Urteil
Anerkennung einer Berufskrankheit BK 2108 aufgrund langjähriger arbeitstechnischer Belastung

Gericht:

LSG Sachsen 2. Senat


Aktenzeichen:

L 2 U 170/08 LW


Urteil vom:

21.06.2010


Tenor:

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 15.04.2004 wie folgt gefasst: Der Bescheid der Beklagten vom 20.07.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2002 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass beim Kläger seit 22.10.1997 eine Berufskrankheit der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung vorliegt, für die die Beigeladene zuständig ist. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

II. Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen einer Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BK-Nr. 2108 BKV).

Der 1954 geborene Kläger lernte vom 01.09.1968 bis 31.08.1971 den Beruf des Rinderzüchters und arbeitete hiernach bis 30.04.1973 und vom 01.11.1974 bis 31.12.1991 im erlernten Beruf. Im Zeitraum vom 07.01.1992 bis 30.11.1994 und vom Mai 1995 bis Dezember 1996 ging der Kläger einer Beschäftigung als Baggerfahrer und Maschinist nach. Vom 01.07.1997 bis Oktober 1997 war er erneut als Baggerfahrer beschäftigt. Vom 22.10.1997 bis April 2002 bestand Arbeitsunfähigkeit. Seit 2000 bezieht der Kläger eine Erwerbsunfähigkeitsrente.

Ausweislich seiner Sozialversicherungsausweise war der Kläger im Zeitraum vom 04.12.1968 bis 08.12.1968 wegen sonstiger Formen nicht artikulären Rheumatismus (u. a. Lumbago; Diagnose-Nr. 717), vom 30.03.1979 bis 01.05.1979 sowie vom 28.10.1980 bis 28.11.1980 wegen Bandscheibenkrankheiten (Diagnose-Nr. 722) arbeitsunfähig. Vom 26.06.1984 bis 13.07.1984 und vom 13.08.1984 bis 05.10.1984 befand sich der Kläger wegen Ischias (Diagnose-Nr. 724.3) in stationärer Behandlung.

Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) ermittelte zunächst im Verwaltungsverfahren, eine ausreichende Belastung im Sinne der BK-Nr. 2108 BKV habe im Zeitraum von 1968 bis 1991 nicht vorgelegen. Der TAD der G.-BG schätzte ein, der Kläger sei während seiner beruflichen Tätigkeit vom 07.01.1992 bis 30.11.1994 keiner ausreichenden Belastung im Sinne der BK-Nrn. 2108 bis 2110 BKV ausgesetzt gewesen. Der TAD der St.-BG nahm am 06.11.1998 Stellung, die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK-Nrn. 2108 bis 2110 BKV lägen im Zeitraum von Mai 1995 bis Dezember 1996 nicht vor.

Die Arbeitsmedizinerin G. empfahl am 18.05.1999 die Ablehnung der BK-Nrn. 2108 bis 2110 BKV, weil der Kläger keiner ausreichenden Belastung der Wirbelsäule ausgesetzt gewesen sei.

Auf dieser Grundlage verneinte die Beklagte mit Bescheid vom 20.07.2000 das Vorliegen der BK-Nrn. 2108, 2109 und 2110 BKV.

Auf Veranlassung der Beklagten fertigten Chefarzt Dr. L. und Oberarzt Dr. W. , H. Klinikum A. , am 12.04.2001 im Widerspruchsverfahren ein Gutachten nach Untersuchung des Klägers. Beim Kläger liege eine fortgeschrittene Osteochondrosis intervertebrales an den Segmenten L4/5 und L5/S1 mit Zwischenwirbelraumerniedrigung vor. Bei einem leicht asymmetrisch lumbosakralen Übergang zeige sich eine leichte linkskonvexe Lumbalskoliose. Relevante bandscheibenbedingte Beschwerden bestünden seit 1979, so dass eine plausible zeitliche Verknüpfung zur belastenden Tätigkeit nach einer Expositionszeit von ca. neun Jahren gegeben erscheine. Röntgenologisch zeigten sich auch bei L3/4 und im Bereich der oberen Lendenwirbelsäule (LWS) degenerative Veränderungen. Es bestehe ein von unten nach oben abnehmendes Schadensbild. Dies sei für eine beruflich verursachte Erkrankung typisch. Eine BK-Nr. 2108 BKV liege vor. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 20 v. H.

