Tenor:
I. Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 25. Januar 2010 insoweit aufgehoben, als der Beklagte verurteilt worden ist, die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen RF festzustellen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf den Nachteilsausgleich/ das Merkzeichen RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (
SGB IX).
Der 1929 geborene Kläger wohnt allein in einer
ca. 25
m² großen, im dritten Obergeschoss gelegenen Wohnung, die nur über eine enge Treppe zu erreichen ist. Er kann aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr Treppen steigen.
Für ihn waren im Juni 2007 ein Grad der Behinderung (
GdB) von 60 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung) festgestellt worden. Auf seinen Antrag vom 27.03.2008 hin, der auf die Erhöhung des
GdB und Zuerkennung der Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) sowie RF gerichtet war, erhöhte der Beklagte mit Bescheid vom 01.07.2008 den
GdB auf 80. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die beantragten Merkzeichen lägen, so der Beklagte, nicht vor. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass die Voraussetzungen für Merkzeichen RF nicht erfüllt seien, da mit Hilfe von Begleitpersonen und technischen Hilfsmitteln (
z.B. Rollstuhl) eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen noch möglich sei.
Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, dass er wegen seiner Behinderungen nicht an politischen öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Wegen seiner Schmerzen in der Hüfte und in den Knien könne er das Haus aus eigener Kraft nicht mehr verlassen. Dies sei nur mit Hilfestellung zweier Männer (Sanitäter) möglich. Er habe Angst zu stürzen, was ihm vor vier Jahren auch passiert sei. Seit diesem Unfall verlasse er das Haus nicht mehr. Es sei ihm unmöglich, Treppen zu steigen, da er die Kraft dazu nicht habe. Er könne auch die Knie nicht ausreichend abbiegen wegen der Schmerzen, die von der kaputten Hüfte in die Beine ausstrahlen würden. Im Haus bewege er sich ausschließlich mittels Krücken. Es falle ihm sehr schwer, seinen Körper aufrecht zu halten, da die Schmerzen ihn daran hindern würden. Bereits beim Aufstehen habe er große Schmerzen im linken Knie. In beiden Beinen habe er Wasserödeme. Sehr oft leide er unter dicken angeschwollenen Beinen. An einer Hand leide er an Gicht, so dass er sich mit dieser Hand nicht festhalten oder etwas heben könne. Seine Hüfte sei völlig kaputt und es sei keine Muskelkraft mehr in den Beinen vorhanden. Eine Operation, zu der die Hausärztin geraten habe, sei gescheitert, weil die Durchblutung in seinen Beinen zu schlecht sei. Der Oberarzt habe das Risiko einer Hüftoperation abgelehnt. Vor vielen Jahren habe er einen Arbeitsunfall gehabt. Seither sei sein linker Arm verkürzt, die Motorik in diesem Arm sei erheblich eingeschränkt. Er könne damit nur schwer greifen und nicht schwer heben.
Als dem Beklagten die vom Unfallversicherungsträger angeforderten Unterlagen über den Arbeitsunfall im November 1985 vorlagen (
MdE 20 v.H. wegen Schädigungsfolgen im Bereich des linken Arms), erteilte er einen Teilabhilfe-Bescheid vom 23.09.2008, mit dem er zusätzlich die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen B (Begleitperson bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) anerkannte. Die Gesundheitsstörungen wurden wie folgt bezeichnet:
1. Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Funktionsbehinderung des Hüftgelenks links, Polyarthrose, wiederkehrende Beingeschwüre rechts, arterielle Verschlusskrankheit beider Beine (Einzel-
GdB 70)
2. Lungenfunktionseinschränkung (Einzel-
GdB 40)
3. Bewegungseinschränkung und Belastbarkeitsminderung des rechten Arms (Arbeitsunfallfolgen) (Einzel-
GdB 20)
4. Gicht mit Gelenkbeteiligung (Einzel-
GdB 10)
5. Bluthochdruck (Einzel-
GdB 10).
Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 04.02.2009 zurückgewiesen.
Mit der am 24.02.2009 zum Sozialgericht Nürnberg erhobenen Klage hat der Kläger weiterhin Merkzeichen aG verlangt. Er hat beanstandet, dass sein Gesundheitszustand nach Aktenlage nicht richtig beurteilt worden sei. Nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte hat das Sozialgericht
Dr. G., Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen, mit einem Gutachten zur Frage des
GdB und des Merkzeichens aG beauftragt, das dieser am 04.11.2009 nach Untersuchung des Klägers im Wege eines Hausbesuchs erstattet hat. Der Sachverständige hat wegen zusätzlicher Berücksichtigung einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule (Einzel-
GdB 30) einen
GdB von 90 seit der Untersuchung am 03.11.2009 ausgewiesen und außerdem bestätigt, dass der Kläger die Voraussetzungen für Merkzeichen aG erfülle. Darüber hinaus könne der Kläger, so
Dr. G., nicht in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen besuchen, weil - selbst wenn Rollstuhl und Begleitperson zur Verfügung stünden - fachgerechte Hilfeleistung notwendig wäre, um Treppen über drei Geschosse zu überwinden. Zuvor hatte er ausgeführt, dass der Kläger keinesfalls die zu seiner Wohnung führenden Treppen ab- oder aufsteigen könne. Schon vor Jahren habe er dazu die Unterstützung von zwei Sanitätern gebraucht.
Das Vergleichsangebot des Beklagten über einen
GdB von 90 und Merkzeichen aG, jeweils ab 03.11.2009, hat der Kläger nicht angenommen und unter Berufung auf
Dr. G. vorgebracht, dass er aufgrund seiner Leiden das Haus nicht mehr verlassen könne und nicht in der Lage sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Das Sozialgericht Nürnberg hat mit Gerichtsbescheid vom 25.01.2010 den Beklagten verpflichtet, ab 03.11.2009 einen
GdB von 90 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen aG und RF festzustellen, und im Übrigen die Klage abgewiesen. In Kenntnis der restriktiven höchstrichterlichen Rechtsprechung hat sich die Kammer auf den Standpunkt gestellt, dass der Kläger nicht in zumutbarer Weise an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne.
Dr. G. habe die Voraussetzungen für das Merkzeichen bejaht, weil der Kläger fachgerechte Hilfeleistung benötige, um Treppen über drei Geschosse zu überwinden. Es sei ärztlich bestätigt, dass er wegen der Erkrankungen der Hüftgelenke und der Kniegelenke nicht in der Lage sei, Treppen zu steigen oder hinab zu gehen. Darüber hinaus bestünden langwierige Hautgeschwüre aufgrund der arteriellen Verschlusskrankheit. Ein deutlich reduzierter Kräftezustand werde beschrieben. Die Kriterien in den Anhaltspunkten würden nicht verlangen, dass der Behinderte ständig bettlägerig sein müsse. Da der Kläger weder gehen noch stehen könne, benötige er die Hilfe von zwei kräftigen Personen, die ihn die Treppe hinunter schaffen und zu einem Zielort verbringen müssten. Für das Gericht sei nachvollziehbar, dass die Inanspruchnahme eines Krankentransports erforderlich sei. Für den Kläger bedeute es eine erhebliche Prozedur, das Haus zu verlassen. Er sei dabei auf fremde Hilfe angewiesen, die weit über die übliche Hilfestellung im Familien- oder nachbarschaftlichen Bereich hinausgehen würde. Nach den beschriebenen gesundheitlichen Einschränkungen sei der Kläger nicht nur zur Überwindung der Treppen in dem von ihm bewohnten Haus, sondern auch außerhalb des Hauses auf fremde Hilfe und mit Sicherheit auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Frage der Zumutbarkeit - im Sinn der Zumutbarkeit für den Behinderten, nicht für die Gesellschaft - komme daher eine Bedeutung zu, die nicht nur aus medizinischer Sicht zu beurteilen sei. Wenn das Ausmaß der Hilfestellung so erheblich sei, dass der Mensch, der an der Gesellschaft teilhaben wolle, sich jedes Mal nicht nur von einem Behindertentransport abholen, sondern auch noch die Treppe herunter tragen lassen müsse, sei eine Grenze der Zumutbarkeit erreicht, wenn der Behinderte die damit verbundenen Transport-Umstände nicht auf sich nehmen wolle. Der Entscheidung des Bayer. Landessozialgerichts (
LSG) vom 15.03.2005 (
L 18 SB 100/03) sei entgegen zu halten, dass es durchaus ein gesellschaftspolitisches Ziel sei, Behinderte möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung und in ihren sozialen Kontakten zu unterstützen. Es sei fraglich, ob die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (
BSG), auf die das Bayer.
