Urteil
Anerkennung einer Berufskrankheit ist stets auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu entscheiden

Gericht:

BSG


Aktenzeichen:

B 2 U 13/05 R


Urteil vom:

27.06.2006


Ein 1932 geborener Offsetdrucker, der ab 1947 berufstätig war und zuletzt von 1956 bis 1990 als Offsetdrucker gearbeitet hat, begehrt die Anerkennung und Entschädigung seines Wirbelsäulenleidens als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (Anl BKV). Berufskrankheiten sind "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zum Unterlassen aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufheben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".

Die Berufsgenossenschaft Druck und Papierverarbeitung (BG) hat die Anerkennung als Berufskrankheit abgelehnt, weil die arbeitstechnischen Voraussetzungen (langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten, langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung) nicht gegeben seien. Während das SozG Wiesbaden der Klage stattgegeben und die BG zur Gewährung einer Verletztenrente verurteilt hat (Az: S 13 U 173/95), hat das Hessische LSG die Klage abgewiesen (Aktenzeichen: - L 3 U 841/99). Es hat das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen offengelassen, weil der geltend gemachte Anspruch jedenfalls daran scheitere, dass im konkreten Fall des Offsetdruckers der notwendige Kausalzusammenhang zwischen den beruflichen Einwirkungen und der Entstehung der Bandscheibenschäden nicht wahrscheinlich sei. Das röntgenologisch dokumentierte Schadensbild spreche ebenso wie der zeitliche Verlauf der Krankheit gegen eine berufliche Verursachung. Ausgehend von dem in dem sogenannten "Hamburger Konsens" formulierten aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand seien danach die Voraussetzung für eine Anerkennung als Berufskrankheit nicht erfüllt.

Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügte der Offsetdrucker die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Ein wissenschaftlich gesicherters "belastungskonformes Schadensbild", von dessen Vorliegen oder Nichtvorliegen die Annahme einer beruflichen Verursachung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Wirbelsäule abhängig gemacht werden könne, gebe es nicht. Der "Hamburger Konsens", auf den sich das LSG berufe, sei ihm nicht bekannt. Da andere medizinische Erkenntnisquellen nicht genannt würden und dem Urteil auch nichts für eine besondere Sachkunde des Gerichts zu entnehmen sei, lasse sich die Begründung für die ablehnende Entscheidung nicht nachvollziehen.

Das BSG hat mit Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 13/05 R - die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen, weil der Senat auf der Grundlage der bisherigen tatrichterlichen Feststellungen nicht entscheidend konnte, ob eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 Anl BKV anzuerkennen und dem Offsetdrucker eine Verletztenrente zu gewähren ist.

Das LSG hat offen gelassen, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit vorliegen, ob der Offsetdrucker also in seiner beruflichen Tätigkeit langjährig schwere Lasten gehoben oder getragen hat. Es hat gemeint, dies nicht klären zu müssen, weil im konkreten Fall des Offsetdruckers der notwendige Kausalzusammenhang zwischen den beruflichen Einwirkungen und der Entstehung der Bandscheibenschäden nicht wahrscheinlich sei. Die dazu angestellten Überlegungen können die ablehnende Entscheidung nicht tragen.

Welche Bedingungen für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen beruflichen Belastungen und Krankheitsentstehung erfüllt sein müssen und welche Faktoren für oder gegen einen solchen Zusammenhang sprechen, ist stets auf der Grundlage des aktuellen wisschaflichen Erkenntnisstandes zu entscheiden. Dieser Erkenntnisstand muss deshalb - ggf. unter Zuhilfenahme von Sachverständigen - vom Gericht ermittelt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt werden. Daran fehlt es hier.