Die Gewerbeärztin nahm am 11.06.2001 erneut Stellung. Gegen eine beruflich bedingte Verursachung des Leidens sprächen ein Beschwerdebeginn vor der beruflichen Belastung, ein Erkrankungsbeginn bereits in der Lehre, das Vorliegen von Fehlhaltungen und Fehlstellungen, das Betroffensein nicht wesentlich beruflich belasteter Abschnitte der Wirbelsäule, eine Operation erst zehn Jahre nach Expositionsende, ein metabolisches Syndrom und die Tatsache, dass 1993 - sechs Jahre nach Expositionsende - keine das Altersmaß deutlich überschreitenden degenerativen Veränderungen vorlagen.

Gestützt auf die Ausführungen der Gewerbeärztin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.06.2002 den Widerspruch des Klägers zurück.

Sein Begehren hat der Kläger mit der am 10.07.2002 zum Sozialgericht Chemnitz (SG) erhobenen Klage weiter verfolgt. Er stützt sich auf das von Dr. L. gefertigte Gutachten.

Auf Veranlassung des SG hat Dr. L. am 30.01.2003 ein weiteres Gutachten nach Aktenlage erstellt. Unter Berücksichtigung der Angaben des Klägers und des TAD der Beklagten habe der Kläger im Zeitraum von 1971 bis 1987 eine relevante Exposition gehabt. Es bestehe ein belastungskonformes Schadensbild beim Kläger. Da wesentliche dispositionelle Faktoren nicht vorlägen und die berufliche Exposition eine langjährige Fehl- und Überbelastung der unteren LWS bedingt habe, sei ein Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und bandscheibenbedingter Erkrankung der LWS wahrscheinlich. Am 28.02.2003 hat die Gewerbeärztin G. erneut Stellung genommen.

Das SG hat mit Urteil vom 15.04.2004 den Bescheid der Beklagten vom 20.07.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2002 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, beim Kläger eine BK-Nr. 2108 BKV "anzuerkennen und zu entschädigen". Im Zeitraum von 1971 bis 1987 habe der Kläger alle anfallenden Arbeiten im Kuhstall verrichtet. Zu den täglichen Arbeiten hätten das Auf- und Abladen von Grünfutter, das Einmisten und Einstreuen von Hand sowie die manuelle Fütterung und das Maschinemelken gehört. Dabei handle es sich um Gabelarbeit bei ständigem Beugen des Oberkörpers zwischen 30 und 60°. Die Lastgewichte hätten zwischen 10 und 15 kg betragen. Diese Tätigkeit sei täglich insgesamt ca. vier Stunden ausgeübt worden. Zudem habe der Kläger in extremer Zwangshaltung (Hocken bzw. Sitzen auf dem Melkschemel) für ca. drei Stunden arbeiten müssen. Durchschnittlich seien von dem Kläger 20 Milchkannen (ca. 25 kg) transportiert, angehoben und mit gebeugtem Oberkörper ausgeschüttet worden. Diese Wirbelsäulenbelastungen hätten an über 250 Arbeitsschichten/Jahr bestanden. Beim Kläger liege eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vor. Diese sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die berufliche Tätigkeit des Klägers zurückzuführen. Das SG hat sich diesbezüglich auf die von Dr. L. gefertigten Gutachten gestützt.

Gegen das der Beklagten am 15.06.2004 zugestellte Urteil hat sie am 24.06.2004 Berufung beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegt. Der Kläger sei keiner ausreichenden Exposition ausgesetzt gewesen. Bei ihm seien keine das Altersmaß übersteigenden degenerativen Veränderungen vorhanden. Vielmehr bestehe eine Skoliose und eine Scheuermann’sche Erkrankung. Nach der beigefügten Stellungnahme des TAD der Beklagten vom 23.06.2004 habe die berufliche Gesamtbelastungsdosis des Klägers nach dem Mainz-Dordmunder-Dosismodell (MDD) für den Zeitraum von September 1971 bis August 1987 0 Nh betragen. Die Beklagte hat eine beratungsärztliche Stellungnahme des Arbeitsmediziners Dr. R. vom 03.08.2004 vorgelegt.

Auf der Grundlage der Vorgaben des Bundessozialgerichts aus dem Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - hat der TAD der Beklagten am 17.06.2008 eine berufliche Gesamtbelastungsdosis von 18,876 x 106 Nh ermittelt.