LSG verweise, einer Überprüfung unter dem Gesichtspunkt des vom Gesetzgeber in den Vordergrund gestellten Selbstbestimmungsrechts des Behinderten stand halten würden. Dazu gehöre auch die Entscheidung, wo der Mensch leben wolle, insbesondere ob er bereit sei, seine gewohnte Umgebung zu verlassen und in eine behindertengerechte Wohnung umzuziehen. Dem Kläger stünde wohl nur der Umzug in ein Pflegeheim offen, wo er dann barrierefrei und unter Verwendung eines Rollstuhls und mit Unterstützung von Pflegepersonal an den dortigen Veranstaltungen
bzw. außerhäusigen Veranstaltungen teilnehmen könnte. Solange der Kläger nicht in einer seinen Behinderungen entsprechenden Umgebung lebe, könne er nicht in zumutbarer Weise an öffentlichen Veranstaltungen teilhaben.
Gegen den dem Beklagten am 28.01.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am gleichen Tag Berufung eingelegt und die Zuerkennung des Merkzeichens RF beanstandet. Wegen der grundsätzlichen Ausführungen des Sozialgerichts zur Rechtsprechung bezüglich des Merkzeichens RF sei es nicht möglich, die Angelegenheit als medizinische Einzelfallentscheidung zu behandeln. Vollstreckungsschutzantrag werde allerdings nicht gestellt, so dass das Urteil vorläufig ausgeführt würde.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.01.2010 abzuändern und die Klage insoweit abzuweisen, als sie das Merkzeichen RF betrifft.
Der Kläger ist zur mündlichen Verhandlung wie schriftlich angekündigt nicht erschienen und beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Er könne ohne erheblichen Hilfeaufwand von Trägern und Rollstuhl ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Dieser gesundheitliche Befund sei bleibend, unabhängig davon, ob er im Erdgeschoss wohnen würde oder im dritten Stock. Ohne Krücken werde er wohl niemals mehr in seinem Leben gehen oder stehen können. Durch das viele Liegen und Sitzen habe sich die Muskulatur völlig zurückgebildet, so dass er völlig kraftlos sei und keine zwei Minuten mehr stehen könne. Seit sechs Jahren habe er das Haus nicht mehr verlassen, nur in medizinisch begründeten Ausnahmefällen (Krankenhaus-, Arztbesuche) mit Hilfe von Tragestuhl und Trägern. Auch im Rollstuhl habe er wegen seines Muskelschwundes Schwierigkeiten, sich zu halten. Er möchte nicht in ein Heim ziehen, er würde gern in seiner Wohnung bleiben. Das Sozialrecht, insbesondere das Schwerbehindertenrecht, sollte für den Betroffenen und nicht gegen den Betroffenen angewandt werden. Außerdem hat der Kläger ein an ihn adressiertes Schreiben des
Dr. G. vom 20.05.2010 vorgelegt, in dem dieser seine Meinung bekräftigt hat, dass er es nicht für zumutbar halte, Menschen mittels zweier Helfer über mehrere Geschosse über sehr enge Treppen zu einem Rollstuhl zu schleppen.
