Klägerin angemessen erscheint.
Für das Funktionssystem der Ohren ist ein
GdB von 10 in Ansatz zu bringen. Gemäß
Ziffer 5.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind Ohrgeräusche (Tinnitus) ohne nennenswerte (eigene) psychische Begleiterscheinungen mit einem
GdB von 0-10 zu bewerten. Die Klägerin war, dies machen ihre Schilderungen und die vorliegenden ärztlichen Feststellungen klar, trotz des seit 0000 bestehenden Tinnitus in der Lage, ein völlig uneingeschränktes Leben zu führen. Die Kammer schließt sich daher der Auffassung der Gutachterin Frau
Dr. S. an, nach der der Tinnitus für sich zu keiner wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führt und daher mit einem
GdB von höchstens 10 zu bewerten ist.
Gleiches gilt für die Versteifung des rechten Mittelfingers. Gemäß Ziffer 18.13 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist die Versteifung eines Fingers in günstiger Stellung (mittlere Gebrauchsstellung), d.h. nicht in Streck- oder starker Beugestellung, für sich mit einem
GdB von 0-10 zu bewerten. Dass bei der Klägerin eine solche erheblich störende Streck- oder starke Beugestellung vorliegt, ergibt sich weder aus ihrem eigenen Vortrag noch aus den ärztlichen Befundberichten. Auch Frau
Dr. S. hat im Rahmen der Erhebung der körperlichen Befunde keine entsprechenden Feststellungen getroffen. Demnach ist nach der Auffassung der Kammer für diese Funktionsbeeinträchtigung ebenfalls ein
GdB von 10 anzusetzen.
Schließlich ist für das Funktionssystem der Verdauungsorgane der von der Klägerin beklagte Reizdarm zu berücksichtigen. Dieser stellt sich jedoch als unter Medikation als normal dar. Ein
GdB kommt gemäß
Teil B Ziffer 10.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze hierfür nicht in Betracht.
Auf der Grundlage der genannten Einzel-
GdB-Werte ist bei der Klägerin für den streitbefangenen Zeitraum nach § 69
Abs. 3
SGB IX in Verbindung mit Teil A
Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Gesamt-
GdB von 70 zu bilden.
§ 69
Abs. 3 Satz 1
SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-
GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (
LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf
BSG Urteil vom 11.03.1998 -
B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10
m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (
BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).
Im vorliegenden Fall stehen die psychischen Beeinträchtigungen bei der Klägerin mit einem
GdB von 70 absolut im Vordergrund. Die übrigen Beeinträchtigungen sind entsprechend den Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem
GdB von 10 zu bewerten und nehmen in der Regel an der Bildung des Gesamt-
GdB nicht teil Ausnahmen, die im vorliegenden Fall eine Berücksichtigung gleichwohl erforderlich machten, liegen nicht vor.
Insgesamt sind daher die Beeinträchtigungen der Klägerin mit einem Gesamt-
GdB von 70 angemessen bewertet.
2. Die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G kommt jedoch nicht in Betracht.
Gemäß § 145
Abs. 1 Satz 1
SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Nach
§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Die Länge der In § 146
Abs. 1 Satz 1
SGB IX genannten Wegstrecke ist gesetzlich nicht geregelt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts beträgt die üblicherweise im Ortsverkehr zurückgelegte Strecke zwei Kilometer, die etwa in einer halben Stunde zurückgelegt werden (etwa
BSG Urteil vom 10.12.1987 -
9a RVs 11/87 = juris Rn. 13
ff.;
BSG Urteil vom 13.08.1997 -
9 RVs 1/96 = juris Rn. 19;
BSG Urteil vom 27.08.1998 - B 9 SB 13/97 R = juris Rn. 15).