Auf Antrag der Beteiligten hat das Verfahren vom 26.07.2006 bis 12.10.2007 geruht.

Am 24.06.2008 hat der TAD der Beklagten Stellung genommen, unter Berücksichtigung der im Zeitraum von Januar 1992 bis November 1994 zu verzeichnenden beruflichen Belastungsdosis ergebe sich eine berufliche Gesamtbelastungsdosis des Klägers von 21,532 x 106 Nh. In der Stellungnahme vom 14.01.2009 hat er eine berufliche Gesamtbelastungsdosis von 24,394 x 106 Nh angenommen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 01.04.2009 die G. -BG gemäß § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Verfahren beigeladen, weil sie als leistungspflichtig in Betracht kommt.

Auf Veranlassung des Senats hat der Chirurg Prof. Dr. K. am 29.06.2009 ein Gutachten nach Untersuchung des Klägers gefertigt. Beim Kläger bestehe eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS. Es liege ein Prolaps L4/5 vor. Aus der Röntgenaufnahme vom 13.03.2001 ergäben sich Chondrosen II. Grades der Segmente L4/5 und L5/6 sowie Chondrosen I. Grades der Segmente L1/2 und L3/4. Der Kläger sei aufgrund seiner Erkrankung zur Aufgabe seiner schädigenden Tätigkeit gezwungen gewesen. Die Aufgabe der Tätigkeit 1997 sei nach der Bandscheibenoperation medizinisch erforderlich gewesen. Die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers sei mit Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Belastung zurückzuführen. Konkurrierende Ursachen bestünden nicht. Beim Kläger liege lediglich eine Skoliose von 6° vor. Ein Morbus Scheuermann sei nicht nachweisbar. Ein wesentliches Körperübergewicht habe bis zum 40. Lebensjahr des Klägers nicht bestanden. Eine Stoffwechselerkrankung liege nicht vor. Zudem seien laut Konsensempfehlungen lebensstilbezogene Faktoren wie Rauchen, Gewicht, Arteriosklerose und Diabetes mellitus nicht als gesicherte Risikofaktoren für bandscheibenbedingte Erkrankungen anzusehen. Beim Kläger liege die Konstellation B2 nach den Konsensempfehlungen vor. Prof. Dr. K. hat am 17.11.2009 ergänzend Stellung genommen.

Am 17.07.2009 und 02.12.2009 hat sich der Orthopäde Dr. T. beratungsärztlich Stellung geäußert. Der Bandscheibenvorfall L4/5 und die Chondrose II. Grades L4/5 und L5/S1 seien dem Altersmaß vorauseilend. Nach eigener Überprüfung der Röntgenaufnahmen liege lediglich eine Chondrose I. Grades L4/5 und L5/S1 vor. Die Konsensempfehlungen seien nicht maßgeblich, weil es sich nicht um eine Zusammenfassung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, sondern um ein von Zugeständnissen geprägtes Papier, welches keine Wahrheiten verbürge, handele.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 15.04.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladene beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 15.04.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger erachtet das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und stützt sich im Übrigen auf das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten.

Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte der Beklagten vor. Ihr Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Rechtsweg:

SG Chemnitz, Urteil vom 15.04.2004 - S 4 U 165/02 LW

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist im Wesentlichen unbegründet. Zu Recht hat das SG mit Urteil vom 15.04.2004 den Bescheid der Beklagten vom 20.07.2000 und den Widerspruchsbescheid vom 12.06.2002 aufgehoben und festgestellt, dass beim Kläger eine BK-Nr. 2108 BKV besteht. Allerdings ist die Beigeladene der für die Entschädigung der Berufskrankheit zuständige Unfallversicherungsträger. Insoweit war das Urteil des SG abzuändern. Im Übrigen war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

1. Vorliegend ist die BK-Nr. 2108 BKV i.V.m. § 9 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) maßgeblich, weil der Versicherungsfall am 22.10.1997, mithin nach dem 01.01.1997, eingetreten ist.

