Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Nach Auffassung des Senats ist die Beklagte verpflichtet, bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach der
Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV anzuerkennen.
Berufskrankheiten sind nach § 9
Abs. 1
S. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch Gesetzliche Unfallversicherung - (
SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch
Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. In der Anlage 1 zur BKV ist unter
Nr. 1301 bezeichnet: "Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine".
Voraussetzung für die Feststellung jeder Erkrankung als Berufskrankheit ist zunächst, dass die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung, im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sind. Eine absolute Sicherheit ist bei der Feststellung des Sachverhalts dabei nicht zu erzielen. Erforderlich ist aber eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, wonach kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen vorgenannter Tatbestandsmerkmale zweifelt (BSGE 6, 144; Meyer-Ladewig,
SGG, 9. Auflage, § 118
Rdnr. 5
m.w.N.). Der Grad der Wahrscheinlichkeit muss so hoch sein, dass alle Umstände des Einzelfalles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen (BSGE 45, 285, 287; 61, 127, 128).
Zur Anerkennung einer Berufskrankheit muss zudem ein doppelter ursächlicher Zusammenhang bejaht werden. Die gesundheitsgefährdende schädigende Einwirkung muss ursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen sein (sog. Einwirkungskausalität) und diese Einwirkung muss die als Berufskrankheit zur Anerkennung gestellte Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Als Beweismaßstab genügt für die ursächlichen Zusammenhänge statt des Vollbeweises die hinreichende Wahrscheinlichkeit,
d. h. bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände müssen die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, dass die dagegen sprechenden billigerweise für die Bildung und Rechtfertigung der richterlichen Überzeugung außer Betracht bleiben können (
BSG in SozR
Nr. 20 zu § 542 RVO
a. F.). Der Ursachenzusammenhang ist jedoch nicht schon dann wahrscheinlich, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSGE 60, 58, 59).
Bei dem Kläger ist im September 1999 im Lebensalter von 38 Jahren ein Harnblasentumor im Stadium pT1 G2 diagnostiziert worden sowie ein erstes Rezidiv im Juli 2002 und ein zweites Rezidiv im Jahr 2005. Im weiteren Verlauf trat im Juni 2006 ein Nierenbeckenurothelcarcinom links auf, im Juni 2009 erfolgte eine Urethrektomie mit Anlage eines Ileocaecalpouchs, im April 2014 eine Nierenharnleiterentfernung links. Eine Erkrankung im Sinne der BK
Nr. 1301 ist damit im Vollbeweis gesichert.
Der Kläger war während seiner versicherten Tätigkeit auch gegenüber aromatischen Aminen exponiert.
Bezüglich der versicherten Tätigkeiten des Klägers als Kraftfahrzeugmechaniker vom Beginn seiner Ausbildung im Juni 1977 bis Ende 1984 in ganztägiger Ausübung und ab 1985 bei verschiedenen Arbeitgebern in
ca. hälftiger Tätigkeit als mitarbeitender Kraftfahrzeugmechaniker bei im Übrigen ausgeübter Tätigkeit im Bereich des Kundendienstes hält der Senat eine Exposition des Klägers gegenüber o-Toluidin im Vollbeweis für gesichert und die Einwirkungskausalität für gegeben. Wie der Präventionsdienst der Beklagten dargelegt hat (Stellungnahme vom 19. Januar 2010), wurden im Zeitraum von 1964 bis 1994 in Ottokraftstoffen (Normal und Super) Bleiverbindungen zur Verbesserung der Klopffestigkeit eingesetzt. Zur Kennzeichnung dieser sog. Bleifluids wurde ein Farbstoff (in der Regel Sudan Rot) verwendet, bei dem es sich um einen Azofarbstoff handelt, der o-Toluidin abspalten kann. Diese Bleifluids wurden in einer Konzentration von
ca. 1 mg/l Kraftstoff zugefügt. Das entspricht etwa einem Gehalt von 1 ppm Farbstoff im Kraftstoff (
vgl. hierzu insgesamt BK-Report Aromatische Amine 2/2018
S. 124, Ziffer 13.5.1.4). Insoweit besteht auch Übereinstimmung zwischen dem Präventionsdienst der Beklagten und allen vorliegend befassten Sachverständigen.
