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Urteil
Möglichkeit der Befristung von Eingliederungshilfeleistungen - Intensiv betreutes Wohnangebot mit Tagesbetreuung für Erwachsene

Gericht:

SG Reutlingen 4. Kammer


Aktenzeichen:

S 4 SO 1743/22


Urteil vom:

15.03.2023


Grundlage:

Leitsätze:

1. § 122 SGB IX sieht den Abschluss von Teilhabevereinbarungen für die "Dauer des Bewilligungszeitraums" vor. Hieran wird deutlich, dass der Gesetzgeber die Festlegung eines Bewilligungszeitraums als Regel ansah - mithin eine Befristung regelmäßig vorzunehmen ist.

2. Im Sinne eines offenen, transparenten und hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen Klarheit schaffenden Verwaltungshandelns ist es angezeigt und gerechtfertigt, Befristungen vorzunehmen, wenn bei Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung im konkreten Einzelfall greifbare Anhaltspunkte befürchten lassen, dass die Voraussetzungen möglicherweise wieder wegfallen könnten bzw wenn sich eine spätere Entwicklung bereits konkret abzeichnet.

Orientierungssätze:

1. Derartige greifbare Anhaltspunkte für einen späteren Wegfall der Leistungsvoraussetzungen können sich aus der - in den Vereinbarungen zwischen Eingliederungshilfeträger und Leistungserbringern vorgenommenen - zeitlichen Begrenzung des Leistungsangebots (hier: eines intensiv betreuten Wohnangebots mit Tagesbetreuung für Erwachsene auf maximal 36 Monate) ergeben.

2. Soweit das Bundessozialgericht eine Befristung für unzulässig hält, weil sonst die vom Gesetzgeber nicht erwünschte Folge eintreten würde, dass der Leistungsberechtigte - auch soweit er seinen Mitwirkungspflichten nachkommt - das Risiko trägt, dass eine Anschlussbewilligung nicht rechtzeitig erfolgen kann, obwohl sich tatsächlich keine Änderungen ergeben haben (vgl BSG vom 28.1.2021 - B 8 SO 9/19 R = BSGE 131, 246 = SozR 4-3500 § 57 Nr 1), überzeugt dies nicht (ablehnend auch Jürgens, ZfSH/SGB 2022, 143).

3. Sind befristete Eingliederungshilfeleistungen auf der Grundlage eines Gesamtplans gewährt worden, erscheint unter Beachtung des § 108 Abs 2 SGB 9 2018 fraglich, ob nach Auslaufen der Befristung ein erneuter Antrag auf (ggf andere) Eingliederungshilfeleistungen zu stellen ist.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Landesrecht Baden-Württemberg

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die unbefristete Gewährung von Eingliederungshilfe.

Der am X geborene Kläger leidet vor dem Hintergrund des früheren Gebrauchs psychotroper Substanzen an einer paranoiden Schizophrenie. Am 03.08.2020 wurde er in ein intensiv betreutes Wohnangebot (IWA) aufgenommen. Als Tagesstruktur besucht er eine Tagesbetreuung für Erwachsene (TBE). Leistungserbringerin ist jeweils die D. Das IWA ist nach den zwischen dem Beklagten und der Leistungserbringerin abgeschlossenen Vereinbarungen auf 36 Monate begrenzt (Phase 1: 24 Monate, Phase 2: 12 Monate). Aufgrund der Beendigung der Phase 1 des IWA wurde im Juli 2022 eine Gesamtplan-Fortschreibung erstellt, in dem für ein weiteres Jahr - bis 02.08.2023 - die intensive Förderung im Rahmen des IWA Phase 2 und eine Folgeprüfung im Juli 2023 vorgeschlagen wurden.

Der Beklagte bewilligte mit den Bescheiden vom 15.07.2022 die Übernahme der Kosten für das IWA und die TBE für die Zeit vom 03.08.2022 bis 02.08.2023, längstens jedoch bis zum Ende der bis 31.12.2023 laufenden Übergangsvereinbarung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Baden-Württemberg bzw. für die Dauer der tatsächlichen Betreuung. Die Bescheide enthielten jeweils den Hinweis, dass nach Ablauf der Bewilligung ein erneuter Antrag zu stellen sei.

