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Urteil
ADHS-Erkrankung kein zwingendes Hindernis für Polizeivollzugsdienst

Gericht:

VG Berlin 26. Kammer


Aktenzeichen:

VG 26 K 29.15 | 26 K 29.15 | 26 K 29/15


Urteil vom:

26.05.2016


Pressemitteilung:

(Nr. 27/2016 vom 20.06.2016)

Eine Erkrankung an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) steht einer Einstellung in den Polizeivollzugsdienst nicht immer entgegen. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden.

Der 1993 geborene Kläger bewarb sich 2014 für den gehobenen Dienst der Schutzpolizei im Land Berlin. Der Beklagte lehnte seine Bewerbung unter Berufung auf dessen Erkrankung an ADHS ab. Der Kläger könne daher Aufgaben und Tätigkeiten nicht ausführen, die besondere Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit, das Reaktionsvermögen, die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit und die Merkfähigkeit stellten. Auch sei er komplexen Arbeitsvorgängen nicht gewachsen, die mit einem Drei-Schicht-Betrieb und mit Zeitdruck verbunden seien. An Polizisten seien zudem wegen deren Befugnis, Waffen zu tragen, besondere Anforderungen an die gesundheitliche Eignung zu stellen. Der Kläger berief sich demgegenüber darauf, dass die Erkrankung lediglich bis zu seinem 19. Lebensjahr medikamentös behandelt worden sei; seitdem hätten sich keine Symptome mehr gezeigt.

Die 26. Kammer des Verwaltungsgerichts stellte nach Einholung eines Sachverständigengutachtes fest, dass die Nichteinstellung des Klägers rechtswidrig war. Er sei nach den Feststellungen des Gutachters aktuell nicht dienstunfähig; die Krankheit habe zwar im Kindes- und Jugendalter vorgelegen, er weise jedoch keine Symptomatik einer ADHS im Erwachsenenalter mehr auf. Neuropsychologische Tests bescheinigten dem Kläger in allen Bereichen normgerechte oder sogar überdurchschnittliche Ergebnisse und gerade keinerlei für ADHS typische neuropsychologische Defizite. In seinem Fall sei auch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass er wegen dauernder Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt oder bis zur Pensionierung über Jahre hinweg regelmäßig krankheitsbedingt ausfallen werde. Auch wenn ein erneuter Ausbruch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne, sei dies mit Blick auf seinen aktuellen Gesundheitszustand unwahrscheinlich.

Die Kammer hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache die Berufung zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zugelassen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Verwaltungsgericht Berlin

Tenor:

Es wird festgestellt, dass die Ablehnung der Einstellung des Klägers zum Zeitpunkt des Einstellungstermins am 1. April 2015 rechtswidrig war.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der 1993 geborene Kläger begehrt seine Einstellung in den gehobenen Dienst der Schutzpolizei. Die Beteiligten streiten um seine gesundheitliche Eignung.

Am 14. Juni 2014 bewarb sich der Kläger beim Beklagten für den gehobenen Dienst der Schutzpolizei zum 1. April 2015. Nach Bestehen des schriftlichen und mündlichen Eignungstests wurde der Kläger auf Rang 21 von 120 beabsichtigten Einstellungen geführt. Die Zentrale Serviceeinheit des Polizeipräsidenten in Berlin teilte dem Kläger am 19. September 2014 mit, dass beabsichtigt sei, ihn wegen seiner guten Prüfungsergebnisse am 1. April 2015 in den gehobenen Dienst der Schutzpolizei einzustellen. Diese Zusage stehe (u.a.) unter dem Vorbehalt der in der polizeiärztlichen Untersuchung festzustellenden gesundheitlichen Eignung des Klägers. Am 12. August 2014 wurde der Kläger zwecks Feststellung der körperlichen Tauglichkeit zum Dienst in der Polizei untersucht. Der polizeiärztliche Dienst gelangte zu der Einschätzung, dass der Kläger für den Polizeidienst untauglich sei, da er an einem hyperkinetischen Syndrom - HKS -/ einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung - ADHS - gemäß Ziffer 11.1.2 der Polizeidienstvorschrift zur ärztlichen Beurteilung der Polizeidienstfähigkeit und Polizeidiensttauglichkeit - PDV 300 - leide. Daher könne er Aufgaben und Tätigkeiten nicht ausführen, die besondere Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit, an das Reaktionsvermögen, an die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit und an die Merkfähigkeit stellen und die mit der Überwachung/Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge, mit einem Drei-Schichten-Betrieb und mit Zeitdruck oder taktgebundener Arbeit verbunden seien. Dies teilte der Polizeiärztliche Dienst der Zentralen Serviceeinheit des Polizeipräsidenten in Berlin am 5. Dezember 2014 mit. Diese lehnte daraufhin mit Bescheid vom 17. Dezember 2014 die Einstellung des Klägers mangels gesundheitlicher Eignung für den Polizeivollzugsdienst ab.