Der Kläger hat die lendenwirbelsäulengefährdende Tätigkeit am 22.10.1997 völlig aufgegeben. Ab diesem Zeitpunkt war er arbeitsunfähig erkrankt und hat hiernach auch nicht wieder eine wirbelsäulenbelastende Tätigkeit ausgeübt, so dass als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls nur der 22.10.1997 in Betracht kommt. Zwar hat der Kläger ab dem 01.01.1992 lediglich noch in geringem Umfang Tätigkeiten im Sinne der BK-Nr. 2108 BKV ausgeübt. So hat er im Zeitraum vom 07.01.1992 bis 30.11.1994 ausweislich der Stellungnahme des TAD der G. -BG vom 24.11.1998 noch Tätigkeiten im Sinne der BK-Nr. 2108 BKV verrichtet. Er war daneben ausweislich der Stellungnahme des TAD der St. -BG vom 06.11.1998 bis 21.10.1997 Ganzkörperschwingungen im Sinne der BK-Nr. 2110 BKV, die dasselbe Zielorgan - nämlich die untere LWS - haben, ausgesetzt (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.2006 - B 2 U 49/05 R -, Rdnr. 18). Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Kläger keinen ausreichenden Einwirkungen im Sinne der BK-Nr. 2108 bzw. 2110 BKV ausgesetzt war. Eine Tätigkeitsaufgabe ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG erst gegeben, wenn diejenigen Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt werden, welche die Berufskrankheiten der LWS herbeiführen oder verschlimmern (BSG, Urteil vom 22.08.2000 - B 2 U 34/99 -, Rdnr. 24). Eine bloße Verminderung der Gefährdung genügt nicht (BSG, Urteil vom 19.08.2003 - B 2 U 27/02 R -, Rdnr. 14).

2. Beim Kläger sind die Voraussetzungen einer BK-Nr. 2108 BKV gegeben. Eine Berufskrankheit nach BK-Nr. 2108 BKV liegt vor, wenn der Versicherte an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS leidet, die durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht worden ist und der Versicherte durch die Erkrankung gezwungen wird, alle Tätigkeiten zu unterlassen, die ursächlich für die Entstehung oder die Verschlimmerung dieser Erkrankung waren oder noch ursächlich sein können.

Für das Vorliegen des Tatbestandes der Berufskrankheit ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (so genannte haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Tätigkeit und der Erkrankung andererseits (so genannte haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (vgl. BSG, Urteil vom 22.08.2000 - B 2 U 34/99 R -).

a) Die Feststellungen des TAD der Beklagten haben ergeben, dass beim Kläger angesichts einer beruflichen Gesamtbelastungsdosis nach dem MDD von 24,394 x 106 Nh ausreichende Einwirkungen im Sinne der BK-Nr. 2108 BKV gegeben sind. Zudem war der Kläger Ganzkörpervibrationen im Sinne der BK-Nr. 2110 BKV, die dasselbe Zielorgan haben, ausgesetzt (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.2006 - B 2 U 49/05 R -).

b) Beim Kläger liegt auch eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS in Form eines Bandscheibenvorfalls L4/5 und einer Chondrose der Segmente L4/5 und L5/S1 vor. Das steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der schlüssigen Gutachten von Prof. Dr. K. und Dr. L. sowie Dr. W. fest. Die Chondrose des Segments L4/5 wird auch durch den Arztbrief des Radiologen W1 über die CT-Untersuchung vom 25.11.1997 sowie die Krankenunterlagen des Landkreises T. (Röntgenuntersuchung 14.08.1984) bestätigt, die Zwischenwirbelraumerniedrigung am Segment L 5/S1 durch die Arztbriefe von Dr. L1. und Dr. B. vom 20.07.1993 aufgrund der Röntgenuntersuchung im Juli 1993 sowie des Radiologen D. über die Röntgenuntersuchung am 25.01.1996 und die Krankenunterlagen des Landkreises T. (Röntgenuntersuchung 06.09.1984). Nach dem Arztbrief des H. -Krankenhauses Z. vom 28.01.1998 bestand beim Kläger ein Laségue links bei 60° positiv und rechts bei 70° positiv. Auch Dr. L. und Dr. W. haben bei der Untersuchung des Klägers am 13.03.2001 neurologische Ausfallerscheinungen in Form einer deutlichen Fußheberschwäche links und einer Hypästhesie im Dermatom L5 links diagnostiziert. Daneben besteht ausweislich der übereinstimmenden Feststellungen durch Prof. Dr. K. sowie Dr. L. und Dr. W. eine Chondrose auch am Segment L 3/4. Diese wird durch die Radiologin W1 ausweislich ihres Arztbriefs der über die CT-Untersuchung vom 25.11.1997 bestätigt.

