Urteil
Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen B
Gericht:
LSG Sachsen 9. Senat
Aktenzeichen:
L 9 SB 6/15
Urteil vom:
30.01.2018
LSG Sachsen 9. Senat
L 9 SB 6/15
30.01.2018
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 25. November 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Die 2008 geborene Klägerin begehrt die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen B.
Die Klägerin leidet an einem seit 13.03.2012 festgestellten instabilen, insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ I. Sie ist mit einer Pumpentherapie und kontinuierlicher Glukosemessung (CGM) versorgt.
Mit Datum vom 20. März 2012, eingegangen beim Beklagten am 3. April 2012, beantragte die Klägerin die Feststellung einer Behinderung und des Grades der Behinderung sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H. Nach Einholung ärztlicher Unterlagen und einer Stellungnahme durch den Ärztlichen Dienst entschied der Beklagte mit Bescheid vom 25.07.2012, es werde bei der Klägerin eine Behinderung festgestellt, der aktuelle GdB betrage 40, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H lägen vor. Auf den Widerspruch der Klägerin vom 30.07.2012 bezüglich der Höhe des GdB und der Nichtgewährung des Merkzeichens B holte die Beklagte die Blutzuckertagebücher der Klägerin sowie eine erneute Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes ein und erließ am 02.10.2012 einen Teilabhilfebescheid, wonach bei der Klägerin ab 03.04.2012 ein GdB von 50 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H festgestellt wurden. Der weitergehende Widerspruch (Merkzeichen B) wurde mit Widerspruchsbescheid des Kommunalen Sozialverbandes Sachsen vom 11.10.2012 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, Anspruch auf die kostenlose Mitnahme einer Begleitperson im öffentlichen Personenverkehr hätten schwerbehinderte Menschen, bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, GL oder H vorliegen, wenn sie bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe (z. B. beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt) angewiesen seien. Diese Voraussetzungen lägen nach Art und Ausmaß der Beeinträchtigungen der Klägerin gemäß versorgungsärztlicher Beurteilung nicht vor. Die Klägerin benötige als Vorschulkind genauso wie jedes andere Kind im gleichen Alter bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine Begleitperson. Insofern stehe das Merkzeichen B derzeit nicht zu.
Auf die am 12. November 2012 erhobene Klage hat das Sozialgericht Dresden Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Aus dem Bericht des Universitätsklinikums X ..., Dr. E ..., vom 18.07.2013 geht hervor, dass bei der Klägerin ein extrem instabiler Stoffwechsel vorliege, welcher sieben bis zehn Blutzuckermessungen pro Tag erforderlich mache, um das Kind nicht akut zu gefährden. Innerhalb weniger Minuten könne das Kind in eine hypoglykämische Stoffwechsellage geraten und sei damit besonders gefährdet. Aufgrund dessen sei auch eine persönliche Assistenz während des Besuchs des Kindergartens erforderlich. Die Kinderärztin Dr. D ... führt in ihrem Befundbericht vom 26.06.2013 aus, bei der Klägerin liege eine unbefriedigende Blutzuckervariabilität vor.
Das Sozialgericht hat ein Gutachten erstellen lassen von Prof. Dr. W ..., Facharzt für Kinderheilkunde, vom 16.09.2014. Nach seinen Feststellungen leidet die Klägerin an Diabetes mellitus Typ I (Insulinmangeldiabetes). Trotz Behandlung mit einer Insulinpumpe sei der Stoffwechselverlauf sehr instabil. Es seien Schwankungen des Blutzuckerwertes zwischen 2,0 und 20,0 zu beobachten bei einem Zielwert von sechs bis acht. Schwere Entgleisungen (Koma, Schock) seien bisher nicht aufgetreten, da die Überwachung sehr engmaschig sei und durch erfahrene Begleiter sofort Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Für den Diabetes ergebe sich ein GdB von 50. Eine Begleitung und Überwachung halte er zur Überwachung des Stoffwechsels und der Möglichkeit, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, für notwendig, um akute Entgleisungen zu verhindern. Die Zahl der Notfälle bzw. ihr Fehlen könne hier kein Beurteilungskriterium sein. Um die Freiheit von akuten Entgleisungen zu gewährleisten, seien auch während der mit Fahrten verbundenen Aktivitäten des Kindergartens (Wanderung, Zoobesuch u. a.) regelmäßige Blutzuckerbestimmungen, z. T. halbstündlich, durch eine Begleitperson erforderlich.