Soweit das LSG für die Bejahung des Ursachenzusammenhangs ein bestimmtes, im Urteil näher beschriebenes "belastungskonformes Schadensbild" mit sogenannten "belastungsadaptiven Reaktionen" verlangt, wird dies nicht mit medizinisch-wissenschaftlicher Fachliteratur oder mit sonstigen Quellenangaben belegt, sodass unklar bleibt, woher die Forderung stammt und ob, was den Aussagewert eines solchen Schadensbildes betrifft, ein tragfähiger wissenschaftlicher Konsens besteht. Dasselbe gilt für die von der BG zu Recht beanstandete Bezugnahme auf einen sogenannten "Hamburger Konsens", aus dem sich nach Darstellung des LSG ergeben soll, dass bei einer polysegmentalen Verteilung der Wirbelsäulenschäden eine beruliche Verursachung unwahrscheinlich sei. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder medizinischen Erfahrungssätze diesem Konsens zugrunde liegen, wer ihn formuliert hat und inwieweit er die herrschende oder auch nur eine verbreitete wissenschaftliche Lehrmeinung widergibt, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen.

Rechtsweg:

SG Wiesbaden - S 13 U 173/95
LSG Hessen Urteil vom 31.03.2004 - L 3 U 841/99

Quelle:

Bundessozialgericht

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) Nr 2108 - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS) - nach der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) idF der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343).

Der am 15. Juli 1932 geborene Kläger war ab März 1947 in der Landwirtschaft beschäftigt, absolvierte ab Februar 1948 eine Lehre als Stellmacher, anschließend war er als Bau- und Möbelschreiner sowie Zimmerer berufstätig. Vom Jahr 1956 bis zum Februar 1990 war er Offsetdrucker, danach war er zunächst arbeitsunfähig erkrankt und anschließend wurde ihm eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt. Aufgrund einer Anzeige über den Verdacht einer BK seines letzten Beschäftigungsunternehmens im Jahr 1994 holte die Beklagte als zuständige Berufsgenossenschaft (BG) Auskünfte über seine körperlichen Belastungen bei der Arbeit ein und zog medizinische Unterlagen bei. Nachdem der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten das Vorliegen der sog arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr 2108 beim Kläger verneint hatte, lehnte die Beklagte die Anerkennung der BK beim Kläger ab (Bescheid vom 9. Dezember 1994, Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 1995) .