Erläuternde Feststellungen zur Zuerkennung des Merkzeichens G enthält
Teil D Ziffer 1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (zur Qualifikation der Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Erläuterungen
LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 13.07.2010 - 6 SB 133/09 = juris Rn. 27 zum Merkzeichen aG). Die Frage, ob die Versorgungsmedizinischen Grundsätze darüber hinaus als
Rechtsverordnung verbindliche Festlegungen enthalten, ist umstritten. So wird teilweise die Auffassung vertreten, eine Ermächtigungsgrundlage zur Schaffung einer
Rechtsverordnung betreffend die im
SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche sei nicht gegeben. Insbesondere enthalte die durch die Versorgungsmedizinischen Grundsätze in Bezug genommene Regelung des § 30
Abs. 17 BVG a.F. (nunmehr § 30
Abs. 16 BVG) keine entsprechende Ermächtigung (Dau, jurisPR-SozR 4/2009
Anm. 4;
LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 02.10.2012 -
L 8 SB 1914/10 = juris Rn. 26). Die Regelungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Nachteilsausgleich G seien damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Rechtsgrundlage seien daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze.
Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an. Sie ist gleichwohl der Ansicht, dass die Feststellungen des Teil D Ziffer 1 mit in die Bewertung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G einbezogen werden können, wenngleich freilich nicht als Rechtsgrundlage im Sinne einer
Rechtsverordnung.
Die Feststellungen in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen werden auf Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze evidenzbasierter Medizin erstellt und fortentwickelt, § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung. Sie enthalten - im Hinblick auf das Merkzeichen G - im Wesentlichen die gleichen Regelungen wie bereits Ziffer 30 der vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2
SGB IX), zuletzt aus dem Jahr 2008 (
AHP 2008). Die
AHP 2008 beschrieben in Ziffer 30
Abs. 3 bis 5 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten. Sie gaben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Beeinträchtigung im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist" (
BSG Urteil vom 24.04.2008 -
B 9/9a SB 7/06 R = juris Rn. 12;
BSG Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVs 1/96 = juris Rn. 19). Die Festlegungen der Anhaltspunkte sind von der Rechtsprechung - als antizipierte Sachverständigengutachten - bei der Frage der Beurteilung der Zuerkennung von Merkzeichen zugrundegelegt worden.
Eine entsprechende Funktion erfüllen auch die nunmehr in Teil D Ziffer 1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze dargelegten Regelungen (für eine Anwendung der in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen dargelegten Anforderungen auch Bayerisches
LSG Urteil vom 26.09.2012 - L 15 SB 46/09 = juris Rn. 61;
LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 19.12.2011 -
L 13 SB 12/08 = juris Rn. 29;
LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.11.2011 - L 11 SB 67/09 = juris Rn. 34; wohl auch
LSG Niedersachen-Bremen Urteil vom 09.08.2012 - L 10 SB 10/12 = juris Rn. 15;
LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 -
L 6 SB 133/09 = juris Rn. 29 - zu aG; a.A. offensichtlich
LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 12.10.2011 -
L 6 SB 3032/11 = juris Rn. 39
ff.; Vogl in: jurisPK-SGB IX, § 146
SGB IX Rn. 5).
Bei der Klägerin liegen keine wesentlichen Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit vor, die entsprechend obiger Vorgaben die Zuerkennung des Merkzeichens G rechtfertigen würden.
Darüber hinaus können freilich die Voraussetzungen für das Merkzeichen G auch bei inneren Leiden gegeben sein, wenn sich diese negativ auf das Gehvermögen auswirken. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit etwa auch bei bestimmten schwereren Herzbeeinträchtigungen oder Atembehinderungen sowie auch bei hirnorganischen Anfällen anzunehmen. Bei letzteren kommt es dabei maßgeblich auf die Art und Häufigkeit der Anfälle sowie die Tageszeit des Auftretens an. Das Merkzeichen G kommt bei hirnorganischen Anfällen bei einer mittleren Anfallshäufigkeit mit einem
GdB von wenigstens 70 in Betracht, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten (Teil D Ziffer 1 lit. 1) Versorgungsmedizinische Grundsätze in der Fassung der Ersten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung - 1. VersMedVÄndV; dazu auch
LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.11.2011 - L 11 SB 67/09 = juris Rn. 52
ff.). Schließlich sind auch bei Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G gegeben. Dies ist etwa bei Sehbehinderungen mit einem
GdB von wenigstens 70, bei Sehbehinderungen, die einen
GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (
z.B. hochgradige Schwerhörigkeit beidseits, geistige Behinderung) anzunehmen. Bei Hörbehinderung ist die Annahme solcher Störungen nur bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr - Beendigung der Gehörlosenschule) oder im Erwachsenenalter bei diesen Hörstörungen in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion
(z. B. Sehbehinderung, geistige Behinderung) gerechtfertigt.