Mit Schreiben vom 22. Dezember 2014 erhob der Kläger Einwendungen gegen den Bescheid vom 17. Dezember 2014, bat um Überprüfung der Entscheidung und legte ein Attest seiner Privatärztin D vor, in dem diese ausführte, dass der Kläger lediglich bis zum 19. Lebensjahr aufgrund der ADHS medikamentös behandelt worden sei, seitdem aber keine Symptome aufgetreten und auch für die Zukunft nicht zu erwarten seien; die Erkrankung sei austherapiert. In einer Stellungnahme des polizeiärztlichen Dienstes hielt die Polizeiärztin D an der Einschätzung der Polizeidienstunfähigkeit des Klägers fest. Sie führte aus, dass das Vorliegen einer ADHS wegen der schlechten Prognose und vielfältigen Komorbidität des Krankheitsbildes ein Ablehnungsgrund sei, auch wenn die Störung aktuell klinisch nicht relevant sei. Gemäß einer Stellungnahme der Bundesärztekammer zur ADHS wiesen rund ein Drittel der Kinder mit ADHS bis ins Erwachsenenalter hinein die Diagnose einer ADHS auf; einige Symptome zeigten eine hohe Persistenz. Nur in 10 Prozent der Fälle fänden sich weniger als fünf ADHS-Symptome und keine psychosoziale Beeinträchtigung. Bei 44 bis 50 Prozent der Adoleszenten mit ADHS fänden sich auch Probleme des Sozialverhaltens. Darüber hinaus seien Gesundheitsverhalten, Unfallneigung und die Entwicklung sozialer Rollen abnorm verändert oder beeinträchtigt. Hyperkinetische Menschen seien oft achtlos impulsiv, neigten zu Unfällen und zu Regeverletzungen, ihre Beziehungen zu Erwachsenen seien von Distanzlosigkeit und einem Mangel an Vorsicht und Zurückhaltung geprägt; dies bleibe auch bei Rückbildung im Erwachsenenalter in geringgradiger Ausbildung erhalten. Von einem Polizist werde aber gerade erwartet, dass er Regeln einhalte und vertrete, achtsam sei und ein angemessenes Maß an Distanz, Vorsicht und Zurückhaltung wahre. Mit Schreiben vom 27. Januar 2015 teilte die zentrale Serviceeinheit dem Kläger das Ergebnis der Überprüfung unter Bezugnahme auf die polizeiärztliche Stellungnahme mit.

Am 19. Januar 2015 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Am 4. Februar 2015 stellte er einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Nach Zusicherung des Beklagten und dortigen Antragsgegners, dass der Kläger bei Obsiegen im Hauptsacheverfahren ohne erneute Bewerbung und Prüfung auf die fachliche Eignung in das laufende Bewerbungsverfahren für den nächstmöglichen Einstellungstermin übernommen werde, erklärten die Beteiligten das einstweilige Rechtsschutzverfahren für erledigt.

Der Kläger meint, er sei für den Polizeivollzugsdienst gesundheitlich geeignet. Die ADHS sei ausgeheilt und die Behandlung abgeschlossen. Aktuelle Auswirkungen auf seine Dienstfähigkeit seien nicht vorhanden; auch die gesundheitliche Prognose sei trotz vormaliger Erkrankung nicht negativ.


Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass die Ablehnung der Einstellung des Klägers zum Zeitpunkt des Einstellungstermins am 1. April 2015 rechtswidrig war.


Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt und vertieft sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren. Ergänzend führt er aus, dass einem Polizeibeamten insbesondere wegen der Waffenträgereigenschaft ein erhebliches Gefährdungspotential gegenüber der Allgemeinheit und sich selbst zukomme. Vor diesem Hintergrund müsse im Bereich des Polizeivollzugsdienstes auch eine nicht überwiegende Wahrscheinlichkeit der fehlenden gesundheitlichen Eignung eines Polizeidienstbewerbers als ausreichend angesehen werden.

Durch Beweisbeschluss vom 24. Juni 2015 hat die Kammer Beweis erhoben über die Frage der gesundheitlichen Eignung für den Polizeivollzugsdienst unter Berücksichtigung einer etwaig noch vorliegenden ADHS des Klägers durch Einholung eines schriftlichen psychiatrischen Gutachtens aufgrund eigener Untersuchung durch Herrn P. Dieser legte unter dem 19. Februar 2015 ein psychiatrisches Sachverständigengutachten sowie ein neuropsychologisches Zusatzgutachten des Diplompsychologen Herrn M vor; wegen des Inhalts beider Gutachten wird auf Blatt 51 bis 270 d. A. verwiesen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 26. Mai 2016 ist P D zu dem Inhalt seines Gutachtens als Sachverständiger gehört worden. Wegen der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I. Die Klage ist zulässig. Die ursprünglich erhobene Verpflichtungsklage war gemäß § 93 Abs. 1 Nr. 1 des Landesbeamtengesetzes - LBG - ohne Durchführung eines Vorverfahrens zulässig. Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Bewerbung unterliegt jedoch zeitlichen Einschränkungen. Werden Stellen für Beamte - wie hier - zu regelmäßig wiederkehrenden Zeitpunkten ausgeschrieben und besetzt, so erlischt der materielle Einstellungsanspruch mit dem Verstreichen des Einstellungszeitpunktes und der Besetzung der Stellen durch andere Bewerber (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Februar 2010 - BVerwG 2 C 22/09 - juris, Rn. 19). Nach Verstreichen des Einstellungstermins - hier am 1. April 2015 - und der damit eingetretenen Erledigung ist daher nur eine Fortsetzungsfeststellungsklage in analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - statthaft, auf die der Kläger seine Klage in zulässiger Weise umgestellt hat.

Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergibt sich aus der Wiederholungsgefahr. Ohne diese Feststellung würde der weiter an der Einstellung interessierte Kläger mit der gleichen Begründung abgelehnt werden, obwohl er bei gegebener Eignung eine ernsthafte Einstellungsaussicht hätte. Er kann nicht darauf verwiesen werden, den Ausgang einer neuen Bewerbung abzuwarten, weil die dann wieder nur zur Verfügung stehende Zeit nicht ausreichte, um die Sache abschließend zu klären. Effektiver Rechtsschutz kann nur mittels einer Fortsetzungsfeststellungsklage gewährt werden.