Der Gefahrstoff o-Toluidin gehört zu den Stoffen, denen im Hinblick auf ihr kanzerogenes Potenzial die größte Bedeutung beigemessen wird. Nach Abschnitt III der MAK-Werte-Liste der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe ist das Amin o-Toluidin nach K1 als gesichert beim Menschen krebserzeugender Arbeitsstoff eingestuft (
vgl. Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung - BKV -, Stand September 2018, M 1301, Seite 15; Wissenschaftliche Stellungnahme zu der Berufskrankheit
Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV (GMBl 2011, 18)).
Nach Auffassung des Senats hat die Exposition des Klägers gegenüber dem Gefahrstoff o-Toluidin während seiner versicherten Tätigkeit als Kraftfahrzeugmechaniker von 1977 bis Ende 1983 hinreichend wahrscheinlich die bei ihm eingetretene Krebserkrankung der Harnwege verursacht.
Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Versicherungsfalles basieren auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach geht es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d.h. - so die neueste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist (
BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris). Beweisrechtlich ist zudem zu beachten, dass der möglicherweise aus mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang positiv festgestellt werden muss (
BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O.) und dass die Anknüpfungstatsachen der Kausalkette im Vollbeweis vorliegen müssen (
BSG, Beschluss vom 23. September 1997 - 2 BU 194/97 - Deppermann-Wöbbeking in: Thomann (Hrsg.), Personenschäden und Unfallverletzungen, Referenz Verlag Frankfurt 2015, Seite 630). In einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann durch Wertung die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die wesentlich sind, weil sie rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (
BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O;
BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris).
Der naturwissenschaftliche Zusammenhang (1. Prüfungsstufe) zwischen der berufsbedingten Dosis an o-Toluidin und der Krebserkrankung ist gegeben. Es überwiegen im vorliegenden Fall die Indizien deutlich, die für eine Verursachung sprechen.
Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Gefahrstoff o-Toluidin nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse generell geeignet ist, beim Menschen bösartige Neubildungen der Harnwege im Sinne der BK
Nr. 1301 zu verursachen. Die Prüfung der generellen Geeignetheit in diesem Sinne bezieht sich auf die spezifische Krebslokalisation
bzw. Krebsart und auf die bestimmte Personengruppe sowie die besondere Tätigkeit im Sinne des § 9
Abs. 1
SGB VII und nicht auf die bloße Kanzerogenität. Die festgestellte Schädigung lässt sich im Einzelfall weder aus den MAK-Werten noch der Einstufung als krebserzeugender Arbeitsstoff ableiten, sondern der ärztliche Befund unter Berücksichtigung aller äußeren Umstände des Fallhergangs ist entscheidend (
vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall- und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017,
Nr. 18.3.,
S. 1143 mit Verweis auf
BSG vom 24. Januar 1990 - 2 RU 20/89 - und
BSG vom 12. Juni 1990 - 2 RU 21/89 -). Der Nachweis der Kanzerogenität erfolgt durch epidemiologische Erhebungen bei entsprechend belasteten Kollektiven. Ergebnisse aus Tierversuchen können Hinweise für eventuelle kanzerogene Potenzen
bzw. Gefährdungen ergeben, wobei die Gültigkeit solcher Ergebnisse auf die Krankheitslehre des Menschen geklärt sein muss (
vgl. Schönberger u.a., a.a.O.
Nr. 18.4.,
S. 1147). Dass o-Toluidin nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse geeignet ist, auch beim Menschen bösartige Neubildungen der Harnwege im Sinne der BK
Nr. 1301 herbeizuführen, ergibt sich aus der MAK-Werte-Liste und der dortigen Einstufung von o-Toluidin in Kategorie 1 und der wissenschaftlichen Stellungnahme zur BK
Nr. 1301 des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" bei dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (GMBl 2011, 18). Allen krebserzeugenden aromatischen Aminen gemeinsam ist, dass sie an sich nicht krebserzeugend sind. Erst in der Verstoffwechselung entstehen aus den Ausgangsmolekülen krebserzeugende Zwischenprodukte in der Harnblase (Schönberger u.a., a.a.O.