Mit dem Begehren nach unbefristeten Kostenübernahmen erhob der Kläger hiergegen fristgerecht Widerspruch. Zur Begründung verwies er auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28.01.2021, Az. B 8 SO 9/19 R.

Der Beklagte wies den Kläger mit Schreiben vom 15.09.2022 darauf hin, nach dem In-Kraft-Treten der 3. Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes zum 01.01.2020 seien für die Erbringung der streitgegenständlichen Leistungen mit der Leistungserbringerin noch keine Rahmenverträge abgeschlossen worden. Die Leistungsgewährung erfolge derzeit aufgrund der Übergangsvereinbarung. Die Betreuung im IWA sei auf maximal 36 Monate begrenzt. Danach erfolge der Wechsel in das ambulant betreute Wohnen (ABW) oder in eine Wohnung ohne Betreuung. Damit seien Gründe für die Befristung gegeben. Das vom Kläger zitierte Urteil des BSG sei zur Gewährung eines Persönlichen Budgets, das nicht von der Übergangsvereinbarung zur Umsetzung des BTHG umfasst werde, ergangen, sodass das BSG auf einer anderen Grundlage entschieden habe.

Der Kläger hielt an seinen Widersprüchen fest, die der Beklagten aus den im Schreiben vom 15.09.2022 dargestellten Gründen, mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2022 zurückwies. Nach der Beendigung der Phase 2 des IWA müsse eine neue Bedarfsprüfung erfolgen.

Deswegen hat der Kläger am 27.09.2022 beim Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Befristung als Nebenbestimmung der Bewilligungsbescheide seien nicht gegeben. Die Argumentation des Beklagten, der in den angefochtenen Bewilligungsbescheiden auf eine erneute Antragstellung und im Widerspruchsbescheid auf eine nicht mehr mögliche Verlängerung des IWA hingewiesen habe, führe sich selbst ad absurdum. Nach der benannten Rechtsprechung des BSG bestehe ein Anspruch auf Eingliederungshilfe bis das Teilhabeziel erreicht sei. Sofern der Beklagte davon ausgehe, dass die Anspruchsvoraussetzungen in der Zukunft entfallen könnten, dürfe er dies nicht durch eine Befristung absichern, sondern sei gehalten, regelmäßig ein Bedarfsermittlungsverfahren durchzuführen und ggf. einen Aufhebungsbescheid zu erlassen. Zudem seien die Eingliederungshilfeleistungen Pflichtleistungen. Eine Befristung stehe nicht im Ermessen des Beklagten. Im Übrigen verzichte der Beklagten inzwischen in anderen Fällen auf eine taggenaue Befristung.


Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen in Form der Sozialen Teilhabe (IWA und TBE) nach den Bestimmungen des SGB IX ab 03.08.2022 unbefristet zu bewilligen.


Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält aus den in den angefochtenen Bescheiden dargelegten Gründen an den Befristungen fest. Er hat ergänzt, der vorliegende Sachverhalt sei mit den zuletzt vom Kläger angesprochenen anderen Fallkonstellationen nicht vergleichbar. Bei dem IWA handle es sich um ein im Voraus auf 36 Monate befristetes Leistungsangebot, das beim Kläger spätestens am 02.08.2023 ende.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden sind, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht beim sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Reutlingen erhobene Klage ist zulässig.

Mit der Klage wendet sich der Kläger gegen die in den Bescheiden vom 15.07.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.09.2022 vorgenommenen Befristungen auf den 02.08.2023, bzw. längstens bis zum Ende der Übergangsvereinbarung zur Umsetzung des BTHG oder bis zum Ende der tatsächlichen Betreuung. Richtige Klageart hierfür ist die isolierte Anfechtungsklage (Burkiczak in jurisPK-SGB X, Stand 08.03.2023, § 32 Rn. 121; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.11.2017, 12 B 1254/17).

Die Klage ist unbegründet. Die Befristungen sind rechtmäßig.

Rechtsgrundlage der Befristungen ist § 32 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist (Alt. 1) oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden (Alt. 2).

Beide Alternativen dieser Vorschrift sind für die hier streitgegenständlichen, dem Gesamtplanverfahren nach § 117ff SGB IX unterfallenden Leistungen - nach näherer Maßgabe (s.u.) - erfüllt.