II. Die Klage ist auch begründet. Die Ablehnung der Einstellung durch den Polizeipräsidenten in Berlin war rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten, weil dieser zum Zeitpunkt der Erledigung - dem Verstreichen des Einstellungstermins am 1. April 2015 - einen Anspruch auf Einstellung in den Polizeidienst oder zumindest auf Neuentscheidung über seine Bewerbung hatte (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Weder Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes - GG - noch die zu seiner Konkretisierung ergangenen beamtenrechtlichen Vorschriften gewähren allerdings einen Anspruch auf Begründung eines Beamtenverhältnisses. Die Ernennung eines Bewerbers zum Beamten auf Widerruf (vgl. § 6 der Verordnung über die Laufbahnen der Beamtinnen und Beamten des Polizeivollzugsdienstes - Schutzpolizei, Kriminalpolizei, Gewerbeaußendienst - Pol-LVO) steht vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn, der innerhalb des ihm durch die verfassungsrechtlichen und beamtenrechtlichen Vorschriften gesetzten Rahmens sowohl den Bedarf an Beamten als auch die aus seiner Sicht maßgeblichen Eignungs-, Befähigungs- und Leistungskriterien (vgl. Art. 33 Abs. 2 GG) bestimmen kann. Bei der geforderten Eignungsbeurteilung hat der Dienstherr immer auch eine - gerichtlich voll überprüfbare (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2013 - BVerwG 2 C 12.11 - juris, Rn. 24) - Entscheidung darüber zu treffen, ob der Bewerber den Anforderungen des jeweiligen Amtes in gesundheitlicher Hinsicht entspricht (§ 5 Nr. 4 Pol-LVO). Es obliegt dem Dienstherrn, die körperlichen Anforderungen der jeweiligen Laufbahn zu bestimmen. Hierbei steht ihm ein weiter Einschätzungsspielraum zu, bei dessen Wahrnehmung er sich am typischen Aufgabenbereich der Ämter der Laufbahn zu orientieren hat. Sofern der Vorbereitungsdienst - wie vorliegend - nicht als allgemeine Ausbildungsstätte im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG zu qualifizieren ist, muss sich die gesundheitliche Eignung sowohl an den Anforderungen des Vorbereitungsdienstes als auch an denen des auf Lebenszeit zu übertragenden Amtes messen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 1981 - BVerwG 2 C - 48/78 - juris, Rn. 21 f.). Die vom Dienstherrn getroffenen Vorgaben bilden den Maßstab, an dem die individuelle körperliche Leistungsfähigkeit der Bewerber zu messen ist. Die Beurteilung der Eignung eines Bewerbers für das von ihm angestrebte öffentliche Amt bezieht sich nicht nur auf den gegenwärtigen Stand, sondern auch auf die künftige Amtstätigkeit und enthält eine Prognose, die eine konkrete und einzelfallbezogene Würdigung der gesamten Persönlichkeit des Bewerbers verlangt. Die Prognose erfasst den Zeitraum bis zum Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2013, a.a.O., Rn. 12 ff.). Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine gegenwärtig vorhandene gesundheitliche Eignung wegen künftiger Entwicklungen nur verneint werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Bewerber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze wegen dauernder Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt werde (BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2013 , a.a.O., Rn. 16) oder er mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bis zur Pensionierung über Jahre hinweg regelmäßig krankheitsbedingt ausfallen und deshalb eine erheblich geringere Lebensdienstzeit aufweisen werde (BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 2013 - BVerwG 2 C 16.12 - juris). Auf dieser Grundlage muss festgestellt werden, ob ein Bewerber, dessen Leistungsfähigkeit - etwa aufgrund eines chronischen Leidens - gemindert ist, den Anforderungen gewachsen ist, die die Ämter einer Laufbahn an die Dienstausübung stellen.