aa) Gegen die berufliche Verursachung sprechende konkurrierende Ursachen hat Prof. Dr. K. in seinem Gutachten in Übereinstimmung mit Dr. L. und Dr. W. für den Senat nachvollziehbar nicht feststellen können. Prof. Dr. K. hat seinem Gutachten die "Medizinischen Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule" - Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des HVBG eingesetzten interdisziplinären Arbeitsgruppe (Trauma und Berufskrankheit 2005 S. 211) zugrunde gelegt. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil vom 27.06.2006 - B 2 U 13/05 -, Rdnrn. 12, 14).

Insbesondere lag beim Kläger weder eine Lumbalskoliose mit Scheitelpunkt in der unteren LWS (vgl. Bolm-Audorff u. a. "Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der LWS, a.a.O., S. 237) noch eine Skoliose mit einer Ausprägung von ) = 25° vor. Das steht zur Überzeugung des Senats aufgrund des schlüssigen Gutachtens von Prof. Dr. K. fest.

Der 192 cm große Kläger wog 1974 104 kg, 1993 114 kg und wiegt 2009 ebenfalls 114 kg. Auch dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem Gutachten von Prof. Dr. K ... Seit seinem 16. Lebensjahr raucht der Kläger täglich 10 bis 15 Zigaretten. Eine Stoffwechselerkrankung besteht bei ihm ausweislich des Gutachtens von Prof. Dr. K. nicht. Die vom Hausarzt regelmäßig durchgeführte Blutuntersuchung ergab keine erhöhten Blutzuckerwerte, normale Harnsäure- und Leberwerte. Laut Konsensempfehlungen können lebensstilbezogene Faktoren wie Rauchen, Gewicht, Arteriosklerose, Diabetes mellitus nach derzeitigem Wissenschaftsstand nicht als gesicherte Risikofaktoren für bandscheibenbedingte Erkrankungen gelten (Bolm-Audorff u.a., a.a.O., S. 247 ff.). Die Auffassung von Prof. Dr. K. deckt sich auch diesbezüglich mit der von Dr. L. und Dr. W ...

bb) Beim Kläger ist auch eine plausible zeitliche Korrelation zwischen beruflicher Belastung und Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS vorhanden. Der Kläger begann im Alter von 14 Jahren eine Lehre zu einem mit schwerer körperlicher Belastung der Wirbelsäule verbundenen Beruf und war vom 01.09.1971 an im Beruf des Rinderzüchters tätig. Länger andauernde Arbeitsunfähigkeit wurde erstmals vom 30.03.1979 bis 01.05.1979 - nach mehrjähriger wirbelsäulenbelastender Tätigkeit als Lehrling und Rinderzüchter - festgestellt. Ein Prolaps wurde erst 1996 nach langjähriger beruflicher Tätigkeit mit einer Gesamtbelastungsdosis von 24 x 106 Nh erhoben.

cc) Eine Begleitspondylose (vgl. zur Definition: Bolm-Audorff u. a., a.a.O., S. 216 ff.) lag beim Kläger ausweislich der insoweit übereinstimmenden Einschätzungen von Prof. Dr. K. und Dr. T. nicht vor.

dd) Unstreitig bestehen beim Kläger ein Bandscheibenprolaps L4/5 und eine Chondrose zumindest I. Grades L4/5 und L5/S1. Das haben übereinstimmend Prof. Dr. K. , Dr. T. sowie Dr. L. und Dr. W. auf der Grundlage der am zeitnahesten zur Aufgabe der schädigenden Tätigkeit gefertigten, noch vorhandenen Röntgenaufnahme vom 13.03.2001 festgestellt. Daneben ist der Senat aufgrund der übereinstimmenden Feststellungen von Prof. Dr. K. sowie Dr. L. und Dr. W. vom Vorliegen einer Chondrose I. Grades auch am Segment L 3/4 überzeugt. Diese wird auch durch die Radiologin W1 ausweislich deren Arztbrief über die CT-Untersuchung vom 25.11.1997 bestätigt.