Entsprechende Störungen, die danach die Zuerkennung des Merkzeichens G rechtfertigen könnten, liegen bei der Klägerin nicht vor. Insbesondere liegt bei der Klägerin kein Anfallsleiden vor. Zwar erwähnt sie in ihrem ersten Widerspruchsschreiben vom 00.00.0000 das Auftreten spastischer Anfälle, die sie am selbständigen Toilettengang hindern sollen. Derartige Anfälle werden jedoch durch kein ärztliches Gutachten objektiviert und von ihr auch selbst im weiteren Verfahrensverlauf nicht mehr erwähnt.
Bei geistig und psychisch (Hessisches
LSG Urteil vom 22.10.2008 -
L 4 SB 33/07 = juris Rn. 28) Behinderten sind allerdings - nach Maßgabe der Rechtsprechung und dem derzeitigen Stand sozialmedizinischer Beurteilung - entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit dann vorauszusetzen, wenn diese sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich benutzen, nur schwer zurechtfinden können. Unter diesen Umständen ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei geistigen Behinderungen mit einem
GdB um 100 immer und mit einem
GdB um 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen. Bei einem
GdB unter 80 kommt eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht.
Teil D Ziffer 1 lit. f) Versorgungsmedizinische Grundsätze. Hierbei handelt es sich freilich lediglich um Personengruppen, bei denen ohne weitere Prüfung die gesundheitlichen Voraussetzungen festzustellen sind (so zu Recht - zu den
AHP - Sächsisches
LSG Urteil vom 03.07.2002 - L 1 SB 10/02 = juris Rn. 20
ff.;
LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.11.2011 - L 11 SB 67/09 = juris Rn. 34).
Es war daher bei der Klägerin zu prüfen, ob auch bei einem
GdB von 70 von einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit ausgegangen werden kann.
Dies steht zur Überzeugung der Kammer indes nicht fest.
Die Klägerin leidet zwar unter einer schweren seelischen Beeinträchtigung verbunden mit Antriebs- und Interessenlosigkeit, die medikamentös sowohl mit einem Antidepressivum (Wirkstoff: Sertralin), einem atypischen (Seroquel®, Wirkstoff: Quetiapin) sowie einem niederpotenten (Wirkstoff: Pipamperon) Neuroleptikum behandelt wird. Ausweislich ihrer jeweiligen Beipackzettel kann die sedierende Wirkung der Medikamente, wie von der Klägerin vorgetragen, in der Tat eine Teilnahme am Straßenverkehr beeinträchtigen. Nebenwirkungen von Medikamenten für sich allein genügen allerdings grundsätzlich nicht, um die Zuerkennung eines Merkzeichens, insbesondere des Merkzeichens G, zu rechtfertigen, wenn die Beeinträchtigungen nicht dauerhaft vorhanden und damit häufigen hirnorganischen Anfällen gleichzusetzen sind (
LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 27.08.2008 - L 10 SB 112/04).
