Urteil
Keine Anerkennung einer PTBS eines Rettungssanitäters als Wie-Berufskrankheit

Gericht:

SG Stuttgart


Aktenzeichen:

S 1 U 1682/17


Urteil vom:

08.11.2018


Grundlage:

  • SGB VII § 9 Abs. 1

Pressemitteilung:

(SG Stuttgart vom 02.08.2019)

Das SG Stuttgart hat entschieden, dass ein Rettungssanitäter keinen Anspruch auf Anerkennung der bei ihm diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII hat.

Der Kläger beantragte bei der beklagten Berufsgenossenschaft, die von seinen behandelnden Ärzten diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Berufskrankheit infolge seiner Tätigkeit als Rettungssanitäter u.a. mit Einsätzen beim Amoklauf von Winnenden und zwei Suiziden festzustellen. In einem ärztlichen Entlassungsbericht führte Dr. G unter anderem aus, der Kläger sei im Rettungsdienst tätig und habe als solcher viele traumatisierende Erlebnisse gehabt. So sei er bei Amokläufen eingesetzt worden, bei denen er emotional bereits an seine Grenzen gekommen sei. Nur gelegentlich sei es zu Nachhallerinnerungen gekommen, die über die Jahre bereits sukzessive angestiegene Anspannung habe sich verstärkt. Als weiteres traumatisches Erlebnis erinnert der Kläger, den Suizid einer Jugendlichen, der ihn tief erschüttert habe, woraufhin er sich jedoch wieder weitgehend stabilisiert habe. Als er jedoch auf den Tag genau ein Jahr später zum Suizid der Freundin der Jugendlichen gerufen worden sei, sei es schließlich zur Dekompensation gekommen. Der Kläger könne seitdem nicht mehr richtig reagieren, es komme verstärkt zu Eskalationen, die er nur durch Rückzug vermeiden könne. Aufrechterhalten werde die Symptomatik durch ein zunehmendes Sinnlosigkeitserleben und die mangelnde Unterstützung seitens der Strukturen und Vorgesetzten. Dr. G diagnostizierte im Gegensatz zu den Vorbehandlern keine depressive Episode, sondern eine posttraumatische Belastungsstörung. Deren Kriterien seien durch eine Kumulation außergewöhnlicher Belastungen, anhaltende Nachhallerinnerungen, Alpträume und eine ausgesprochen hohe innere Bedrängnis in ähnlichen Situationen, Vermeidungsverhalten in Bezug auf ähnliche Situationen, erhöhte psychische Erregung mit Ein- und Durchschlafstörungen, erhöhter Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und erhöhter Schreckhaftigkeit erfüllt. Zur weiteren Therapie werde dringend die zeitnahe Aufnahme einer kontinuierlichen ambulanten Psychotherapie, traumaadaptiert, empfohlen.

Das SG Stuttgart hat die Klage abgewiesen.

Nach Auffassung des Sozialgerichts sind nach den maßgebenden Vorschriften des SGB VII Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung werde ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkung verursacht seien, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt seien; sie könne dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden seien oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheiten ursächlich waren oder sein könnten (§ 9 Abs. 1 SGB VII).

Nach § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet sei oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Abs. 1 Satz 2 erfüllt seien.

Die PTBS gehöre nicht zu den Listenerkrankungen i.S.d. § 9 Abs. 1 SGB VII. Nach der Rechtsprechung des BSG genüge es für die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit nicht, dass im Einzelfall berufsbedingte Einwirkungen die rechtlich wesentliche Ursache einer nicht in der Berufskrankheitenliste bezeichneten Krankheit seien, denn die Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII beinhalte keinen Auffangtatbestand und keine allgemeine Härteklausel (BSG, Urt. v. 20.07.2010 - B 2 U 19/09 R). Die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit dürfe danach nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der Berufskrankheiten erfüllt seien, der Verordnungsgeber sie also als neue Listen-BK in die Berufskrankheitenverordnung (BKV) einfügen dürfte, aber noch nicht tätig geworden sei.

Nach § 9 Abs. 2 SGB VII müssen für die Feststellung der Wie-Berufskrankheit folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

(1) Ein Versicherter muss die Feststellung einer bestimmten Krankheit als Wie-Berufskrankheit beanspruchen.

(2) Die Voraussetzung einer in der Anlage 1 zur BKV bezeichneten Krankheit dürfen nicht erfüllt sein.