Nr. 18.6.2.2.1
S. 1182).
Die Einwirkung von o-Toluidin während der versicherten beruflichen Tätigkeit des Klägers als
Kfz-Mechaniker war auch nicht nur der Art nach, sondern auch nach Dauer und Intensität geeignet, die bösartigen Neubildungen der Harnwege im Sinne der BK
Nr. 1301 im naturwissenschaftlichen Sinn zu verursachen (
vgl. zu der Voraussetzung der Qualität und Quantität der Gefahrstoffe Brandenburg in Juri-PK-SGB VII Rdnrn. 67
ff.).
Für diese Feststellung stützt sich der Senat insbesondere auf die Ausführungen des
Prof. Dr. L. in seinem Gutachten vom 30. Juni 2017 und seinen ergänzenden Stellungnahmen hierzu. Der Sachverständige geht unter Zugrundelegung der durch den Präventionsdienst der Beklagten festgestellten, vom Kläger während seiner Tätigkeit als
Kfz-Mechaniker ausgeführten Verrichtungen und auf diese Basis durchgeführter Berechnungen davon aus, dass die Aufnahme von o-Toluidin am Arbeitsplatz des Klägers, insbesondere in der Zeit von 1977 bis 1984 quantitativ von erheblicher Bedeutung gewesen und nicht als gering einzustufen ist. Die entgegenstehende Auffassung von
Dr. M., wonach eine Ursächlichkeit des Gefahrstoffes für die Verursachung der Krebserkrankung nur bei einer kumulativen Dosis von mindestens 30 g angenommen werden könne, vermag den Senat nicht zu überzeugen. Auch in der von diesem angeführten Veröffentlichung "Berufskrankheit 1301" (Weiß/Henry/Brüning, Arbeitsmed. Sozialmed. Unfallmed. 2010, 222
ff.) räumen die Autoren ein, dass sich den in der internationalen Literatur verfügbaren epidemiologischen Arbeiten weder Dosis-Wirkungs- noch Dosis-Risiko-Beziehungen zu den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als humankanzerogen eingestuften aromatischen Aminen entnehmen lassen, und dass diese Studien in der Regel sogar keine Exposition angeben. Hinsichtlich des Nachweises einer kumulativen Exposition gegenüber urothelkanzerogenen Aminen im mg- oder g-Bereich und damit der Forderung nach einer Mindestdosis oder Schwellendosis herrscht hiernach gerade kein Konsens in der Wissenschaft (Urteile des Senats vom 21. Februar 2017 -
L 3 U 9/13 - und vom 19. Juni 2018 -
L 3 U 129/13; so auch
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Oktober 2014, L 8 U 4478/13, juris
Rdnr. 52;
LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Februar 2011 L 31 U 339/08 - juris
Rdnr. 30;
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. September 2010 -
L 1 U 2869/09 - juris
Rdnr. 38, 39;
vgl. zu dem Stand der Diskussion: T. Weiß, J. Henry, T. Brüning, Berufskrankheit 1301, Bewertung der beruflichen (Mit )Verursachung von Harnblasenkrebserkrankungen unter Berücksichtigung der quantitativen Abschätzung der Einwirkung der aromatischen Amine 2-Naphthylamin, 4 Aminodiphenyl und o-Toluidin, in: ASUMed 2010, Seiten 231, 233; Dietrich Henschler, Klaus Norpoth, Heinz Walter Thielmann, Hans-Joachim Woitowitz, Blasenkrebs durch aromatische Amine als Berufskrankheit: Zur Validität der neuen berufsgenossenschaftlichen Dosisgrenzwerte, ZblArbeitsmed 2012, Seite 73). Bei der Formulierung des Tatbestandes der BK
Nr. 1301 - auch in der aktualisierten Fassung des GMBl. 2011, 18 - hat der Verordnungsgeber auch auf die Angabe eines konkreten Belastungsgrenzwerts verzichtet. Der Verzicht auf die Angabe konkreter Belastungsarten und Belastungsgrenzwerte bei der Formulierung von BK-Tatbeständen geschah dabei vielfach bewusst, um bei der späteren Rechtsanwendung Raum für die Berücksichtigung neuer, nach Erlass der Verordnung gewonnener oder bekannt gewordener Erkenntnisse zu lassen (
vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 -
B 2 U 20/04 R - juris
Rdnr. 18
ff. m.w.N.). Im Merkblatt zur BK
Nr. 1301 (
Bek. des BMA vom 12. Juni 1963, BArbBl. Arbeitsschutz 1964, 129) ist hierzu unter
IV. "Hinweise für die ärztliche Beurteilung" ausgeführt, dass Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege im Allgemeinen nach mehrjähriger, gelegentlich auch mehrmonatiger Exposition mit aromatischen Aminen entstehen; noch Jahrzehnte nach Aufgabe des gesundheitsgefährdenden Arbeitsplatzes können sie in Erscheinung treten." Eine Mindestexpositionsmenge ist weder in dem Merkblatt zu BK
Nr. 1301 noch in den späteren, das Merkblatt aktualisierenden wissenschaftlichen Stellungnahmen enthalten (
vgl. dazu Mehrtens/Brandenburg,
a. a. O., M 1301, Seiten 1 11). Ein Modell zur Ableitung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen wurde für 2 Naphthylamin, 4-Aminodiphenyl und o-Toluidin zwar vorgeschlagen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, 18.6.2.2.1, Seite 1182 unter Hinweis auf Weiß/Henry/Brüning in ASU 45(2010) 222
ff.). Es gibt mit Ausnahme des Einflusses von Tabakrauch jedoch keine sicheren epidemiologischen Erkenntnisse zur Risikoschätzung.
Nach den für den Senat überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen
Prof. Dr. L. ist für die Bejahung der haftungsbegründenden Kausalität ausschlaggebend, dass aromatische Amine (hier o-Toluidin) bis zum Auftreten der Harnblasenkrebserkrankung über einen hinreichenden Zeitraum von mehr als 20 Jahren am Arbeitsplatz des Klägers auf diesen in ausreichendem Umfang eingewirkt haben. In welcher Höhe die Exposition jeweils erfolgt ist, lässt sich nicht mehr genau feststellen. In einem solchen Fall ist aber eine lebensnahe Beweiswürdigung zu praktizieren. Bei den auftretenden Beweisschwierigkeiten sind im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 128 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), in die auch Billigkeitserwägungen einfließen dürfen, an den Vollbeweis keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Für den Umfang der Exposition genügt deshalb eine Schätzung, wenn ausreichende Grundlagen hierfür vorhanden sind (so Urteile des Senats vom 21. Februar 2017 -
L 3 U 9/13 -, vom 16. Juni 2015 - L 3 U 141/10 - und vom 31. August 2010 -
L 3 U 162/05 - jeweils juris mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des
BSG;
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29. September 2011 L 6 U 5889/06; Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Anmerkung 26.2 zu § 9
SGB VII). Soweit
Dr. M. in seiner Stellungnahme vom 30. Januar 2018 noch ausgeführt hat, dass die verbleiten Ottokraftstoffe Farbstoffe enthalten hätten, von denen je nach Struktur nur einige o-Toluidin enthielten, hat er unter dem 7. Juni 2018 dargelegt, dass es sich bei der maßgeblichen Kupplungskomponente in dem vorliegend in Rede stehenden Zeitraum ab 1977 im Wesentlichen um o-Toluidin gehandelt hat. Dabei ist für die ersten Jahre seiner Tätigkeit als Kraftfahrzeugmechaniker (insbesondere 1977 bis einschließlich 1984) von einer vergleichsweise höheren Einwirkung auszugehen, da er in diesem Zeitraum ausschließlich die für diesen Beruf typischen Werkstatttätigkeiten ausgeübt hat, während er ab 1985 neben diesen Aufgaben auch solche im Bereich des Kundendienstes wahrgenommen hat.