Dieser Maßstab für die gesundheitliche Eignung von Beamtenbewerbern gilt auch für Einstellungen in den Polizeivollzugsdienst. Entgegen der Auffassung des Beklagten gibt es keinen Anlass, im Falle von Beamtenbewerbern für den Polizeivollzugsdienst einen anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab als bei anderen Beamtenbewerbern anzulegen und weiterhin bloße Zweifel an der gesundheitlichen Eignung des Bewerbers für eine Ablehnung der Einstellung ausreichen zu lassen (vgl. auch VG Berlin, Urteil vom 21. März 2013 - VG 7 K 117.13 - juris, Rn. 22). Zwar erscheint es nach den oben dargelegten Voraussetzungen sachgerecht, wenn der Dienstherr im Einklang mit der Wertung des Gesetzgebers in § 105 Abs. 1 LBG für den Polizeivollzugsdienst besondere körperliche Anforderungen aufstellt. Daraus folgt sodann, dass der Polizeidienstbewerber seine individuelle körperliche Leistungsfähigkeit an einem strengeren Maßstab messen lassen muss als der Beamtenbewerber für den allgemeinen Verwaltungsdienst. Hinsichtlich der auf medizinischer Tatsachenbasis zu beantwortenden Frage, ob die Leistungsfähigkeit des einzelnen Bewerbers diesen höheren Anforderungen genügt, kann jedoch nichts anderes gelten als für andere Beamtenbewerber. Das Bundesverwaltungsgericht entwickelte den oben beschriebenen Maßstab als verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem Bewerbungsverfahrensanspruch des Art. 33 Abs. 2 und den in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten hergebrachten Grundsätzen des Lebenszeits- und des Alimentationsprinzips. Seine Ausführungen beziehen sich nicht nur auf die Bewerbung für das - dort streitgegenständliche - Lehramt bzw. den allgemeinen Verwaltungsdienst, sondern allgemein auf Beamtenbewerber und nehmen die Anforderungen der jeweiligen Laufbahn - und damit gerade auch Laufbahnen mit anderen körperlichen Anforderungen wie den Polizeivollzugsdienst - in den Blick (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2013, a.a.O., Rn. 12 ff.).

Der hohe Stellenwert der von Polizeivollzugsbeamten zu erledigenden Aufgaben im Bereich der Gefahrenabwehr gebietet ebenso wenig eine abweichende Beurteilung wie der Umstand, dass Polizeivollzugsbeamte aufgrund ihrer Waffenträgereigenschaft ein erhebliches Gefährdungspotential aufweisen. Da die Voraussetzungen für eine Polizeidienstunfähigkeit bei Bestandsbeamten unverändert gelten (§ 105 LBG), kommt ein Einsatz leistungsgeminderter Beamter bei Nichterfüllung der körperlichen Anforderungen nicht in Betracht, so dass Auswirkungen auf die Qualität der Gefahrenabwehr nicht zu befürchten sind. Zudem müssten die widerstreitenden Rechtsgüter zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden. Unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit böte sich bei chronischen Erkrankungen mit ungewissem Verlauf statt der Ablehnung der Einstellung des Polizeidienstbewerbers eine regelmäßige amtsärztliche Vorstellung als das mildere Mittel an.

Nach dem somit anzulegenden Maßstab ist nach dem Ergebnis der gutachterlichen Untersuchung der Kläger weder aktuell polizeidienstunfähig (dazu 1.), noch liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze wegen dauernder Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden oder er mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bis zur Pensionierung über Jahre hinweg regelmäßig krankheitsbedingt ausfallen und deshalb eine erheblich geringere Lebensdienstzeit aufweisen würde (dazu 2.). Der Beklagte ist daher fehlerhaft von der fehlenden gesundheitlichen Eignung des Klägers für den Polizeivollzugsdienst ausgegangen.

1. Der Kläger ist zunächst aktuell nicht polizeidienstunfähig. Dies steht zur Überzeugung der Kammer nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung fest.

In Auseinandersetzung mit den aktenkundigen Befunden und Unterlagen, dem Ergebnis seiner eigenen ausführlichen Untersuchung sowie dem neuropsychologischen Zusatzgutachten legt der Gutachter Herr P - unterstützt durch Herrn D und die Psychologin Frau H - (im Folgenden: die Gutachter) in seinem Gutachten nachvollziehbar und überzeugend dar, dass der Kläger aktuell polizeidienstfähig sei.