Mit Urteil vom 25. November 2014 hat das Sozialgericht Dresden den Beklagten verpflichtet, für die Klägerin ab dem 06.08.2012 die Voraussetzungen für das Merkzeichen B festzustellen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die Angewiesenheit auf eine Begleitperson während der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln gründe sich auf den von der Klägerin nicht selbständig zu überwachenden und zu regulierenden Blutzuckerspiegel, der ein ständiges Risiko hypoglykämiebedingter Stürze oder Ohnmachtszustände mit sich bringe.
Bei der Klägerin liege keine relativ stabile sondern eine extrem schwankende Stoffwechsellage vor, so dass nicht lediglich eine latente Gefahr für hypoglykämische Schocks bestehe. Vielmehr liege eine konkrete Gefährdung der Klägerin vor, welche sich jederzeit realisieren könne.
Eine Unterzuckerung infolge der Zuckerkrankheit könne ohne ständige Begleitung - wie in allen Lebensbereichen - auch bei jeder regelmäßig mehrminütigen Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln auftreten.
Im Rahmen der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel könnten durch andere Personen - bspw. größere Personengruppen mit der damit verbundenen Zunahme der räumlichen Enge oder Lautstärke im Verkehrsmittel - oder bei verkehrstypischen Gefahrensituationen wie Bremsungen zusätzliche Stressfaktoren auftreten, auf die die Klägerin nicht selbstständig in Bezug auf ihren Blutzucker reagieren könne.
Mit der am 07.01.2015 nach Zustellung des Urteils am 10.12.2014 zum Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Berufung begehrt der Beklagte die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils. Die Auffassung des Sozialgerichts, aufgrund der extrem instabilen Stoffwechsellage bei der Klägerin seien auch ohne Vorliegen von konkreten Hypoglykämien die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens B gegeben, werde nicht geteilt. Im Unterschied zum Merkzeichen H sei das Merkzeichen B als konkreter Nachteilsausgleich ausgestaltet. Mit der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 22.05.2017, Dipl.-Med. S ..., führt der Beklagte aus, das Merkzeichen B sei unabhängig vom Alter zu bewerten. Es seien anders als beim Merkzeichen H Erwachsenenmaßstäbe anzusetzen. Die Notwendigkeit der Begleitung begründe sich bei der Klägerin natürlich nicht allein aus dem Alter. Das junge Alter sei aber entscheidend für die noch bestehende Unselbständigkeit der Klägerin im Umgang mit ihrer Erkrankung.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 25. November 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil für zutreffend.
Das Landessozialgericht hat Befundberichte des Universitätsklinikums X ... sowie einen ärztlichen Entlassungsbericht der Kinder-Reha-Klinik "V ..." vom 13.04.2015 über den Aufenthalt vom 11.03.2015 bis 08.04.2015 eingeholt. Des Weiteren wurden die Diabetikertagebücher der Klägerin beigezogen. Im Befundbericht vom 12.10.2017 teilt die behandelnde Ärztin Dr. E ... mit: "Etwa ab dem Alter von 12 Jahren sollte ein Kind in der Lage sein, die Diabetesführung während der Schulzeit alleine zu übernehmen. Jüngere Kinder mit einem stabilen Stoffwechsel sind evtl. früher in der Lage, dies zu tun. Ein Erwachsener mit ähnlichen Stoffwechselschwankungen wie unsere Patientin und adäquaten Hilfsmitteln kann sich selbst versorgen. Durch Warnsysteme der kontinuierlichen Glukosemessung kann ein erwachsener Patient, auch wenn er selbst eine fehlende Hypoglykämiewahrnehmung hat, auf niedrige Werte zeitnah reagieren. kann nicht entscheiden, wieviel zusätzliche BE (Kohlenhydrat-Einheiten) und auch in welcher Form (schnelle, langwirksame BE/KHE) sie zu sich nehmen muss."
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Behördenakten, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung waren.
SG Dresden, Urteil vom 25.11.2014 - S 13 SB 610/12
BSG, Urteil vom 27.08.2018 - B 9 SB 24/18 B
R/R8019
Informationsstand: 08.04.2019