Urteil
Gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich Notwendigkeit ständiger Begleitung” (B)

Gericht:

LSG Niedersachsen-Bremen 13. Senat


Aktenzeichen:

L 13 SB 29/00


Urteil vom:

20.09.2002


Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 9. November 2000 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "Notwendigkeit ständiger Begleitung” ("B”).

Bei dem jetzt 54-jährigen Kläger waren auf Grund eines Anerkenntnisses der Beklagten vom 11. Dezember 1998 in dem Verfahren des Sozialgerichts (SG) Bremen zum Az.: S 20 Vs 6/97 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "erhebliche Gehbehinderung” ("G”) festgestellt. Hierbei waren folgende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:

1. Herzleistungseinschränkung bei koronarer Herzkrankheit mit Bypass- und Stentversorgung, Bluthochdruck;

2. Depressive Störungen;

3. Chronische Bronchitis mit wechselnden Funktionsstörungen;

4. Wirbelsäulenbeschwerden;

5. Nierensteinleiden, Blasenentleerungsstörungen.

Mit einem am 15. Februar 1999 gestellten Verschlimmerungsantrag begehrte der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B”.

Die Beklagte zog Befundberichte des Neurologen und Psychiaters Dr. D. vom 26. April 1999, des Urologen Dr. E. vom 26. April 1999, des Internisten und Kardiologen Dr. F. vom 27. April 1999, des Orthopäden Dr. G. vom 4. Mai 1999 und der Praktischen Ärztin Dr. H. vom 4. Juni 1999 mit Anlage eines Entlassungsberichts der DRK Krankenanstalten Wesermünde vom 18. Februar 1999 bei.

Entsprechend einer Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes vom 8. Juli 1999 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. Juli 1999 den Antrag auf Feststellung eines höheren GdB oder der gesundheitlichen Voraussetzungen für weitere Nachteilsausgleiche ab mit der Begründung, dass eine wesentliche Änderung in den für die bisherige Feststellung maßgeblichen Verhältnissen nicht eingetreten sei; die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B” lägen nicht vor.

Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, auf Grund von Herz- und Kreislaufleiden stehe er in der Gefahr, hilflos zusammenzubrechen. Deshalb könne er sich nur mit Begleitung frei bewegen.

Nach nochmaliger Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes vom 8. September 1999 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2000 den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 31. Mai 2000 Klage beim SG Bremen mit dem Ziel der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "B” erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, er könne sich regelmäßig nur mit Begleitung frei bewegen, ohne Gefahr zu laufen, infolge von Herz-/Kreislaufleiden hilflos zusammenzubrechen. Auch irre er oftmals orientierungslos umher, wenn keine zweite Person zugegen sei. Der Kläger hat ein Attest des Dr. D. vom 19. September 2000 über eine chronische Depression mit Kopfschmerzen, Zerstreutheit, Vergesslichkeit und Antriebsarmut vorgelegt.

Mit Gerichtsbescheid vom 9. November 2000 hat das SG die Klage abgewiesen und ausgeführt, die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B” seien nicht erfüllt. Aus den vorliegenden medizinischen Befunden ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig fremder Hilfe beim Ein- und Aussteigen bedürfe. Auch sei nicht ersichtlich, dass fremde Hilfe während der Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel notwendig sei oder bereitgehalten werden müsse. Auch wenn die Herzerkrankung des Klägers mit einem Einzel-GdB von 60 bewertet worden sei, folge hieraus allein noch nicht die Notwendigkeit ständiger Begleitung. Die ärztlichen Berichte belegten weder die regelmäßige Gefahr eines Kollapses noch das Vorliegen von Orientierungsstörungen.

Gegen diese ihm am 21. November 2000 zugestellte Entscheidung hat der Kläger am 20. Dezember 2000 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Bremen eingelegt und diese damit begründet, dass er täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Arzt fahren müsse. Zwei- oder dreimal wöchentlich steige sein Blutdruck so sehr, dass ihm ausgesprochen schwindelig sei. Er müsse sich häufig hinsetzen. Der Kläger hat ein Attest des Dr. D. vom 5. März 2001 über eine chronische Depression mit ausgeprägten Funktionsstörungen vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 9. November 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 8. Juli 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 2000 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B” seit dem 15. Februar 1999 festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf versorgungsärztliche Stellungnahmen vom 21. August 2001, 14. Mai 2002 und 22. Juli 2002.

Die Beteiligten haben im Termin zur Erörterung vom 16. September 2002 ihr Einverständnis erklärt, dass in dieser Sache ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin entschieden wird.

Das LSG hat einen Entlassungsbericht der DRK Krankenanstalten Wesermünde vom 26. April 2002 sowie Befundberichte des Dr. D. vom 2. Mai 2001 und des Praktischen Arztes Dr. I. vom 24. Juli 2001 beigezogen. Letzterer hat einen Bericht des Kardiologen Dr. J. vom 7. März 2001 sowie Entlassungsberichte der DRK Krankenanstalten Wesermünde über stationäre Aufenthalte des Klägers vom 15. November bis zum 27. November 2000, vom 15. Juli bis zum 26. Juli 2000 und vom 2. Juli bis zum 7. Juli 2000 beigefügt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere des Inhalts der genannten ärztlichen Berichte im Einzelnen, wird Bezug genommen auf die Prozessakte sowie die Akte des SG Bremen zum Az. S 20 Vs 6/97 und auf die Schwerbehindertenakten der Beklagten zur Antr.-List.Nr. 347622 mit Widerspruchsakten zu den Az. 3302/3478/96 und 3302/2189/99. Diese Unterlagen haben dem Gericht vorgelegen und waren Grundlage der Entscheidung.

