Die nach § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) statthafte und auch in der von § 151
Abs. 1
SGG vorgeschriebenen Form und Frist eingelegte Berufung ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sowie der Gerichtsbescheid des SG D.-R. sind rechtmäßig. Die Voraussetzungen für die Feststellung der Merkzeichen G und B lagen beim Kläger am 1. Juli 2011 nicht mehr vor.
Gegen den Entzug der Merkzeichen hat der Kläger eine zulässige Anfechtungsklage nach § 54
Abs. 1
SGG erhoben. Dabei ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide der Erlass des Widerspruchsbescheids am 18. November 2011 und damit die Sach- und Rechtslage zu diesem Zeitpunkt (
vgl. BSG, Urteil vom 18. September 2003,
B 9 SB 6/02 R, juris).
Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig. Insbesondere ist die nach § 24 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (
SGB X) erforderliche Anhörung zu einem beabsichtigten Entzug der Merkzeichen G und B für die Zukunft mit Schreiben vom 11. März 2011 erfolgt.
Seine materielle Ermächtigungsgrundlage finden die von dem Kläger angefochtenen Bescheide in § 48
Abs. 1 Satz 1
SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Anlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Auf dieser Grundlage hat der Beklagte wirksam den Bescheid vom 31. Januar 1995 aufgehoben und die Merkzeichen G und B entzogen. In der Zeit zwischen Erlass dieses Bescheids und des Widerspruchsbescheides am 18. November 2011 ist eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt hatte der bereits volljährige und damit erwachsene Kläger seine Schulausbildung mit dem Hauptschulabschluss erfolgreich abgeschlossen und nahm an einer beruflichen Ausbildung teil. Für den Kläger waren damit nicht mehr die Vorschriften für die Gewährung der Merkzeichen G und B bei Kindern und Jugendlichen anwendbar.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B ist
§ 69 Abs. 4 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind.
Die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G lagen bei dem am 1. Juli 2011 bereits volljährigen Kläger nicht mehr vor. Nach
§ 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Nach
§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Zwar hat der Kläger eingewandt, dass die bei Erlass des Widerspruchsbescheides am 18. November 2011 geltenden Bestimmungen in
Teil D, Nr. 1 der Anlage zu
§ 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) mangels wirksamer Ermächtigungsgrundlage für deren Erlass nicht heranzuziehen sind. Doch unabhängig von einer rechtswirksamen Ermächtigungsgrundlage in Bezug auf die Merkzeichen G und B (verneinend:
LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 21. Februar 2013,
L 6 SB 5788/11 und 23. Juli 2010,
L 8 SB 3119/08, juris) ist die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene
Anlage zur VersMedV ihrem Inhalt nach als antizipiertes Sachverständigengutachten anzusehen, die die Regelung des § 69
SGB IX konkretisiert (ständige Rechtsprechung des
BSG, zuletzt Urteil vom 17. April 2013,
B 9 SB 3/12 R, juris). Danach liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die vom Kläger begehrten Nachteilsausgleiche nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht mehr vor. Bei dieser Prüfung hat der Senat auch die vom Kläger geforderte Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgenommen und die von der Rechtsprechung zur Feststellung der Merkzeichen G und B entwickelten Maßstäbe zugrunde gelegt.
In Teil D,
Nr. 1 d der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind Regelfälle normiert, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen sind. Die dort angegebenen Regelbeispiele liegen nicht vor, denn bei dem Kläger bestehen weder sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen
GdB von wenigstens 50 bedingen. Auch sind keine Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem
GdB von unter 50 vorhanden, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken. Auch Beeinträchtigungen durch innere Leiden (Herzschäden, Lungenfunktionseinschränkungen) oder hirnorganische Anfälle liegen nicht vor.