Prof. Dr. L. hat nachvollziehbar dargelegt, dass entgegen der Ausführungen des
Dr. M. unter Berücksichtigung der Tätigkeit des Klägers nicht nur der Kontakt zu Kraftstoffen zu beurteilen ist, für die von einer Belastung mit o-Toluidin im Bereich von 1 ppm auszugehen ist und unter deren ausschließlicher Berücksichtigung der Präventionsdienst der Beklagten in seiner Stellungnahme von 18. Dezember 2009 von einer dermalen Exposition arbeitstäglich im Minutenbereich und über einen Zeitraum von
ca. 5 Jahren bei Tankumfüll- und Tankumbauarbeiten auch von gelegentlichen größeren Expositionen ausgeht. Vielmehr weist der toxikologische Sachverständige auf eine deutlich höhere dermale Belastung aufgrund der regelmäßigen Vornahme von Ölwechseln hin. Er hat hierzu überzeugend ausgeführt, dass bei einer Laufleistung von 30.000
km zwischen zwei Ölwechseln und einem durchschnittlichen Verbrauch von 8 l Benzin pro 100
km in der verbrauchten Benzinmenge 2400 mg Sudan Rot enthalten waren und Rückstände der Kraftstoffverbrennung und aufgrund der Fettlöslichkeit des Farbstoffes Sudan Rot auch dieser in das Motorenöl übergehen und dort ausgehend von
ca. 1% unverbrannt bleibender Rückstände ein Anteil von 24mg/6 Liter auszutauschenden Altöls verbleibt. Bei der Durchführung von 3 Ölwechseln täglich (Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten vom 18. Dezember 2009: bis 1983 3 bis 4 Ölwechsel arbeitstäglich) und einer Kontamination der Haut während des Ölwechsels mit durchschnittlich 10 ml dieses Altöls ist danach von einer Resorption von 0,02 mg Sudan Rot auszugehen, das zu
ca. 0,1 mg aromatischer Amine metabolisiert wird. Dies bedeutet ausgehend von 200 Arbeitstagen eine kumulative Dosis von 6mg/Jahr. Dieser überzeugenden Berechnung durch den
Prof. Dr. L. ist die Beklagte auch nicht entgegengetreten.
Dr. M. bezeichnet "die gesamte Diskussion" insoweit als "eine theoretische", wobei er im Hinblick auf die Pathomechanismen, die
Prof. Dr. L. anführe, diese als korrekt bestätigt und keine konkreten Argumente gegen die rechnerischen Überlegungen liefert. Nach diesen für den Senat nachvollziehbaren Berechnungen kann zu seiner Überzeugung in der Gesamtschau nicht von einer nur geringen beruflichen Exposition ausgegangen werden, auch wenn die Quantität im Nachhinein nicht konkret festgestellt werden kann. Soweit
Dr. M. und mit ihm die Beklagte als Voraussetzung für die Annahme einer Ursächlichkeit einer beruflich bedingten Schadstoffexposition auf eine Risikoverdopplung abstellt, entspricht dies nicht dem aktuellen allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisstand unabhängig davon, dass das Gesetz in § 9
Abs. 1 Satz 2
SGB VII das Kriterium einer Risikoverdopplung als Voraussetzung einer BK-Anerkennung auch nicht erwähnt (
vgl. dazu
BSG, Urteil vom 30. März 2017 - B 2 U 6/15 R - juris
Rdnr. 19).
Wie bereits der im Verwaltungsverfahren durch die Beklagte beauftragte Sachverständige
Prof. Dr. J. - der allerdings auf der Basis einer vom Präventionsdienst der Beklagten als nur gering beschriebenen Exposition gegenüber aromatischen Aminen der Kanzerogenitätskategorie 2 zu einer negativen Beurteilung gekommen ist - in seinem Gutachten vom 29. Juli 2010 dargelegt hat, erfüllt der Kläger auch eine Reihe weiterer Kriterien, die für einen Zusammenhang seiner Krebserkrankung im Bereich der Harnwege mit einer beruflichen Exposition gegenüber relevanten Gefahrstoffen sprechen. So ist zunächst das deutlich vorgezogene Erkrankungsalter des Klägers von 38 Jahren bei einem mittleren Erkrankungsalter in Deutschland für Harnblasenkarzinome bei Männern von 70 Jahren ein Indiz für eine berufliche Verursachung. Ebenso spricht nach
Prof. Dr. J. für die berufliche Genese der Erkrankung insbesondere auch das Krankheitsbild eines rezidivierenden und multilokulären Auftretens des Harnblasenkarzinoms, wie es bei dem Kläger der Fall ist.