Rechtsweg:

SG Bremen Urteil vom 09.11.2000 - S 20 SB 159/00

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Das Urteil konnte nach § 155 Abs. 3, 4 SGG durch die zur Berichterstatterin ernannte Richterin des Gerichts getroffen werden, da die Beteiligten sich mit einer solchen Entscheidung einverstanden erklärt haben.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht die Klage abgewiesen, da der Bescheid der Beklagten rechtmäßig ist. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B”.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 unentgeltlich befördert. Das gleiche gilt gemäß § 145 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX im Nah- und Fernverkehr für die Beförderung der Begleitperson eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des Abs. 1, sofern eine ständige Begleitung notwendig und dies im Ausweis des schwerbehinderten Menschen eingetragen ist.

Der Kläger, bei dem die Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G” festgestellt hat, zählt zu den freifahrtberechtigten schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Seine ständige Begleitung ist jedoch nicht notwendig.

Die Notwendigkeit ständiger Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel besteht allerdings nicht nur dann, wenn der Schwerbehinderte auf Grund von Gesundheitsstörungen öffentliche Verkehrsmittel nur mit Hilfe einer Begleitperson benutzen kann. Schon die gesteigerte Möglichkeit des Eintritts von Gefährdungen des Behinderten reicht aus, wenn sie durch die Anwesenheit einer Begleitperson ausgeschlossen oder verringert werden kann. Neben dem Element der Regelmäßigkeit muss als weitere Voraussetzung ein Element der Dauer vorliegen. Gefordert ist ein Zustand, welcher die ständige Begleitung erforderlich macht und der ähnlich gravierend ist wie z. B. die bei Querschnittsgelähmten, Ohnhändern oder Blinden bestehende Gefährdung (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17. Oktober 1996, Az. L 4 Vs 145/95).

Ein solcher Zustand kann bei dem Kläger nicht festgestellt werden. Der Kläger hat keine Einschränkungen im Bereich der oberen Extremitäten, die ihn hindern könnten, beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln sich selbständig an den Haltegriffen festzuhalten. Die mit einem Einzel-GdB von 10 bewerteten Wirbelsäulenbeschwerden sind eher geringgradig und können nicht dazu führen, dass dem Kläger die Überwindung von Stufen beim Ein- und Ausstieg nicht möglich wäre. Weder ist der Kläger an der Überwindung solcher Stufen auf Grund seiner Herzleistungseinschränkung gehindert, noch begründet diese eine ständige Kollapsgefahr. Die Herzleistungseinschränkung ist zwar mit einem Einzel-GdB von 60 bewertet. Diese Bewertung bewegt sich aber in einem Rahmen, in dem nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz”, Stand 1996, nach Nr. 26.9 (S. 87) noch Treppensteigen bis zu einem Stockwerk leistbar ist. Der Bericht des Dr. J. vom 7. März 2001 über eine unbefriedigend eingestellte Hypertonie und Einschränkungen der linksventrikulären Pumpfunktion gibt auch keinen Anlass, die Einordnung in diesen Bewertungsrahmen für unzutreffend zu erachten; insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für eine koronare Leistungsbeeinträchtigung bereits in Ruhe. Auch dem Entlassungsbericht der DRK Krankenanstalten Wesermünde vom 26. April 2002 ist lediglich eine Behandlungsnotwendigkeit bei akuter Bronchitis mit Belastungsdyspnoe und Besserung unter antibiotischer Therapie zu entnehmen, nicht aber ein Anhalt für akute oder chronische Dekompensationserscheinungen des Herzens.

Soweit der Kläger vorbringt, sich auf Grund von Schwindelerscheinungen setzen zu müssen, ist ihm dies in öffentlichen Verkehrsmitteln unabhängig vom Vorhandensein einer Begleitperson möglich. Er hat wegen der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G” einen Anspruch auf einen Sitzplatz. Im übrigen finden sich zwar im Befundbericht des Dr. I. vom 24. Juli 2001 Angaben dazu, dass der Kläger über Schwindel klage. Ausführungen zur Häufigkeit oder zu eigenen diesbezüglichen Beobachtungen fehlen jedoch. Nach den eigenen Angaben des Klägers in seiner Berufungsbegründung soll es zwei- bis dreimal wöchentlich zu Schwindelerscheinungen kommen. Dieses unterstellt, fehlt es an dem notwendigen Element der Regelmäßigkeit; eine lediglich dreimal wöchentlich bestehende Gefahr von Schwindelanfällen begründet noch nicht das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "B” (LSG Rheinland-Pfalz, a. a. O.).

Die vom Kläger geltend gemachten Orientierungsstörungen sind in durch die vorliegenden ärztlichen Berichte nicht belegt. Insbesondere der Befundbericht des Dr. D. vom 2. Mai 2001 bestätigt zwar Kopfschmerzen, Antriebs- und Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen und Lustlosigkeit, nicht aber eine - vorübergehende - Unfähigkeit, sich zurechtzufinden.

Die Berufung musste daher erfolglos bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R4770


Informationsstand: 15.09.2010