Zwar kann auch eine sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Orientierungsfähigkeit bei Hörstörungen die Vergabe des Merkzeichens G rechtfertigen. Doch ist nach Teil D,
Nr. 1 f der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bei Hörbehinderungen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit nur bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) gegeben. Im Erwachsenenalter sind erst in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (
z.B. Sehbehinderung, geistige Behinderung) die Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt. In diesem Zusammenhang ist auf die überzeugende Rechtsprechung des
BSG zu verweisen, der sich der Senat anschließt (
vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003,
B 9 SB 4/02 R, zitiert nach juris und nachfolgend
BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. Mai 2004, 1 BvR 705/04 sowie
BSG, Urteil vom 12. November 1996,
9 RVs 5/95, juris). Danach wirken sich bei erwachsenen Gehörlosen die Störungen der Kommunikationsfähigkeit nicht auf ihre Orientierungs- und damit auf ihre Gehfähigkeit aus. Die tiefgreifenden Kommunikationsstörungen, an der Gehörlose typischerweise leiden, erschweren zwar die Ausbildung, weil Wahrnehmung, Erkenntnis und Lernen durch die Sprache vermittelt und gesteuert werden. Für das Zurücklegen von Wegen gilt dies aber nicht im gleichen Umfang, da für die gewöhnlichen und eingeübten Wege, welche nach der allgemeinen Lebenserfahrung die Mehrzahl der zurückzulegenden Wegstrecken ausmachen, eine Kommunikation nur im Ausnahmefall erforderlich ist. Im Übrigen kann auch der Gehörlose Stadtpläne und schriftliche Wegbeschreibungen zu Rate ziehen und
ggf. Passanten schriftlich um Auskunft bitten (so
BSG, Urteil vom 12. November 1996, a.a.O.). Darüber hinaus kann auch ein weitreichendes Spektrum an modernen Kommunikationsmitteln, wie
z.B. Mobilfunktelefone mit
GPS-Navigation (
vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2013, Urteil vom 21. Februar 2013, L 7 SB 5788/11, juris) oder Internetfunktionen
(z. B. App DB Navigator mit Echtzeit-Informationen und Routenplaner) eingesetzt werden. Ob diese im Einzelfall tatsächlich vorhanden sind, ist keine Frage des Behinderungsausmaßes. Im Übrigen verbleibt die Möglichkeit der schriftlichen Auskunft dem Kläger unabhängig vom dem Besitz eines solchen Mobilfunktelefons. Denn der Kläger ist ausweislich der vorgelegten Schulzeugnisse zumindest in der Lage, eine schriftliche Auskunft anzufordern. Der Kläger hat erfolgreich die Hauptschule mit einem ausreichenden Ergebnis im Fach Deutsch abgeschlossen, sodass er zumindest eine schriftliche Auskunft anfordern
bzw. Stadtpläne und Wegebeschreibungen lesen kann. Letztlich geht aus den Schulzeugnissen mehrfach hervor, dass der Kläger bei Verständigungsproblemen gezielt nachfragen könne, sodass ihm auch dieses Kommunikationsmittel trotz seiner Behinderung verbleibt. Ihm war es auch in der mündlichen Verhandlung problemlos möglich, auf Fragen des Vorsitzenden in einer für alle Anwesenden verständlichen Sprache zu antworten
bzw. gezielt nachzufragen. Damit hat der Senat auch im Einzelfall des Klägers keine Zweifel daran, dass diesem ausreichende Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen.
Nach alledem lagen bei dem am 1. Juli 2011 bereits volljährigen Kläger die Voraussetzungen für das Merkzeichen G beim Entzug nicht mehr vor, weil allein die Taubheit und die damit einhergehenden Einschränkungen wie Höhenuntauglichkeit und fehlendes Richtungshören (unabhängig davon, ob mit einem
GdB von 80 oder 100 bewertet) nicht genügt. Sehbehinderungen, geistige Störungen oder andere Störungen von Ausgleichsfunktionen hat der Kläger nicht geltend gemacht und diese sind unter Berücksichtigung des Befundberichtes von
Dipl.-Med. P. vom 22. Februar 2012 auch nicht ersichtlich. Der Kläger hat erfolgreich einen Hauptschulabschluss mit zumindest ausreichenden Benotungen in allen Fächern erworben, sodass eine relevante geistige Störung auszuschließen ist. Die von der Mutter angegebenen Schwindelerscheinungen waren bereits nach ihren eigenen Angaben nicht dauerhaft. Andere als die typischerweise mit der Hörstörung verbundenen Probleme hat der Kläger auch nicht vorgetragen. Im Übrigen hat der Kläger nach den Ausführungen seiner Mutter bereits im Jahre 2010 den Weg zum Ausbildungsbetrieb und zur Berufsschule allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Bahn) zurückgelegt, sodass er damit auch die Fähigkeit gezeigt hat, sich regelmäßig ausreichend orientieren zu können. Unregelmäßige unerwartete Störungen können dagegen nicht als Maßstab für die Orientierungsfähigkeit des Klägers herangezogen werden (so auch
BSG, Urteil vom 12. November 1996, a.a.O.). Ebenso wenig wird die Orientierungsfähigkeit durch die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit des Klägers bei Behördengängen oder Arztbesuchen geprägt. Sofern der Kläger durch technische Probleme seiner Hörgeräte (Batterieausfall, Kabelbruch) in seiner Orientierungsfähigkeit beeinträchtigt wird, sind diese Störungen nicht behinderungs-, sondern hilfsmittelbedingt und können damit auch nicht den Anspruch auf die Feststellung der Merkzeichen begründen. Schließlich lassen auch die anfänglichen Schwierigkeiten bei der Aufnahme der Ausbildung keine Rückschlüsse auf Orientierungsstörungen und/oder Störungen von Ausgleichsfunktionen zu, sondern waren von Problemen der Pünktlichkeit, Motivation und Zuverlässigkeit geprägt.