Das angerufene Sozialgericht Wiesbaden (SG) hat nach Darlegung seiner Hebe- und Tragebelastungen durch den Kläger, dem die Beklagte entgegen getreten ist, ein orthopädisches Gutachten bei Dr. B. eingeholt und die Beklagte aufgrund dieses Gutachtens verurteilt, bei dem Kläger die BK Nr 2108 anzuerkennen und ihm eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ( MdE) von 25 vH ab 30. März 1990 zu zahlen (Urteil vom 22. April 1999). Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) zu den beruflichen Hebe- und Tragebelastungen des Klägers mehrere Zeugen gehört, ein orthopädisches Gutachten bei Prof. Sch., gegen das die Beklagte Einwände erhoben hat, und ein arbeitsmedizinisches Zusammenhangsgutachten mit mehreren Zusatzgutachten bei Dr. Bo. gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes ( SGG) eingeholt. Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 31. März 2004). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger leide zwar an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS, ob er die sog arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr 2108 erfülle, könne dahingestellt bleiben, weil die medizinische Voraussetzung der BK Nr 2108 nicht gegeben sei. Die Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS sei vielgestaltig und die beruflichen Einwirkungen seien nur eine unter vielen denkbaren Ursachen, so dass immer eine individuelle Abwägung erforderlich sei. Dabei sei von folgenden Überlegungen auszugehen: Der Ursachenzusammenhang zwischen beruflicher Belastung und Erkrankung müsse wahrscheinlich sein, die bloße Möglichkeit genüge nicht. Wesentliche Kriterien für den Ursachenzusammenhang bei der BK Nr 2108 seien das Krankheitsbild, insbesondere ein belastungskonformes Schadensbild, das Bestehen einer konstitutionellen Veranlagung bzw konkurrierender Erkrankungen, die Eignung der belastenden Einwirkungen zur Verursachung der Krankheit, Begleitumstände wie Körperhaltung, Hilfsmittel, individuelle Konstitution, zeitliche Korrelation zwischen Erkrankungsverlauf und beruflicher Belastung (Hinweis auf Mehrtens/ Perlebach, Berufskrankheiten-Verordnung, Loseblatt, M 2108 Anm 7; Schönberger/ Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, 1998, S 535 ff; Becker, SGb 2000, 116 ff). Ein als belastungskonform zu bezeichnendes Schadensbild lasse ein dem Lebensalter vorauseilendes Auftreten osteochondrotischer Reaktionen in den unteren LWS-Segmenten und spondylotischer Reaktionen an den oberen LWS-Segmenten evtl unter Einbeziehung der unteren Brustwirbelsäule (BWS) erwarten (Hinweis auf die eigene Rechtsprechung des LSG). Verschleißerscheinungen an der gesamten Wirbelsäule wiesen auf eine konstitutionelle Veranlagung hin. Die Berücksichtigung dieser Grundsätze spreche gegen eine berufliche Verursachung der LWS-Erkrankung des Klägers: Er sei in allen drei Wirbelsäulenabschnitten erkrankt, die schwersten Veränderungen beträfen aber die BWS und nicht die LWS. In Anbetracht dessen könne aufgrund des Hamburger Konsenses eine wesentliche berufliche Verursachung gerade der LWS-Erkrankung nicht begründet werden. Die Erkrankung habe bereits im Jahre 1956 begonnen, seit dem Jahr 1960 sei der Kläger in ständiger ärztlicher Behandlung gewesen und der Bandscheibenvorfall L4/5 sei erst mehr als vier Jahre nach Berufsaufgabe festgestellt worden. Den Gutachten von Dr. B. und Prof. Sch. könne nicht gefolgt werden, eine weitere Sachaufklärung sei im Hinblick auf das umfangreiche Gutachten von Dr. Bo. nicht erforderlich, zumal dessen Ergebnis durch die Stellungnahmen der Beratungsärzte der Beklagten bestätigt werde.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er macht ua geltend, das LSG habe den Ursachenzusammenhang zwischen seiner beruflichen Tätigkeit und seiner LWS-Erkrankung zu Unrecht unter Berufung auf den Hamburger Konsens verneint. Soweit das LSG eine herrschende Lehre anführe, enthalte sein Urteil keine Hinweise auf entsprechende medizinische Erkenntnisquellen oder seine besondere Sachkunde. Das LSG habe die Prüfung des Ursachenzusammenhangs nicht nachvollziehbar dargelegt und begründet, zumal eine wesentliche Mitverursachung seiner LWS-Erkrankung durch die versicherten Einwirkungen genüge. Es gebe kein gesichertes Schadensbild als Ausschlusskriterium. Durch die Gutachten von Dr. B. und Prof. Sch. werde die Annahme des Ursachenzusammenhangs gestützt. Dr. Bo. habe bei seinen Überlegungen zum Mainz-Dortmunder-Dosismodell erhebliche Belastungen des Klägers nicht berücksichtigt. Er - der Kläger - habe keine Gelegenheit gehabt, sich mit dem Hamburger Konsens auseinander zu setzen und das LSG habe damit seine Rechte aus Art 103 des Grundgesetzes (GG) verletzt. Das LSG habe auch § 103 SGG verletzt, indem es den zeitlichen Verlauf seiner Erkrankung nicht aufgeklärt habe. Die Annahme des LSG, er sei ab dem Jahr 1960 in ständiger ärztlicher Behandlung wegen Rückenbeschwerden gewesen, sei unzutreffend und nicht belegt. Im Übrigen habe er seit dem Jahr 1947 rückenbelastende Tätigkeiten ausgeübt.


Der Kläger beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 31. März 2004 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 22. April 1999 zurückzuweisen.


Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe:

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet. Denn nach den derzeitigen Feststellungen des LSG kann nicht beurteilt werden, ob bei dem Kläger die BK Nr 2108 anzuerkennen und ihm aufgrund dieser von der Beklagten eine Verletztenrente zu gewähren ist.