Prof. Dr. J. hat auch bestätigt, dass die bei dem Kläger sich ergebende Latenzzeit von 22 Jahren einen Zeitraum darstellt, wie er für beruflich bedingte Harnblasenkarzinome beschrieben ist.
Die berufliche Exposition des Klägers gegenüber o-Toluidol war auch wesentliche Ursache für die Harnblasenkrebserkrankung.
Die auf der 2. Prüfungsstufe der Kausalität zu prüfende Wesentlichkeit der Bedingung ist eine reine Rechtsfrage (
vgl. zur Theorie der wesentlichen Bedingung:
BSG, Urteil vom 30. März 2017 - B 2 U 6/15 R - juris
Rdnr. 23
ff. m.w.N. aus Rechtsprechung und Literatur). Welche Ursache im Einzelfall rechtlich wesentlich ist und welche nicht, muss nach Auffassung des praktischen Labens über die besondere Beziehung zum Eintritt des Erfolgs vom Rechtsanwender (Juristen) wertend entschieden werden und beantwortet sich nach dem Schutzzweck der Norm (grundlegend Becker, MedSach 2007, 92; Spellbrink, MedSach 2017, 51,55). Die rechtliche Wesentlichkeit ist zu bejahen, wenn die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr ist. Eine Rechtsvermutung dafür, dass die versicherte Einwirkung wegen ihrer objektiven Mitverursachung auch rechtlich wesentlich war, besteht nicht. Die Wesentlichkeit ist vielmehr zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen. Wesentlich ist dabei nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere Ursache keine überragende Bedeutung hat.
Im Rahmen der hier maßgeblichen BK
Nr. 1301 soll die gesetzliche Unfallversicherung vor Krebserkrankungen durch aromatische Amine schützen und im Falle einer solchen Erkrankung Leistungen gewähren. Da der Verordnungsgeber keinen Schwellenwert (weder nach Menge noch nach Dauer der Einwirkung) festgeschrieben hat, der überschritten sein muss, damit die BK
Nr. 1301 festgestellt werden kann, zeigt bereits die Normformulierung, dass die betreffenden Gefahrstoffe auch niedrigschwellig als gefährlich eingestuft werden (
BSG, Urteil vom 30. März 2017,
a. a. O.). Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung wird der Versicherte zudem in dem gesundheitlichen Zustand geschützt, in dem er mit dem gefährdenden Stoff konfrontiert wird. Außerberufliche Noxen sind vorliegend als Ursachen nicht festzustellen, nachdem der Kläger unstreitig immer Nichtraucher war und damit auch das wichtigste außerberufliche Risiko des Tabakkonsums als Ursache ausscheidet. Es ergeben sich auch sonst keine konkreten Hinweise auf außerberufliche Ursachen der Krebserkrankung des Klägers. Damit entfällt eine Abwägung zur Frage der Wesentlichkeit.
Da zur Überzeugung des Senats die Exposition des Klägers gegenüber o-Toluidol allein schon hinreichende und notwendige Bedingung für die Entstehung der Krebserkrankung der Harnwege bei diesem war, kann die Frage anderer beruflicher Schadstoffexpositionen, wie
Prof. Dr. L. sie aufwirft, dahingestellt bleiben.
Da der Hauptantrag des Klägers erfolgreich ist, brauchte der Senat über den Hilfsantrag (Anerkennung einer "Wie-BK") keine Entscheidung treffen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG. Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision beruht auf § 160
Abs. 2
SGG.