Nach Beiziehung eines aktuellen Befundberichts des Hausarztes des Klägers hat der Senat den Internisten und Sozialmediziner
Dr. B. als Sachverständigen beauftragt, der den Kläger im Wege des Hausbesuchs am 29.10.2010 untersucht hat. Im Gutachten vom 11.11.2010 hat der Sachverständige minutiös den körperlichen Zustand des Klägers beschrieben und ausgeführt, dass die Funktionsbehinderung der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke samt wiederkehrender Beingeschwüre bei venösen und arteriellen Durchblutungsstörungen beider Beine einen Einzel-
GdB von 80 und die Einschränkung von Herz- und Lungenfunktion, Bluthochdruck einen Einzel-
GdB von 50 rechtfertigen würden. Es bestehe nicht der geringste Zweifel, dass der Kläger auch mit Hilfe einer Begleitperson nicht in der Lage sei, Treppen zu steigen. Er müsse also auf einem Tragestuhl sitzend von zwei Pflegekräften die drei Treppen seines Hauses heruntergetragen werden. Außerhalb seiner Wohnung sei er auf einen Rollstuhl angewiesen; ihm könnten außerhalb seiner Wohnung bestenfalls wenige Schritte am Arm einer Begleitperson und bei gleichzeitiger Benutzung einer Unterarmstockstütze zugemutet werden. Unter folgenden Voraussetzungen könne der Kläger an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen: Transport mittels eines Tragestuhls über die drei Treppen seines Wohnhauses hinunter und wieder hoch; Transport sitzend in einem Rollstuhl zum Veranstaltungsort und wieder zurück; Teilnahme an der Veranstaltung sitzend in einem Rollstuhl oder auch in einem Stuhl mit Rückenlehne und seitlichen Armlehnen. Nicht stichhaltig sei der im Berufungsverfahren vorgebrachte Einwand des Klägers, wegen eines Muskelschwundes Schwierigkeiten zu haben, sich im Rollstuhl sitzend zu halten. Ihm könne längeres Sitzen in einem Rollstuhl durchaus zugemutet werden. Das knapp einstündige Anamnesegespräch habe der Kläger sitzend auf einem Stuhl ohne seitliche Lehnen verbracht, während der Untersuchung habe er längere Zeit frei sitzend auf dem Bett ohne jegliche Abstützung des Rückens verbracht. Die in diesem Rechtsstreit diskutierte Frage der Zumutbarkeit der Bedingungen, unter denen eine Teilnahme des Klägers an öffentlichen Veranstaltungen auf Grund seiner Wohnsituation stattfinden könne, sei eine rechtliche Frage, zu deren Beantwortung er als Sachverständiger nicht berufen sei. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF, wie sie unter Randnummer 33 der Anhaltspunkte 2005 beschrieben würden, lägen beim Kläger nicht vor. Die Behinderungen des Klägers würden nicht abstoßend oder störend wirken, er leide auch nicht an einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose und eine immunsuppressive Therapie werde nicht durchgeführt. Der Kläger sei nicht geistig oder seelisch behindert, so dass nicht befürchtet werden müsse, dass er öffentliche Veranstaltungen stören würde.
Der Senat hat die Akten des Beklagten und des Sozialgerichts Nürnberg beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte und der beigezogenen Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat hat in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden können, da dieser über den Termin zur mündlichen Verhandlung informiert und dabei auch auf die Folgen seines Ausbleibens hingewiesen worden ist (§ 110
Abs. 1 Satz 2, § 153
Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -
SGG).