Der vom Kläger verfolgte Anspruch richtet sich noch nach den bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil die geltend gemachte BK vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch ( SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten sein soll (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII). Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere beim Vorliegen einer MdE um wenigstens 20 vH Verletztenrente in der dem Grad der Erwerbsminderung entsprechenden Höhe (§ 581 Abs 1 Nr 2 RVO). Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 550 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs 1 Satz 2 RVO). Als eine solche BK ist in der BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) idF der 2. Änderungsverordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343) unter der Nr 2108 bezeichnet: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Für die Anerkennung einer Erkrankung als BK Nr 2108 müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Der Versicherte muss aufgrund seiner versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben oder getragen oder in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben (versicherte Einwirkung), er muss an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS leiden (vgl dazu BSG vom 31. Mai 2005 - B 2 U 12/04 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 2), diese Erkrankung muss durch die versicherten Einwirkungen verursacht worden sein und den Versicherten zum Unterlassen aller gefährdenden Tätigkeit gezwungen haben.

Dass der Kläger an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS leidet, ergibt sich aus den von keinem Beteiligten angegriffenen und daher für den Senat bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG und deren Subsumtion unter die BK-Bezeichnung, gegen die keine rechtlichen Bedenken erhoben wurden oder zu erkennen sind. Ob und inwieweit der Kläger Einwirkungen im Sinne der BK Nr 2108 durch seine versicherte Tätigkeit ausgesetzt war, hat das LSG dahingestellt gelassen, weil die "medizinische Voraussetzung" - womit der Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Erkrankung gemeint war - zu verneinen sei. Gegen diese letzte Beurteilung wendet sich die Revision des Klägers nach den derzeitigen Feststellungen des LSG zu Recht.

Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und Erkrankungen im Berufskrankheitenrecht gilt, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung, die der Senat in den Entscheidungen vom 9. Mai 2006 (- B 2 U 1/05 R - vorgesehen für BSGE und SozR sowie - B 2 U 26/04 R - mwN) zusammengefasst dargestellt hat. Die Theorie der wesentlichen Bedingung hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der Ursache eines Erfolges jedes Ereignis ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non) . Aufgrund der Unbegrenztheit der Bedingungstheorie werden im Sozialrecht als rechtserheblich aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben). Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache sind insbesondere die versicherte Ursache bzw das Ereignis als solches, also Art und Ausmaß der Einwirkung, konkurrierende Ursachen unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens und Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach den Einwirkungen, Befunde und Diagnosen der erstbehandelnden Ärzte sowie die gesamte Krankengeschichte. Trotz dieser Ausrichtung am individuellen Versicherten sind der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs im Einzelfall der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Ursachenzusammenhänge zwischen Ereignissen und Gesundheitsschäden zugrunde zu legen. Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang nach der Theorie der wesentlichen Bedingung positiv festgestellt werden muss und hierfür hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt, nicht jedoch die bloße Möglichkeit.

Abweichend von einem Arbeitsunfall mit seinem zeitlich begrenzten Ereignis, das oftmals relativ eindeutig die allein wesentliche Ursache für einen als Unfallfolge geltend gemachten Gesundheitsschaden ist, ist die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs bei BKen und insbesondere der BK Nr 2108 in der Regel schwieriger. Denn angesichts der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen (vgl schon BR-Drucks 773/92, S 8; im Übrigen nur Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003, Kapitel 8.3.5.5.4.1, S 577), der Dauer der zu berücksichtigenden Zeiträume und des Fehlens eines eindeutig abgrenzbaren Krankheitsbildes, das für Belastungen durch Heben und Tragen oder Arbeit in Rumpfbeugehaltung typisch ist (vgl Konsensempfehlung von Bolm-Audorff ua in der Zeitschrift Trauma und Berufskrankheit 3 (2005), 211, 212), stellt sich letztlich entscheidend nur die Frage nach einer wesentlichen Mitverursachung der LWS-Erkrankung durch die versicherten Einwirkungen.