Im Falle der Klägerin lassen sich derartige dauerhafte Beeinträchtigungen der Orientierungsfähigkeit durch die derzeitige Medikamentengabe nicht objektivieren. Ausweislich sämtlicher ärztlicher Befundberichte sowie des Gutachtens der Frau
Dr. S. war die Klägerin zu jedem Termin zu allen Qualitäten, insbesondere örtlich-situativ, orientiert. Anhaltspunkte für Einschränkungen in diesem Bereich ergeben sich nicht. Auch substantiiert die Klägerin selbst ihr diesbezügliches Vorbringen nicht weiter. So schildert sie keinerlei mit einer Desorientierung verbundene Unsicherheiten etwa bei Besuchen von Verwandten oder auch im eigenen Haushalt. Vielmehr begründet sie ihre reduzierte Wahrnehmung sozialer Kontakte selbst ausschließlich mit Interesselosigkeit. Es erscheint aber wenig wahrscheinlich, dass sich Orientierungsstörungen lediglich dann zeigen, wenn die Klägerin allein das Haus verlassen möchte. Störungen in Bezug auf die zeitliche Orientierung
bzw. hinsichtlich der eigenen Person werden von der Klägerin schon selbst nicht vorgetragen und finden sich gleichfalls in keiner ärztlichen Stellungnahme. Die derzeitige Medikation mit Antidepressiva und Neuroleptika besteht darüber hinaus weitgehend unverändert seit 0000. Ein Fahrzeug führt die Klägerin jedoch bereits seit 0000 nicht mehr und reduziert seitdem auch ihre Sozialkontakte. Bedeutsame Einschränkungen und insbesondere eine eingeschränkte Teilnahme am Straßenverkehr bestanden daher schon deutlich vor der jetzigen Medikation. Gleichzeitig gab es nach eigenen Angaben der Klägerin auch während der Einnahmephase der Medikamente bessere und geradezu "euphorische" Phasen, so unmittelbar nach Entlassung aus ihrem mehrmonatigen Klinikaufenthalt in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätsklinik B ... Dies spricht insgesamt dafür, dass die reduzierte Teilnahme der Klägerin am Straßenverkehr weniger in Orientierungsstörungen infolge von (Neben-)Wirkungen der Medikamente begründet ist als vielmehr in der Antriebs- und Interesselosigkeit als Charakteristikum ihrer seelischen Beeinträchtigung. Dass diese seelische Beeinträchtigung für sich die Orientierungsstörungen begründet, trägt die Klägerin selbst nicht vor und ist auch sonst nicht ersichtlich. Psychische Erkrankungen, die "nur" mit sonstigen Beeinträchtigungen etwa in Form von Verstimmungen, Antriebslosigkeit und Ängsten einhergehen, sind jedoch nicht mit hirnorganischen Anfällen gleichzusetzen und erlauben keine Gleichstellung mit dem oben genannten Personenkreis, der aufgrund seiner Leiden die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G erfüllt (Hessisches Landessozialgericht Urteil vom 22.10.2008 - L 4 SB 33/07 = juris Rn. 28;
LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 27.08.2008 - L 10 SB 112/04;
BSG Beschluss vom 10.05.1994 -
9 BVs 45/93 = juris Rn. 3).
3. Die Feststellung für das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Merkzeichens B kommt ebenfalls nicht Betracht.
Für die unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson nach § 145
Abs. 2
Nr. 1
SGB IX ist in Verbindung mit § 146
Abs. 2
SGB IX die Notwendigkeit ständiger Begleitung zu beurteilen. Ständige Begleitung ist - nach ständiger Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (dazu schon oben) - bei schwerbehinderten Menschen, bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen G oder H vorliegen, notwendig, wenn sie infolge der Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Die Zuerkennung dieses Merkzeichens scheitert schon formal daran, dass weder das Merkzeichen G noch das Merkzeichen H bei der Klägerin vorliegen. Es ist darüber hinaus und insbesondere mangels objektivierbarer Orientierungsstörungen auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel etwa beim Ein- und Aussteigen benötigt, um sich oder andere nicht zu gefährden.
4. Auch die Feststellung für das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens RF kommt nicht in Betracht.
Nach der Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 30.11.1993 des Landes Nordrhein-Westfalen (GVBl. NRW 1993,
S. 970) steht das Merkzeichen RF den Fürsorgeberechtigten im Sinne des § 27e BVG, Blinden oder nicht nur vorübergehend sehbehinderten Personen mit einem
GdB von 60 allein wegen der Sehbehinderung sowie Hörgeschädigten, die gehörlos sind, oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Gehörhilfen nicht möglich ist, zu. Eine Inanspruchnahme kommt überdies nach § 1
Nr. 3 der Verordnung in Betracht, wenn ein behinderter Mensch aufgrund seiner Leiden gehindert ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen (zum Merkzeichen RF
BSG Urteil vom 16.02.2012
B 9 SB 2/11 R = juris Rn. 22,24).