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Merkzeichen RF. Nur insoweit ist der angefochtene Bescheid vom 01.07.2008 in der Gestalt des Teilabhilfe-Bescheids vom 23.09.2008 und des Widerspruchsbescheids vom 04.02.2009 noch nicht rechtskräftig. Der Beklagte hat Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.01.2010 insoweit eingelegt, als Merkzeichen RF zuerkannt worden ist. Im erstinstanzlichen Verfahren ist Merkzeichen RF zunächst nicht Streitgegenstand gewesen. Ausweislich der Klagebegründung und der weiteren Schreiben des Klägers ist es ihm um Merkzeichen aG gegangen. Konsequenterweise hat das Sozialgericht in der Beweisanordnung für die Begutachtung durch
Dr. G. eine Beweisfrage bezüglich Merkzeichen RF nicht gestellt. Nachdem
Dr. G. ungefragt zu Merkzeichen RF Stellung genommen hatte, ist der Prozess auf Merkzeichen RF erweitert worden. Stillschweigend und in vertretbarer Weise hat das Sozialgericht die Voraussetzungen einer Klageänderung gemäß § 99
SGG angenommen.
Die Entscheidung des Sozialgerichts wird aufgehoben, soweit es den Beklagten verurteilt hat, die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen RF festzustellen. Die mit den streitgegenständlichen Bescheiden erfolgte Ablehnung des Antrags auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch darauf, dass dieses Merkzeichen in seinen Schwerbehindertenausweis eingetragen wird. Da infolge der vorläufigen Ausführung des angefochtenen Gerichtsbescheids das Merkzeichen RF derzeit im Schwerbehindertenausweis eingetragen ist, hat der Beklagte dies nach Eintritt der Rechtskraft zu korrigieren.
Anspruchsgrundlage ist
§ 69 Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 6
Abs. 1 Nrn. 7, 8 Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RGebStV). Nach § 69
Abs. 4
SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung sind für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen. Hierzu gehören auch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, bei deren Erfüllung das Merkzeichen RF in den Schwerbehindertenausweis einzutragen ist. Eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erhalten aus gesundheitlichen Gründen gemäß § 6
Abs. 1
Nr. 7 RGebStV
a) blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 60 vom Hundert allein wegen der Sehbehinderung;
b) hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist; und gemäß § 6
Abs. 1
Nr. 8 RGebStV behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Der Kläger gehört nicht zu dem begünstigten Personenkreis. Er ist weder wesentlich sehbehindert noch schwer hörgeschädigt. Für ihn ist zwar ein
GdB von 90 festgestellt, er gehört aber nicht zu den behinderten Menschen, die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Trotz der beim Kläger bestehenden schweren Behinderung mit beträchtlichen, fast zur Immobilität führenden Bewegungsstörungen erfüllt er nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Aus Gründen der gebotenen Gleichbehandlung aller Behinderten ist für die rechtliche Prüfung der Maßstab anzulegen, der für alle Behinderte gilt. Der Senat sieht sich außer Stande, im Fall des Klägers eine Ausnahme zu machen.
Für die Anerkennung des Merkzeichens RF ist erforderlich, dass der Behinderte wegen seiner Leiden ständig, d.h. allgemein und umfassend, von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Es genügt nicht, dass er nur an einzelnen Veranstaltungen, etwa Massenveranstaltungen, nicht teilnehmen kann, vielmehr muss er praktisch an das Haus/ an die Wohnung gebunden sein (
vgl. BSG, Urteil vom 17.03.1982,
9a/9 RVs 6/81; Urteil vom 10.08.1993,
9/9a RVs 7/91; Urteil vom 12.02.1997,
9 RVs 2/96; Urteil vom 23.02.1987,
9a RVs 72/85; Urteil vom 03.06.1987,
9a RVs 27/85; Bayer.