Hinsichtlich § 32 Abs. 1 Alt. 1 SGB X folgt die Kammer nicht der vom Kläger herangezogenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das im Urteil vom 28.01.2021 (B 8 SO 9/19 R in juris) die Auffassung vertrat, das Eingliederungshilferecht des SGB IX enthalte keine Vorschriften, die eine Befristung zuließen (a.a.O. Rn. 35). Dieser Auffassung widersprach Jürgens in der Besprechung des Urteils des Bundessozialgerichts unter dem Titel "Der Bewilligungszeitraum in der Eingliederungshilfe", ZFSH/SGB 2022, S. 483ff mit gewichtigen und überzeugenden Argumenten (s. Nachfolgendes).

Im Gesamtplan ist nach § 121 Abs. 4 Nr. 3 SGB IX eine Aussage über die Dauer der zu erbringenden Leistung zu treffen. Im Kontext der Eingliederungshilfe und da neben der Dauer in § 121 Abs. 4 Nr. 3 SGB IX auch eine Aussage zum Umfang der Leistung verlangt wird, kann mit Dauer nur die Zeit gemeint sein, in der die entsprechende Leistung erbracht werden soll. Da die streitgegenständlichen Leistungen einen Gesamtplan voraussetzen und die Behörde nach § 120 Abs. 2 SGB IX beim Erlass des Verwaltungsakts (Bewilligung) an die Feststellungen des Gesamtplans gebunden ist, muss hieraus gefolgt werden, dass eine Befristung durch § 121 Abs. 4 Nr. 3 SGB IX gesetzlich zugelassen wurde. Sonst wäre die Aussage zur Dauer im Gesamtplan, die das Gesetz ausdrücklich vorschreibt, nicht zulässig und ohne rechtliche Relevanz.

§ 122 SGB IX sieht den Abschluss von Teilhabevereinbarungen für die "Dauer des Bewilligungszeitraums" vor. Hieran wird deutlich, dass der Gesetzgeber die Festlegung eines Bewilligungszeitraums als Regel ansah - mithin eine Befristung regelmäßig vorzunehmen ist.

Soweit das Bundessozialgericht eine Befristung für unzulässig hielt, weil sonst die vom Gesetzgeber nicht erwünschte Folge eintreten würde, dass der Leistungsberechtigte - auch soweit er seinen Mitwirkungspflichten nachkommt - das Risiko trägt, dass eine Anschlussbewilligung nicht rechtzeitig erfolgen kann, obwohl sich tatsächlich keine Änderungen ergeben haben (a.a.O. Rn. 37), überzeugt dies nicht. Diese Argumentation steht offenbar im Zusammenhang mit dem Antragserfordernis des § 108 Abs. 1 SGB IX. Allerdings übersieht das Bundessozialgericht in der angesprochenen Entscheidung dessen zweiten Absatz. Danach bedarf es für Leistungen, deren Bedarf im Gesamtplanverfahren ermittelt worden ist, keines Antrags. Die Gesetzesbegründung zu § 108 Abs. 2 SGB IX zeigt deutlich, dass der Gesetzgeber jedenfalls für die dem Gesamtplanverfahren unterliegenden Eingliederungshilfeleistungen Bewilligungszeiträume, mithin Befristungen von Bewilligungen zuließ. Anders kann seine Begründung zu § 108 Abs. 2 SGB IX: "Würde nach Ablauf des Bewilligungszeitraumes vergessen, einen neuen Antrag zu stellen, könnten keine Leistungen bewilligt werden; die Menschen mit Behinderungen würden - zumindest vorübergehend bis zur Antragstellung - von einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ausgeschlossen" (BT-Drucks. 18/9522, S. 282) nicht verstanden werden.