Aus diesen Gründen ist auch der vom LSG erörterte § 9 Abs 3 SGB VII, unabhängig von seinem Inkrafttreten erst am 1. Januar 1997, bei der BK Nr 2108 nach heutigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht anwendbar (vgl schon Urteil des Senats vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 - SGb 1999, 39 mit zustimmender Anmerkung von Ricke).

Nicht zu beanstanden ist, dass das LSG für die Ursachenbeurteilung eine Gesamtbetrachtung angestellt hat und in Übereinstimmung mit den zum Entscheidungszeitpunkt existierenden Standardwerken von Mehrtens/Perlebach (Berufskrankheiten-Verordnung, Loseblatt, M 2108 Anm 7) und Schönberger/ Mehrtens/ Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, 1998, S 535 ff) sowie der Veröffentlichung von Becker (SGb 2000, 116 ff) entsprechend den obigen allgemeinen Ausführungen für die Ursachenbeurteilung folgende Kriterien zugrunde gelegt hat: Die belastenden Einwirkungen, das Krankheitsbild, insbesondere ob ein altersuntypischer Befund und ein belastungskonformes Schadensbild vorliegen, eine zeitliche Korrelation zwischen den Einwirkungen und dem Erkrankungsverlauf, das Vorliegen von konkurrierenden Ursachen wie zB Schadensanlagen. Dies entspricht auch der zwischenzeitlich veröffentlichten Konsensempfehlung von Bolm-Audorff ua (Trauma und Berufskrankheit 3 (2005), 211, 216 ff, 228 ff).

Das LSG hat einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen den beruflichen Belastungen des Klägers und der Entwicklung seiner Wirbelsäulenerkrankung deshalb als unwahrscheinlich angesehen, weil ein belastungskonformes Schadensbild in Gestalt vorzeitiger osteochondrotischer Reaktionen in den unteren und spondylotischer Reaktionen an den oberen Segmenten der LWS fehle und Verschleißerscheinungen an der gesamten Wirbelsäule, wie sie beim Kläger vorlägen, auf eine konstitutionelle Veranlagung hinwiesen. Darüber hinaus spreche der zeitliche Verlauf der Krankheit und das Auftreten des Bandscheibenvorfalls erst mehrere Jahre nach der Berufsaufgabe gegen eine berufliche Verursachung.

Die Frage, ob es ein belastungskonformes Schadensbild gibt, aus dessen Vorhandensein auf die Mitursächlichkeit körperlicher Belastungen für die Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS und aus dessen Fehlen umgekehrt auf eine anderweitige Verursachung geschlossen werden kann, ebenso die weitere Frage, ob für die Annahme eines Ursachenzusammenhangs eine bestimmte zeitliche Korrelation zwischen den beruflichen Einwirkungen und dem Krankheitsverlauf zu fordern ist, zielen auf die Existenz entsprechender medizinischer Erfahrungssätze. Ob solche Erfahrungssätze existieren, ist unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten (allgemein dazu: Senatsurteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen; vgl auch BSG SozR 3850 § 51 Nr 9; BSG SozR 1500 § 128 Nr 31 = SGb 1988, 506 mit Anm K. Müller; BSG SozR 3-3850 § 52 Nr 1; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, Kap III RdNr 47, 57; Rauschelbach, MedSach 2001, 97; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl 2003, Kap 2.3.4.3, S 146). Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht.

Das Gericht, das die Existenz einschlägiger Erfahrungssätze festzustellen hat, muss sich Klarheit darüber verschaffen, welches in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist. Dazu können einschlägige Publikationen, beispielsweise die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums und die wissenschaftliche Begründung des ärztlichen Sachverständigenbeirats, Sektion Berufskrankheiten, zu der betreffenden BK oder Konsensusempfehlungen der mit der Fragestellung befassten Fachmediziner herangezogen werden, sofern sie zeitnah erstellt oder aktualisiert worden sind und sich auf dem neuesten Stand befinden. Fehlen solche Zusammenstellungen oder sind sie veraltet, bedarf es entsprechender Ermittlungen. Da Gerichte regelmäßig nicht selbst über den notwendigen medizinischen und technischen Sachverstand verfügen, um den Stand der fachlichen Diskussion zuverlässig nachzeichnen und bewerten zu können, muss in solchen Fällen ein Sachverständiger gehört werden.