Öffentliche Veranstaltung ist dabei jede grundsätzlich jedermann uneingeschränkt oder bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen (
z.B. Eintrittsgeld) zugänglich gemachte Veranstaltung im Sinne einer Organisation von Darbietungen verschiedenster Art; dazu zählen Veranstaltungen politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art, wobei es auf das tatsächliche Angebot von Veranstaltungen im örtlichen Einzugsbereich des Behinderten ebenso wenig ankommt wie auf seine persönlichen Vorlieben, Bedürfnisse, Neigungen oder Interessen (Bayerisches
LSG Urteil vom 25.09.2012 -
L 3 SB 15/12 = juris Rn. 27 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des
BSG; auch
BSG Urteil vom 10.08.1993,
9/9a RVs 7/91; Urteil vom 16.03.1994, 9/9a RVs 3/83; Urteil vom 12.02.1997, 9/9a RVs 2/93;
LSG NRW Urteil vom 18.01.2006;
LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.03.2012 -
L 11 SB 105/09 = juris Rn. 41). Dazu gehören nicht nur Theater-, Oper-, Konzert- und Kinovorstellungen, sondern auch Veranstaltungen wie etwa Ausstellungen, Messen, Museen, Märkte, Gottesdienste, Volksfeste, Sportveranstaltungen sowie Tier- und Pflanzengärten. Maßgeblich ist allein die Möglichkeit der körperlichen Teilnahme, gegebenenfalls mit technischen Mitteln (
z.B. Rollstuhl) und/oder mit Hilfe einer Begleitperson (Bayerisches
LSG Urteil vom 25.09.2012 -
L 3 SB 15/12 = juris Rn. 27 unter Bezugnahme auf
BSG Urteil vom 11.09.1991 - 9/9a RVs 15/98 = juris Rn. 9). Die Unmöglichkeit zur Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leides ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist.
Aufgrund des eingeholten gerichtlichen Gutachtens sowie der Befundberichte steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Klägerin derzeit nicht dauernd gehindert ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Die Klägerin ist weder sehbehindert noch hörgeschädigt. Sie leidet auch nicht an einer dauerhaft ansteckenden Lungentuberkulose und wirkt auf ihre Umgebung auch nicht störend oder sonst abstoßend. Zwar kann die Zuerkennung des Merkzeichens RF kann insbesondere auch allein aufgrund einer psychischen Erkrankung gerechtfertigt sein (
BSG Urteil vom 16.02.2012 - B 9 SB 2/11 R = juris Rn. 22,24;
LSG Baden-Württemberg Urteil vom 16.01.2013 -
L 3 SB 3862/12 = juris Rn. 30) in besonderen gesundheitlichen Härtefällen auch bei einem
GdB von unter 80 (
BSG Urteil vom 16.02.2012 - B 9 SB 2/11 R = juris Rn. 22,24). In der Tat hat die Klägerin, bei der ein
GdB von 70 vorliegt, wegen ihrer seelischen Beeinträchtigung die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen über die letzten Jahre nahezu vollständig aufgegeben. Zur Überzeugung der Kammer ist die Klägerin jedoch dennoch nicht in einer Weise allgemein und umfassend im Sinne der zum Merkzeichen RF entwickelten Rechtsprechung von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen, die die Annahme eines besonderen gesundheitlichen Härtefalls rechtfertigen würde. Nach eigenen Angaben fehlt es der Klägerin vor allem an der Motivation, soziale Kontakte aufzunehmen und aufrecht zu erhalten. Gleichwohl ist sie immer noch in der Lage, in zumutbarer Weise jedenfalls in Begleitung ihres Mannes soziale Zusammenkünfte etwa in Form von Familienfesten aufzusuchen, und kommt dem auch nach.
Die Kammer konnte die Streitsache trotz vorheriger Anordnung des persönlichen Erscheinens der Klägerin auch in ihrer Abwesenheit entscheiden, ohne ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62
SGG) zu verletzen. Die im Ermessen des Gerichts stehende Anordnung des persönlichen Erscheinens beruhte allein auf der Erwägung, die Klägerin von der Aussichtslosigkeit der Klage und deshalb einer Klagerücknahme im Termin zu überzeugen, war für eine weitere Sachaufklärung jedoch nicht erforderlich (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum
SGG, 10. Auflage 2012, § 111 Rn. 6a; Bayerisches
LSG Beschluss vom 01.02.2010 - L 2 KA 26/09 B = juris Rn. 14 f.). Die Klägerin war zum Termin auch ordnungsgemäß geladen und gemäß § 110
Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf die Möglichkeit der Entscheidung nach Aktenlage in ihrer Abwesenheit hingewiesen worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193
SGG.