LSG, Urteil vom 20.10.2010, L 16 SB 182/09; Urteil vom 31.03.2011, L 15 SB 105/10). Öffentliche Veranstaltung ist jede grundsätzlich jedermann uneingeschränkt oder bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen (
z.B. Eintrittsgeld) zugänglich gemachte Veranstaltung im Sinn einer Organisation von Darbietungen verschiedenster Art; dazu zählen Veranstaltungen politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art, wobei es auf das tatsächliche Angebot von Veranstaltungen im örtlichen Einzugsbereich des Behinderten ebenso wenig ankommt wie auf seine persönlichen Vorlieben, Bedürfnisse, Neigungen oder Interessen (
vgl. BSG, Urteil vom 23.02.1987, 9a RVs 72/85; Urteil vom 03.06.1987, 9a RVs 27/85; Urteil vom 12.02.1997, 9 RVs 2/96). Maßgeblich ist allein die Möglichkeit der körperlichen Teilnahme, gegebenenfalls mit technischen Hilfsmitteln (
z.B. Rollstuhl) und/ oder mit Hilfe einer Begleitperson (
BSG, Urteil vom 03.06.1987, 9a RVs 27/85; Urteil vom 11.09.1991,
9a/9 RVs 15/89). Den Nachteilsausgleich erhält, wer aus physischen Gründen nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann, sei es wegen körperlicher Behinderung, sei es wegen Unzumutbarkeit für die Umgebung (
vgl. BSG, Urteil vom 11.09.1991, 9a/9 RVs 15/89; Urteil vom 10.08.1993, 9/9a RVs 7/91; zum Ganzen siehe auch
Nr. 33
Abs. 2 Buchst. c der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht -
AHP - 2005).
Der Kläger ist zwar letztlich an sein Haus, d.h. an seine Wohnung gebunden. Dies hängt aber nicht nur mit seinen Leiden zusammen. Wesentliche Ursache hierfür ist vielmehr auch seine ungünstige Wohnsituation. Seine kleine Wohnung befindet sich im dritten Stock, sie ist nur über eine enge Treppe zu erreichen. Nach den gut begründeten Ausführungen der Sachverständigen
Dr. G. und
Dr. B. ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger die zu seiner Wohnung im dritten Stock führenden Treppen aus eigener Kraft nicht überwinden kann und dazu der Hilfe zweier Sanitäter bedarf. Daraus ergibt sich aber kein Anspruch auf Merkzeichen RF.
Abgesehen von der ungünstigen Wohnsituation ist der Kläger so "mobil" wie ein Rollstuhlfahrer; einige Schritte kann er auch mit Unterarmstützkrücken überwinden. Das verdeutlichen die Darlegungen des
Dr. B. und wird auch von
Dr. G. nicht in Frage gestellt. Wie
Dr. B. bestätigt hat, kann der Kläger an Veranstaltungen in der Weise teilnehmen, dass er entweder im Rollstuhl oder in einem Stuhl mit Rückenlehne und seitlichen Armlehnen sitzt. Der Transport zur Veranstaltung und zurück kann im Rollstuhl sitzend bewältigt werden. Trotz der beträchtlichen Leiden kann der Kläger also öffentliche Veranstaltungen mit technischen Hilfsmitteln (Rollstuhl) und gegebenenfalls mit einer Begleitperson erreichen und dort auch verweilen. Damit erfüllt er die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen RF nicht (
vgl. BSG, Urteil vom 03.06.1987, 9a RVs 27/85; Urteil vom 11.09.1991, 9a/9 RVs 15/89;
Nr. 33
Abs. 2 Buchst. c
AHP 2005). Der Senat hält diese Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch im Lichte des seit Juni 2001 geltenden
§ 1 SGB IX für richtig. Zielvorgabe ist danach die Förderung der Selbstbestimmung der Behinderten und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Wie vom
BSG schon vor vielen Jahren beobachtet (Urteil vom 03.06.1987, 9a RVs 27/85), empfindet es die Gesellschaft mittlerweile als normal, dass Rollstuhlfahrer mit und ohne Begleitperson an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Bei den Veranstaltungsorten finden sich auch regelmäßig die notwendigen Vorkehrungen für Rollstuhlfahrer wie Rampen, verbreiterte Türen und behindertengerechte Toiletten.