Die Gutachter führen aus, dass bei dem Kläger keine HKS, im Speziellen keine ADHS im Erwachsenenalter vorliege. Es könne mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund der Diagnosestellung durch fachlich fundierte Mediziner und der den Gutachtern vorliegenden Dokumente zwar davon ausgegangen werden, dass beim Kläger eine ADHS bzw. HKS nach ICD-10: F90.x im Kindes- und Jugendalter vorgelegen habe. Im Rahmen psychischer Erkrankungen könne nicht wie bei rein körperlichen Erkrankungen von einer "Heilung" gesprochen werden. Die Krankheit des Klägers weise jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine (zumindest erkennbare) Symptomatik auf, sie sei aufgrund einer prozesshaften positiven Entwicklung des Klägers aktuell remittiert (Bl. 123 bis 128 des Gutachtens). Eine solche Remission sei den statistischen Zahlen nach nicht die Regel, sei aber möglich und im Falle des Klägers auch eingetreten. Die Gutachter legen dabei zur Diagnose die international anerkannten und verwandten Wender-Utah-Kriterien für die Diagnose einer ADHS im Erwachsenenalter an. Diese beschreiben sieben Kriterien (Aufmerksamkeitsstörung, motorische Hyperaktivität oder innere Unruhe, Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, verminderte Affektkontrolle, Impulsivität und emotionale Überreagibilität), von denen für die Diagnose einer ADHS zumindest vier, davon die ersten beiden obligatorisch, erfüllt sein müssen. In nachvollziehbarer Weise kommen die Gutachter zum Ergebnis, dass der Kläger zum maßgebenden Zeitpunkt keines der sieben Kriterien erfüllte (Bl. 119 bis 123 des Gutachtens). Auch konnten die Gutachter beim Kläger keine weitere psychische oder psychiatrische Auffälligkeit von krankheitsrelevantem Wert feststellen. Der Beklagte ist dieser Einschätzung des aktuellen Gesundheitszustandes des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht entgegengetreten.

Maßgeblich stellen die Gutachter auf die neuropsychologischen Tests ab, die dem Kläger in allen Bereichen normgerechte oder sogar überdurchschnittliche Ergebnisse bescheinigten, hingegen keinerlei für ADHS typische neuropsychologische Defizite erkennen ließen. Es ist zur Überzeugung der Kammer nicht zu beanstanden, dass die Gutachter die Ergebnisse, die der Kläger in den zahlreichen neuropsychologischen Tests erzielte, als verlässlich in dem Sinne bewertet haben, dass sich zwar Hinweise auf mögliche Dissimulationstendenzen des Klägers fanden, diese jedoch der Untersuchungssituation geschuldet waren. Zwar kommt der neuropsychologische Zusatzgutachter zu dem Ergebnis, dass Dissimulationstendenzen festzustellen waren. Die Gutachter halten in der Bewertung des Zusatzgutachtens jedoch fest, dass die Hinweise auf die Dissimulation geringgradig und nur partiell waren. Dem Kläger sei keine prinzipielle Bagatellisierung unattraktiver Psychopathologien nachzuweisen. Er habe sich vielmehr um eine Darstellung der eigenen Person ausgerichtet an den Erwartungen an einen angehenden Polizisten bemüht; die Dissimulationstendenzen seien damit insbesondere kein Symptom einer ADHS oder eines HKS (Bl. 69 bis 71 des Gutachtens).

Die Gutachter kommen auf dieser Grundlage zu dem Schluss, dass das kognitive Leistungsprofil des Klägers ihn für den Polizeivollzugsdienst besonders geeignet erscheinen lasse. Dabei nehmen die Gutachter - anders als vom Beklagten vorgetragen - durchaus die besonderen Anforderungen des Polizeivollzugsdienstes in den Blick, stellen diese im Gutachten zutreffend und ausführlich dar und messen die Leistungsfähigkeit des Klägers an diesen Anforderungen. Es ist daher nachvollziehbar und für die Kammer überzeugend, wenn die Gutachter im Hinblick auf die vollständige Remission der Erkrankung zu dem Schluss gelangen, dass auch unter Einbeziehung der Ergebnisse des Klägers im Rahmen des polizeilichen Einstellungsverfahrens der Kläger als zum jetzigen Zeitpunkt "nahezu gesund" zu bezeichnen und er infolgedessen zum jetzigen Zeitpunkt uneingeschränkt polizeidienstfähig in dem im Beweisbeschluss beschriebenen Sinne sei (Bl. 148 bis 149 des Gutachtens).