(3) Die Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit als Listen-Berufskrankheit durch den Verordnungsgeber müssen vorliegen. Es muss eine bestimmte Personengruppe durch die versicherte Tätigkeit besonderen Einwirkungen in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt (gewesen) sein und es müssen medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über das Bestehen einer Einwirkungs- und Verursachungsbeziehung vorliegen.

(4) Diese medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen neu sein.

(5) Abschließend müssen im Einzelfall die abstrakten Voraussetzungen der Wie-Berufskrankheit konkret erfüllt sein.

Das SG Stuttgart hat die Voraussetzung (3) verneint und dazu ausgeführt: Nach der Rechtsprechung des BSG sei dabei zuerst die Art der Einwirkung zu ermitteln, die im Blick auf die vom Versicherten geltend gemachte Krankheit abstrakt-generell als Ursache in Betracht kommen kann. Danach sei zu klären, ob diese abstrakt-generell einer bestimmten Art einer vom Versicherten verrichteten Versichertentätigkeit zuzurechnen sei. Erst aus dieser Verbindung von krankheitsbezogenen Einwirkungen und versicherten Tätigkeiten ergebe sich, so das BSG, die abstrakt-generelle Personengruppe, die sich von der Allgemeinbevölkerung unterscheide. Als Einwirkung komme praktisch alles in Betracht, was auf Menschen einwirkt. Daher sei es, auch wenn es (noch) keine Listen-Berufskrankheit gibt, möglich, auf rein psychische Einwirkungen abzustellen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass der Verordnungsgeber eine entsprechende Listen-Berufskrankheit einführen könne. An die bestimmte Personengruppe seien keine besonderen Anforderungen hinsichtlich ihrer Größe oder sonstiger charakterisierender Merkmale zu stellen.

Weitere Voraussetzung sei, dass die Einwirkungen, denen die Personengruppe durch die versicherte Tätigkeit ausgesetzt sei, abstrakt-generell nach dem Stand der Wissenschaft die wesentliche Ursache einer Erkrankung der geltend gemachten Art sein müssen. Denn für die Beurteilung des generellen Ursachenzusammenhangs gelte auch hier die Theorie der wesentlichen Bedingung. Vor der rechtlichen Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursachenart selbst, müsse auch hier die naturwissenschaftliche/naturphilosophische Kausalitätsprüfung erfolgen. Bei dieser sei zu klären, ob nach wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen belegt ist, dass bestimmte Einwirkungen generell bestimmte Krankheiten der vom Versicherten geltend gemachten Art verursachen. Nach dem Urteil des BSG vom 20.10.2010 (B 2 U 19/09 R) sei das anzunehmen, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügten, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelange. Dies werde für das Vorliegen solcher Erkenntnisse für die PTBS, so das BSG, mit Hinweis auf Aufsätze von Becker und Knickrehm bezweifelt (BSG, Urt. v. 20.07.2010 - B 2 U 19/09 R m.w.N.).

Nach den Ermittlungen des Sozialgerichts seien derart neue medizinische Erkenntnisse hinsichtlich der Verursachung der PTBS durch psychisch belastende Tätigkeiten bei Rettungssanitätern, Polizisten, Feuerwehrleuten und Entwicklungshelfern in Krisengebieten, nicht gegeben. So weise Spellbrink in seinem Aufsatz zu psychischen Erkrankungen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (Sozialgerichtsbarkeit 2013, 154) unter anderem darauf hin, dass die Anerkennung psychischer Gesundheitsschäden als Wie-Berufskrankheit derzeit mangels Nachweises der generellen gesetzlichen Anforderungen (belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse über generelle gruppenspezifische psychische Erkrankungsursachen bei bestimmten spezifischen beruflichen Belastungen) faktisch nicht möglich sei.

Darüber hinaus habe das BSG in seiner Entscheidung vom 20.07.2010 darauf hingewiesen, dass bei der Beobachtung von Einwirkungen auf Dritte, wenn der Versicherte nicht selbst von Einwirkungen betroffen gewesen sei, als Anknüpfungspunkt für die Bejahung des Ursachenzusammenhangs ein enger personaler Bezug zu verlangen sei. Ein solcher sei hier nicht ersichtlich und/oder vom Kläger dargelegt worden.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

JURIS-GmbH

Referenznummer:

R/R8289


Informationsstand: 20.01.2020