Die Ausführungen des LSG zum Fehlen eines belastungskonformen Schadensbildes werden den aufgezeigten Voraussetzungen zur Feststellung des der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zugrunde zulegenden wissenschaftlichen Erkenntnisstandes nicht gerecht. Das LSG hat für ein als belastungskonform zu bezeichnendes Schadensbild ein dem Lebensalter vorauseilendes Auftreten osteochondrotischer Reaktionen in den unteren LWS-Segmenten und spondylotischer Reaktionen an den oberen LWS-Segmenten evtl unter Einbeziehung der unteren BWS gefordert, ohne dies mit entsprechender medizinisch-wissenschaftlicher Fachliteratur - ggf unter Hinweis auf die ihm vorliegenden ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen - zu belegen. Durch eine Bezugnahme des LSG auf seine eigene "ständige Rechtsprechung" kann dies nicht ausgeglichen werden, denn eine ständige Rechtsprechung ersetzt keine medizinisch-wissenschaftliche Begründung. Im Übrigen sind die angeführten Entscheidungen des Hessischen LSG vom 24. Oktober 2001 - L 3 U 408/98 - und vom 24. April 2002 - L 3 U 395/00 - soweit ersichtlich - nicht veröffentlicht und auch nicht über juristische Informationssysteme wie Juris, Beck-Online, Sozialgerichtsbarkeit.de zu finden, so dass eine Nachprüfung der in ihnen vertretenen wissenschaftlichen Auffassung nicht möglich ist. Aus der zum Zeitpunkt der Entscheidung des LSG am 31. März 2004 längst erschienen 7. Auflage von Schönberger/Mehrtens/Valentin aus dem Jahre 2003 (Kapitel 8.3.5.5.4.3, S 579 f) wird hingegen deutlich, dass die Forderung des LSG nach einem Schadensbild mit osteochondrotischen Reaktionen in den unteren LWS-Segmenten und spondylotischer Reaktionen an den oberen LWS-Segmenten - den sog belastungsadaptiven Reaktionen - nicht dem damaligen (allgemeinen) wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprach, weil dieses Krankheitsbild als "weitergehende Forderung" bezeichnet wird, die "zum Teil" erhoben werde. Diese Auffassung ist es auch heute nicht, wie der schon angeführten Konsensempfehlung zu entnehmen ist (aaO S 212 f).

Soweit das LSG seine Entscheidung außerdem auf den von ihm angeführten und wiederum nicht mit Zitaten aus der wissenschaftlichen Literatur näher belegten "Hamburger Konsens" stützt, gilt nichts anderes. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder welchen medizinischen Erfahrungssatz das LSG damit gemeint haben könnte, ist unklar: In der wissenschaftlichen Literatur zur BK Nr 2108 wird der Begriff - soweit ersichtlich - nur einmal von Schröter (Trauma und Berufskrankheit 1 (2002), 127, 128) unter Hinweis auf eine Veröffentlichung von Wolter/ Seide/Grosser (Kriterien zur Beurteilung berufsbedingter Lendenwirbelsäulenerkrankungen (BK 2108), Hamburg 1994), in der der Begriff selbst nicht verwandt wird, gebraucht, um Lösungsansätze zur Beurteilung des Ursachenzusammenhanges bei der BK Nr 2108 in der Vergangenheit - aus Sicht des Jahres 2002 - darzustellen. Sollte mit der vom LSG als "Hamburger Konsens" bezeichneten Auffassung die von Hansis wiederholt (vgl BG 1995, 433 sowie Unfallchirurg 1998, 799) unter der Bezeichnung "Hamburger Formel" vertretene Entscheidungsweg gemeint sein, so ist der Begründungszusammenhang im Urteil des LSG nicht nachvollziehbar. Denn das LSG leitet aus seinen Feststellungen zu einer polysegmentalen Verteilung der Wirbelsäulenerkrankung des Klägers unmittelbar ab, dass damit nach dem "Hamburger Konsens" eine wesentliche berufliche Verursachung nicht begründet werden könne, während nach der "Hamburger Formel" von Hansis ein dreischrittiger Entscheidungsweg (Unfallchirurg 1998, 799, 800) empfohlen wird. Schon aufgrund dieser Unklarheit und der mangelnden Darlegung der wissenschaftlichen Begründung kann die Auffassung des LSG nicht als aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand einer Gerichtsentscheidung zugrunde gelegt werden.