Ob die Auffassung des Bundessozialgerichts, eine Befristung zur Sicherstellung des künftigen Fortbestands der gesetzlichen Voraussetzungen eines Dauerverwaltungsakts nach § 32 Abs. 1 Alt. 2 SGB X scheide im Grundsatz dort aus, wo sie nicht durch Rechtsvorschrift im Sinne des § 32 Abs. 1 Alt. 1 SGB X ausdrücklich zugelassen ist (a.a.O. Rn. 37), zutreffend ist, kann, da die Kammer von einer solchen Zulassung ausgeht (s. eben), an sich dahingestellt bleiben. Gleichwohl geht die Kammer im Hinblick auf § 32 Abs. 1 Alt. 2 SGB X von einer eigenständigen Möglichkeit einer Nebenbestimmung aus (Mutschler in BeckOGK, SGB X, Stand 01.09.2018, § 32 Rn. 4a). Im Sinne eines offenen, transparenten und hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen Klarheit schaffenden Verwaltungshandelns ist es angezeigt und gerechtfertigt, Befristungen vorzunehmen, wenn bei Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung im konkreten Einzelfall greifbare Anhaltspunkte befürchten lassen, dass die Voraussetzungen möglicherweise wieder wegfallen könnten bzw. wenn sich eine spätere Entwicklung bereits konkret abzeichnet (Burkiczak in jurisPK-SGB X, s.o., § 32 Rn. 102; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, Stand 2023, § 32 Rn. 38). Darüber hinaus nimmt die Kammer die Zulässigkeit einer Befristung an, wenn damit nur eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht wird.

Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Voraussetzungen und Kriterien ist zunächst festzuhalten, dass die vom Beklagten vorgenommenen Befristungen für die auf der Grundlage eines Gesamtplans gewährten Leistungen zulässig waren. Diese Leistungen sind entgegen der auf das benannte Urteil des Bundessozialgerichts gestützten Auffassung des Klägers nicht generell befristungsfeindlich.

Die konkrete (Haupt-)Befristung zum 02.08.2023 ist zulässig nach § 32 Abs. 1 Alt. 2 SGB X. Die Befristung entspricht der Festlegung in der Gesamtplan-Fortschreibung. Bei Erstellung dieser Fortschreibung und zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Bewilligungsbescheide stand fest, dass das IWA maximal bis zum 02.08.2023 gewährt werden kann, da es nach den zugrundeliegenden Vereinbarungen mit der Leistungserbringerin für maximal 36 Monate in Betracht kommt und dieser Zeitraum am 02.08.2023 auslaufen wird. Damit war materiell und nach der Festlegung im Gesamtplan zwingend, dass der Beklagte die Befristung zum 02.08.2023 für das IWA und die damit kombinierte TBE vornahm. Eine längere Gewährung des IWA war unmöglich. Die vom Kläger gewünschte unbefristete Gewährung des IWA hätte den Kläger über das zwingende Ende dieser Betreuungsform am 02.08.2023 im Unklaren gelassen und einen völlig unberechtigten Vertrauenstatbestand geschaffen.

Die weitere (Hilfs-)Befristung bis zum Ende der Übergangsvereinbarung zur Umsetzung des BTHG geht, da diese Übergangsvereinbarung erst am 31.12.2023 und damit zeitlich nach der (Haupt-)Befristung bis 02.08.2023 endet, letztlich ins Leere und hat keine belastende regelnde Wirkung.

Die weitere (Hilfs-)Befristung bis zur Beendigung der tatsächlichen Betreuung stellt eine Selbstverständlichkeit dar. Wenn das IWA und die TBE faktisch eingestellt werden, sind sie nicht mehr zu finanzieren.

Soweit der Kläger bemängelt hat, der Hinweis im Ausgangsbescheid vom 15.07.2022 auf eine erneute Antragstellung sei widersprüchlich zu der im Widerspruchsbescheid verneinten Möglichkeit der Verlängerung des IWA, ist insoweit, als der Hinweis eine Verlängerung des IWA möglich erschienen ließ, berechtigt. Zu bedenken ist allerdings, dass nach Ablauf des IWA andere Eingliederungshilfeleistungen in Betracht kommen und hier eine erneute Zusammenarbeit des Klägers mit dem Beklagten zur Bedarfsfeststellung nötig werden wird. Ob diesbezüglich vom Kläger ein erneuter Antrag zu stellen ist, erscheint unter Beachtung des § 108 Abs. 2 SGB IX fraglich. Diese Gesichtspunkte machen die angefochtene Befristung jedoch nicht rechtswidrig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R9639


Informationsstand: 28.09.2023