Der Nachweis eines Prolapses L5/S1 ist aufgrund der unterschiedlichen Wertungen im Arztbrief des Radiologen Dr. S. vom 18.10.1996, im Arztbrief des Radiologen Dr. M. aufgrund der CT-Untersuchung vom 17.01.1996 und der Radiologin W1 aufgrund der CT-Untersuchung vom 25.11.1997 nicht im Sinne des Vollbeweises nachweisbar.

Der am 16.04.1954 geborene Kläger war am 13.03.2001 46 Jahre alt. Eine Chondrose I. Grades ist nach den Konsensempfehlungen (Bolm-Audorff u.a., a.a.O., S. 214) altersuntypisch. Damit liegen die Voraussetzungen der Konstellation B2 1. Anstrich 1. Alternative der Konsensempfehlungen vor. Es besteht eine bandscheibenbedingte Erkrankung an den Segmenten L5/S1 und L4/5. Ein Vorfall am Segment L4/5 ist nachgewiesen. Die Höhenminderung und der Prolaps betreffen mehrere Segmente der LWS. Mit der von Prof. Dr. Bolm-Audorff in seiner Stellungnahme vom 02.02.2009 geäußerten Auffassung, dass mit "Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben" i.S.d. Konstellation B2 1. Anstrich der Konsensempfehlungen der Befall von mindestens zwei Bandscheiben gemeint ist, stimmt der Senat überein. Würde unter Befall von "mehreren Bandscheiben" ein solcher von mindestens drei Bandscheiben verstanden, wäre der bisegmentale Bandscheibenschaden von der Konsensgruppe nicht geregelt worden. Davon ist nicht auszugehen.

Angesichts des Bandscheibenschadens an den Segmenten L5/S1, L4/5 und L3/4 beim Kläger kommt es vorliegend gar nicht auf die exakte Auslegung der Konstellation B2 1. Anstrich an. Aus Sicht des Senats würde jedoch auch ein Schaden lediglich an den Segmenten L 5/S1 und L4/5 ausreichen, um die Konstellation B 2 1. Anstrich und damit den Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und der beim Kläger vorhandenen bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS zu bejahen.

c) Beim Kläger bestand ausweislich der übereinstimmenden Einschätzungen von Prof. Dr. K. , Dr. L. und Dr. W. zum Zeitpunkt der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit ein Zwang zur Aufgabe.

3. Dem Gutachten von Dr. G. vermag der Senat nicht zu folgen. Es sind im Gutachten bereits Diagnoseschlüssel fehlerhaft gebraucht. So ist ausgeführt, der Kläger sei 1975, 1974, 1977 und 1978 jeweils wegen Ischias (Diagnose-Nr. 353) arbeitsunfähig gewesen. Die Diagnose-Nr. 353 steht jedoch für Krankheiten von Nervenwurzeln und Plexus (Ministerium für Gesundheitswesen der DDR, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen der Weltgesundheitsorganisation, 9. Revision, 1975, S. 138). Ausgenommen sind ausdrücklich Krankheiten der Bandscheibe und vertebragene Störungen. Zudem konnte Dr. G. in ihrem Gutachten die Konsensempfehlungen noch nicht berücksichtigen.

Auch die Stellungnahme von Dr. T. überzeugt den Senat nicht. Die Konsensempfehlungen geben den derzeitigen wissenschaftlichen Stand zu den Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule wieder. Das bestätigt auch die Rechtsprechung des BSG.

4. Für das Verfahren ist - wovon übereinstimmend auch sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene ausgehen - gemäß § 134 SGB VII die Beigeladene der zuständige Unfallversicherungsträger, weil ausweislich der Stellungnahmen des TAD der Beklagten vom 24.06.2008 zuletzt im Zeitraum von Januar 1992 bis November 1994 eine belastende Tätigkeit im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen vorlag (vgl. Vereinbarung über die Zuständigkeit bei Berufskrankheiten vom 01.04.1994 in der ab 01.01.1997 geltenden Fassung mit Arbeitsanleitung - Stand: 12/08 -, in: Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Stand: 10/2009, F1, Erläuterungen 5.11 zu § 2).

Nach alledem war die Berufung der Beklagten im Wesentlichen zurückzuweisen. Es war festzustellen, dass die Beigeladene der für die Entschädigung der Berufskrankheit zuständige Unfallversicherungsträger ist.

5. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Referenznummer:

R/R6970


Informationsstand: 24.08.2016