Aufgrund dieser Umstände ist die vom Kläger insofern erhobene Rüge der Verletzung seines rechtlichen Gehörs nach Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG ebenfalls begründet, weil das LSG mit der Anwendung des "Hamburger Konsenses" seiner Entscheidung einen von ihm angenommenen Erfahrungssatz zugrunde gelegt hat, ohne diesen vorher den Beteiligten zur Kenntnis gebracht zu haben ( vgl nur BSG vom 5. März 2002 - B 2 U 27/01 R -).

Gegen das vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegte weitere Kriterium des zeitlichen Verlaufs der Erkrankung, insbesondere im Vergleich zur Belastung durch die versicherten Einwirkungen, bestehen keine derart grundsätzlichen Bedenken, da dieses Kriterium den angeführten Standardwerken und der Konsensempfehlung entspricht (vgl nur letztere aaO S 216). Logische Voraussetzung für die Verwendung dieses Kriteriums ist jedoch, dass die versicherten Einwirkungen festgestellt werden oder von einem bestimmten Ausmaß ihrerseits ausgegangen wird. Dies hat das LSG jedoch nicht getan, es hat es vielmehr dahingestellt gelassen, ob die von ihm so bezeichnete arbeitstechnische Voraussetzung erfüllt ist. Angesichts dessen ist es nicht nachvollziehbar, wie das LSG aus der zeitlichen Entwicklung der Wirbelsäulenerkrankung des Klägers Gründe gegen die berufliche Verursachung der Krankheit ableiten will. Im Übrigen war der am 15. Juli 1932 geborene Kläger zu dem vom LSG angenommen Beginn seiner LWS-Erkrankung im Jahr 1956 ausweislich des vom LSG zumindest allgemein festgestellten Berufswegs schon knapp zehn Jahre verschiedenen ggf lendenwirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten nachgegangen, weil er bereits im jugendlichen Alter zunächst ab März 1947 in der Landwirtschaft beschäftigt war, dann ab Februar 1948 eine Lehre als Stellmacher absolvierte und anschließend als Bau- und Möbelschreiner sowie Zimmerer berufstätig war (vgl zum zeitlichen Umfang der LWS-gefährdenden Beschäftigung vor dem ersten Auftreten von Beschwerden: BSG vom 7. September 2004 -
B 2 U 34/03 R -). Außerdem fehlen hinsichtlich der vom LSG angeführten ersten Rückenbeschwerden des Klägers in dem Jahre 1956 jegliche weitere Feststellungen hinsichtlich der Art der Beschwerden und ihrer Ausprägung.

Da das BSG die für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs notwendigen Feststellungen zu den Umständen des Einzelfalls nicht selbst nachholen kann, hat der Senat das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen (§ 170 Abs 2 SGG). Das LSG wird auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu ermitteln haben, ob die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS des Klägers durch dessen versicherte Einwirkungen im Laufe seines Berufslebens nach der Theorie der wesentlichen Bedingung verursacht wurde. Auf Feststellungen hinsichtlich der Art und des Ausmaßes der versicherten Hebe- und Tragebelastungen wird das LSG nur verzichten können, wenn die Entscheidung über die Verursachung der LWS-Erkrankung auch ohne die auf den Einwirkungen beruhenden Kriterien möglich ist oder es wird bei der Klageabweisung den entsprechenden Vortrag des Klägers bzw bei einer Klagestattgabe den entsprechenden Vortrag des Beklagten als wahr zu unterstellen haben.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Referenznummer:

R/R2460


Informationsstand: 29.09.2006