Damit ist letztlich auch unerheblich, ob der Kläger eine Gehörlosenschule besucht hat. Zwar wurde in der Ausgabe des Jahres 1996 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" in
Nr. 30
Abs. 5 (
S. 167) noch neben der Vollendung des 16. Lebensjahrs auf den Abschluss der Gehörlosenschule Bezug genommen. Doch wurde dies laut Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirates vom 13. November 2002 mit folgender Begründung geändert: Der Begriff Gehörlosenschule in
Nr. 30
Abs. 5 Satz 2 der "Anhaltspunkte" wird dem heutigen, gegliederten und häufig integrativen Schulsystem nicht mehr gerecht. Die Fähigkeit, Ausgleichsfunktionen zu nutzen, hängt vom Lebensalter und der allgemeinen Reife, nicht aber vom besuchten Schultyp ab. In der
Nr. 30
Abs. 5 Satz 2 der "Anhaltspunkte" auf Seite 167 sind daher die Worte "Beendigung der Gehörlosenschule" zu streichen. Durch diese Änderung wurde von der starren Begrifflichkeit "Gehörlosenschule" zugunsten anderer Bildungseinrichtungen Abstand genommen. Entscheidend sind allein der Abschluss einer ersten Bildungseinrichtung und die Fähigkeit, sich unter Zuhilfenahme möglicher Kommunikationsmittel ausreichend zu orientieren. Da dies in der Regel bei Abschluss einer Bildungseinrichtung mit Vollendung des 16. Lebensjahres der Fall ist (so auch beim Kläger durch den Hauptschulabschluss im Juli 2008), wird auf diese Vollendung abgestellt. Ausnahmsweise kann auch noch bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres die Zuerkennung des Merkzeichens gerechtfertigt werden. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es im Einzelfall bei Jugendlichen ein Lernprozess ist, allein öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Der Kläger war bei Entzug der Merkzeichen aber schon 19 Jahre alt, hatte bereits drei Jahre zuvor seinen Hauptschulabschluss erworben und eine Berufsausbildung begonnen, sodass auch im Einzelfall die Weitergewährung über das 18. Lebensjahr hinaus nicht gerechtfertigt war.
Zu Recht hat der Beklagte auch das Merkzeichen B entzogen. Nach § 146
Abs. 2
SGB IX sind schwerbehinderte Menschen zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich und andere regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Nach
Teil D, Nr. 2 c der Vorsorgungsmedizinischen Grundsätze ist die Notwendigkeit ständiger Begleitung stets anzunehmen, wenn auch die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist. Diese Voraussetzung liegt, wie soeben dargestellt, beim Kläger nicht vor. Allein die Gefahr, gelegentlich das Ziel zu verfehlen, rechtfertigt nicht die Vergabe des Merkzeichens B.
Liegen nach alledem die Voraussetzungen für die Gewährung der Merkzeichen G und B nicht mehr vor, ist nicht zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass andere behinderte Menschen im Alter von 20 Jahren noch alle Merkzeichen haben. Einen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht kennt die Rechtsordnung nicht (
vgl. nur BVerfGE 50, 142, 166;
BSG, Urteil vom 21. Mai 2003 - B 6 KA 32/02 R = SozR 4-2500 § 106
Nr. 1). Im Übrigen hat auch der Kläger durch die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage die Vorteile der Merkzeichen bis zum jetzigen Zeitpunkt, also bis weit in das 22. Lebensjahr hinein, in Anspruch nehmen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160
SGG liegen nicht vor.