Urteil
Verfahrensart bei Abmahnung der Vertrauensperson schwerbehinderter Menschen

Gericht:

LAG Berlin-Brandenburg


Aktenzeichen:

25 Ta 41/20


Urteil vom:

25.05.2020


Tenor:

1. Auf die Beschwerde des Beteiligten zu 1) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 10. Dezember 2019 58 BV 7799/19 - abgeändert.

Das Beschlussverfahren ist die zutreffende Verfahrensart.

2. Die Rechtsbeschwerde wird für die Beteiligte zu 2) zugelassen

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Bestimmung der zutreffenden Verfahrensart in einem Verfahren vor dem Arbeitsgericht, bei dem ein Schwerbehindertenvertreter die Entfernung eines Protokolls eines Mitarbeitergesprächs sowie einer Abmahnung aus seiner Personalakte verlangt.

Der Antragsteller ist die Vertrauensperson der bei der Beteiligten zu 2) beschäftigten schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 44i SGB II. Die Beteiligte zu 2) ist eine gemeinsame Einrichtung im Sinne des § 44b Absatz 1 SGB II zur einheitlichen Durchführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Mit Schriftsatz vom 12.02.2020 erklärte der Bevollmächtigte des Beteiligten zu 1), dass der Antrag dahingehend erweitert werde, dass die Schwerbehindertenvertretung bei der Beteiligten zu 2) als Beteiligte zu 3) dem Verfahren beitrete und ebenso die Anträge des Beteiligten zu 1) stellen werde.

Bei der Beteiligten zu 2) wird die schwerbehinderte Mitarbeiterin Frau M. beschäftigt. Frau M. stellte einen Antrag auf Gleichstellung gem. § 2 Absatz 3 SGB IX. Der Beteiligte zu 1) unterstützte und beriet Frau M. bei der Antragstellung in seiner Funktion als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen bei der Formulierung des Antrages.

Zum Antrag auf Gleichstellung wurde die Beteiligte zu 2) von dem dafür zuständigen und diesen Antrag bearbeitenden "Operativen Service" kontaktiert. Dieser bat um Stellungnahme zu den tatsächlichen Angaben des Antrages. Die Beteiligte zu 2) führte daraufhin am 22.05.2019 ein Mitarbeitergespräch mit dem Antragsteller, in dem diesem folgender Sachverhalt vorgeworfen wurde:

Frau M. habe in ihrem Antrag einen unzutreffenden Sachverhalt angegeben, was Frau M. in einem Gespräch mit dem Teamleiter zugegeben habe. Frau M. habe weiter angegeben, dass der Beteiligte zu 1) sie beraten und die Begründung zum Antrag formuliert habe. Er habe weiter zugesichert, dass die Antragsbegründung der Arbeitgeberin nicht übermittelt werde. Auf das zur Akte gereichte Protokoll, das zur Personalakte genommen wurde, wird Bezug genommen (vgl. Bl. 9 d. A.).

Die Beteiligte zu 2) erteilte dem Beteiligten zu 1) unter dem Datum des 04.06.2019 eine Abmahnung (vgl. Bl. 13 d. A.). Dort heißt es unter anderem:

"... ich spreche Ihnen wegen Verstoßes gegen Ihre arbeitsvertraglichen Pflichten eine Abmahnung aus.

I. Sachverhalt

Mit Antrag auf Gleichstellung (§ 2 Abs. 3 SGB IX) hat die Arbeitnehmerin V. M. gegenüber der zuständigen Agentur für Arbeit mitgeteilt, dass Ihr Vorgesetzter wegen ihrer Leistungseinschränkungen eine Herabgruppierung prüfen lässt. Weiter teilte sie mit, er habe deutlich gemacht, dass er die Fehlerhäufigkeit und ihre behinderungsbedingt notwendigen vermehrten Pausen (Toilettengänge) nicht mehr tolerieren wird.

Mit Schreiben vom 12.04.2019 wurde der Personalbereich der Agentur für Arbeit Berlin Mitte vom hierfür zuständigen Operativen Service der Agentur für Arbeit Potsdam um Mitteilung gebeten, ob die o. g. Ausführungen zutreffend seien. Darauf wurde die Führungskraft von Frau M., Herr K., mit den Ausführungen konfrontiert. Er wies jedoch zurück, solche Aussagen jemals getätigt zu haben.

Im Rahmen des hierzu zwischen Frau M. und Herrn K. - unter Anwesenheit des stellv. Bereichsleiters Herrn Kü. - am 03.05.2019 geführten Gesprächs bestätigte sich, dass die Ausführungen frei erfunden waren.

...

Ihr eingangs genanntes Verhalten, welches im Übrigen nicht durch ihre Amtsführung als Schwerbehindertenvertretung gedeckt ist, kann ich nicht hinnehmen und spreche hiermit eine Abmahnung aus.

Ich fordere Sie auf, Ihre arbeitsvertraglichen Pflichten in Zukunft ordnungsgemäß zu erfüllen. Insbesondere verlange ich von Ihnen die Beachtung einschlägiger Gesetze und Weisungen, die Berücksichtigung der Wahrheitspflicht und die Beachtung der Pflicht, Schaden von Ihrem Arbeitgeber abzuwenden.

Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass Sie bei weiteren gleichartigen Pflichtverletzungen mit weitergehenden Konsequenzen bis zur Kündigung rechnen müssen. ..."

Wegen der weiteren Einzelheiten des Abmahnungsschreibens wird auf die Abmahnung vom 04.06.2019 (Bl. 13 d. A.) Bezug genommen. Der Beteiligte zu 1) hat ein Beschlussverfahren eingeleitet, mit dem er anstrebt die Beteiligte zu 2) zu verpflichten, die Abmahnung vom 04.06.2019 und das Protokoll des Mitarbeitergesprächs vom 22.05.2019 aus seiner Personalakte zu entfernen. Die Beteiligte zu 2) hat die Verfahrensart gerügt.