Die ungünstigen Wohnverhältnisse des Klägers können nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt werden (ebenso Bayer.
LSG, Urteil vom 15.03.2005,
L 18 SB 100/03). Der Ausschluss vom öffentlichen Geschehen muss behinderungsbedingt ("wegen seiner Leiden") sein und darf nicht maßgeblich auf anderen Gründen beruhen. Andernfalls würden von Fall zu Fall unterschiedliche Maßstäbe gelten, die in § 6
Abs. 1
Nr. 8 RGebStV keine Grundlage finden. Nach § 6
Abs. 1
Nr. 8 RGebStV werden nur behinderungsbedingte Nachteile ausgeglichen. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom Juni 1987, wonach weder ein witterungsbedingter noch ein wohnungsbedingter Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen - hier ging es um die räumliche Entfernung des Wohnorts vom Gemeindezentrum - geeignet seien, einen Anspruch auf Merkzeichen RF zu begründen (Urteil vom 03.06.1987, 9a RVs 27/85), ist entgegen der Zweifel des Sozialgerichts weiterhin richtig. Gesichtspunkte wie schlechte Witterungsverhältnisse, die schlechte Anbindung einer Wohnung an das Gemeindezentrum oder wie hier die erschwerte Erreichbarkeit einer Wohnung im dritten Stock bei Fehlen eines Aufzugs sind nicht, auch nicht im Zusammenspiel mit der konkreten Behinderung, geeignet, Nachteilsausgleiche für Behinderte zu begründen. Für "normale" Rollstuhlfahrer entspricht diese Linie offenbar auch der Auffassung des
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 30.04.2009,
L 11 SB 348/08). Ob dem dortigen Kläger Merkzeichen RF im Ergebnis zu Recht zugesprochen worden ist, kann offen bleiben. Die krankheitsbedingten Besonderheiten in dem dort entschiedenen Fall (Muskeldystrophie mit Einzel-
GdB 100) sind jedenfalls mit den behinderungsbedingten Einschränkungen des Klägers nicht vergleichbar.
Im Mittelpunkt der Argumentation des Sozialgerichts steht der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit für den Behinderten. Diesem Gesichtspunkt komme, so das Sozialgericht, eine Bedeutung zu, die nicht nur aus medizinischer Sicht zu beurteilen sei. Dieser Auffassung tritt der Senat entgegen. Sie ist nicht tragfähig, weil die Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsgrundlage nicht ausreichend beachtet werden. Nach § 6
Abs. 1
Nr. 8 RGebStV ist nicht die "Zumutbarkeit für den Behinderten" zu prüfen, sondern die Frage, ob der Behinderte "wegen seines Leidens" an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann (dazu oben). Weiter teilt der Senat nicht die Auffassung des Sozialgerichts, dass die für den Kläger erforderlichen Krankentransporte wegen der "erheblichen Prozedur" unzumutbar seien. Der Transport eines Schwerbehinderten durch die im Allgemeinen gut organisierten Sozialdienste ist ein adäquates Mittel für Behinderte, um am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können. Soweit das Sozialgericht auf das gesellschaftspolitische Ziel verweist, Behinderte möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung und in ihren sozialen Kontakten zu unterstützen, stimmt der Senat uneingeschränkt zu. Er berücksichtigt aber bei der Rechtsanwendung, dass
§ 1 SGB IX, auf den sich das Sozialgericht bezieht und der neben der gleichberechtigten Teilhabe des Behinderten am Leben in der Gesellschaft auch das Selbstbestimmungsrecht des Behinderten hervorhebt, keine eigenständige Anspruchsgrundlage ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160
Abs. 2
Nr. 1 und 2
SGG liegen nicht vor. Es liegt weder eine Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung vor noch misst der Senat der Sache grundsätzliche Bedeutung bei.