2. Ebenso liegen nach Ergebnis der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung der Kammer keine Anhaltspunkte für eine mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu befürchtende negative Prognose des künftigen Gesundheitszustands des Klägers vor. Auch insoweit folgt die Kammer dem fundierten, auf der Grundlage der ihm vorliegenden Befunde und weiterer Unterlagen, eigener Untersuchung des Klägers und umfangreicher neuropsychologischer Tests erarbeiteten und schlüssigen Gutachten des Sachverständigen.

Die prognostische Beurteilung, ob der Bewerber den gesundheitlichen Anforderungen der jeweiligen Laufbahn voraussichtlich genügen wird, ist aufgrund einer fundierten medizinischen Tatsachenbasis zu treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 2013, a.a.O., Rn. 20). Der Arzt muss das Ausmaß der Einschränkungen feststellen und deren voraussichtliche Bedeutung für die Leistungsfähigkeit sowie für die Erfüllung der dienstlichen Anforderungen medizinisch fundiert einschätzen. Er muss in seiner Stellungnahme Anknüpfungs- und Befundtatsachen darstellen, seine Untersuchungsmethoden erläutern und seine Hypothesen sowie deren Grundlage offen legen. Auf dieser Grundlage hat er unter Ausschöpfung der vorhandenen Erkenntnisse zum Gesundheitszustand des Bewerbers eine Aussage über die voraussichtliche Entwicklung des Leistungsvermögens zu treffen, die den Dienstherrn und das Gericht in die Lage versetzt, die Rechtsfrage der gesundheitlichen Eignung eigenverantwortlich zu beantworten (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2013, a.a.O., Rn. 22 f. und vom 30. Oktober 2013, a.a.O., Rn. 31). Das Sachverständigengutachten genügt diesen Anforderungen.

Die Gutachter stellen überzeugend und schlüssig dar, dass nur eine geringe Wahrscheinlichkeit der vorzeitigen Dienstunfähigkeit aufgrund der (im Kindes- und Jugendalter bestehenden) ADHS des Klägers bestehe. Wie bei nahezu allen psychischen oder psychiatrischen Erkrankungen sei unter bestimmten Stressfaktoren ein erneutes Auftreten von Symptomen in der Zukunft, selbst bei aktueller Remission, möglich. Die Gutachter gingen zwar im Lichte aller vorliegenden Unterlagen sowie nach Exploration des Klägers und kritischer Würdigung der Anknüpfungstatsachen davon aus, dass ein erneuter Ausbruch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sei, der aktuelle Gesundheitszustand des Klägers es jedoch unwahrscheinlich mache (Bl. 128 bis 130 des Gutachtens).

Konsequent kommen die Gutachter daher zum Ergebnis, dass im Falle des Klägers (Remission der ADHS im Erwachsenenalter) nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Kläger über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren dauerhaft dienstunfähig erkranken oder vorzeitig in den Ruhestand versetzt werde. Es gebe zwar keine Studien, die sich zu einer Wahrscheinlichkeit des Wiederauftretens einer ADHS nach erfolgter Remission äußere. Den Gutachtern sei daher nur eine grundsätzliche, aber gut zu begründende Risikoabschätzung möglich. Hinsichtlich der bekannten Komorbiditäten, die beim Kläger nicht vorlägen oder vorgelegen hätten, sei die Auftretenswahrscheinlichkeit zu unabhängig von der zu Grunde liegenden ADHS im Kindes- und Jugendalter, als dass sie in eine Prognose der Dienstfähigkeit einbezogen werden müssten. Insgesamt schätzen die Gutachter im Lichte aller ihnen vorliegenden Unterlagen und Befunde die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines der oben beschriebenen Fälle mit unter zehn Prozent ein (Bl. 149 bis 151 des Gutachtens).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgen aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 der Zivilprozessordnung - ZPO -.

IV. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung (§ 124a Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen vor, weil die Rechtssache hinsichtlich des Prognosemaßstabs für die Einstellung in den Polizeivollzugsdienst grundsätzliche Bedeutung hat.

Referenznummer:

R/R6979


Informationsstand: 29.09.2016