Sie hat die Auffassung vertreten, es handele sich um einen individualrechtlichen Entfernungsanspruch, der im Urteilsverfahren zu verfolgen sei. Lediglich dem Träger des Persönlichkeitsrechts könne im Urteilsverfahren den Anspruch aus § 242 i. V. m. § 1004 BGB geltend machen. Der Beteiligte zu 1) habe seine Wahrheitspflicht und Schadensabwendungspflicht verletzt, indem er unzutreffende Angaben über einen Vorgesetzten in dem Gleichstellungsantrag der von ihm unterstützten Mitarbeiterin gemacht habe. Er habe damit arbeitsvertragliche Pflichten verletzt und den Teamleiter diskreditiert, was den Betriebsfrieden beeinträchtige. Eine Verletzung von Amtspflichten der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen liege nicht vor. Insbesondere werde der Antragsteller durch die Abmahnung nicht gem. § 179 Abs. 2 SGB IX in seiner Amtsführung behindert oder benachteiligt. Eine Behinderung der Amtsausübung sei offensichtlich nicht gegeben. Es bestehe auch kein Wahlrecht des Antragstellers hinsichtlich der Verfahrensart. Auch könne die Beteiligte zu 2) nicht auf ein Amtsenthebungsverfahren verwiesen werden. Diese sei nur bei gröbsten Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit den Rechten und Pflichten einer Vertrauensperson gerechtfertigt. Zudem stünde, anders als im BetrVG, der Arbeitgeberin insoweit ein Antragsrecht nicht zu. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf den Schriftsatz vom 01.08.2019 (Bl. 30 ff d. A.) Bezug genommen.

Der Beteiligte zu 1) erwidert insoweit, hinsichtlich der Frage der Verfahrensart käme es lediglich darauf an, aus welcher Sphäre das gerügte Verhalten herrühre. Vorliegend betreffe das gerügte Verhalten nicht die aus dem Arbeitsverhältnis resultierenden Pflichten. Vielmehr werfe die Beteiligte zu 2) dem Beteiligten zu 1) vor, bei einem Antrag auf Gleichstellung eine Arbeitnehmerin unzutreffend beraten zu haben. Diese Beratungsobliegenheit treffe den Beteiligten zu 1) nur, weil er Vertrauensperson der Schwerbehinderten sei.

Am 10.12.2019 hat das Arbeitsgericht auf die Rüge der zutreffenden Verfahrensart der Beteiligten zu 2) beschlossen, dass das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren als Verfahrensart unzulässig sei und das Verfahren in das Urteilsverfahren zu überweisen sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beantwortung der Frage, ob ein Rechtsstreit in dem nach § 2 ArbGG vorgesehenen Urteilsverfahren zu führen ist oder ob hierfür das Beschlussverfahren stattfinde, richte sich nach dem Grund des geltend gemachten Anspruchs bzw. nach der Art des Rechtsverhältnisses, dessen Feststellung begehrt werde. Die Parteien stritten um einen Anspruch aus dem zwischen ihnen bestehenden Individualarbeitsverhältnis. Der Anspruch auf Entfernung einer Abmahnung, mit der der Arbeitgeber im Wiederholungsfalle mit dem Ausspruch einer Kündigung drohe, wurzele im Individualarbeitsverhältnis und sei deshalb gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG im Urteilsverfahren geltend zu machen. Auch ergebe sich aufgrund des Amtes als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen keine abdrängende Zuständigkeit für das Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG. Obwohl § 179 SGB IX in § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG nicht ausdrücklich genannt sei, könnten auch Angelegenheiten nach § 179 SGB IX solche sein, die von der Bestimmung des § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG umfasst seien. Jedoch liege eine solche Angelegenheit nicht schon immer dann vor, wenn der Adressat einer Abmahnung eine Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen sei. Entscheidend sei, ob sich das Verfahren auf das Verhältnis zwischen Schwerbehindertenvertretung und Arbeitgeber beziehe. Dieser erforderliche Bezug könne sich daraus ergeben, dass der Beteiligte zu 1) durch den Ausspruch der Abmahnung in seiner Mandatsausübung gestört oder im Sinne von § 179 Abs. 2 SGB IX in seiner Mandatsausübung behindert werde oder daraus, dass der der Abmahnung zugrundeliegende Sachverhalt in Angelegenheiten aus der Amtstätigkeit wurzele. Dabei sei auf den Tatsachenvortrag des Antragstellers abzustellen. Allein aus dem Ausspruch einer Abmahnung gegenüber einem Mandatsträger folge noch keine Behinderung der Mandatsausübung. Dies könnte allerdings anzunehmen sein, wenn aufgrund objektiver Anhaltspunkte angenommen werden könne, dass wegen eines gleich gelagerten Sachverhaltes ein Nicht-Mandatsträger nicht abgemahnt worden wäre. Davon ausgehend sei vorliegend nicht davon auszugehen, dass es sich um eine Angelegenheit im Sinne des § 179 SGB IX handele. Zwar habe das gerügte Verhalten seinen Ausgangspunkt in der Beratung nach § 178 Abs. 1 Satz 2 SGB IX. Die konkrete Rüge beziehe sich aber ausdrücklich auf eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten, explizit der Verletzung vertraglicher Rücksichtnahmepflichten. Gerade der Hinweis, dass die gerügten Verhaltensweisen nicht durch das Mandat gedeckt seien, zeige, dass die Arbeitgeberin bei gleich gelagertem Sachverhalt auch einen Arbeitnehmer bzw. eine Arbeitnehmerin abgemahnt hätte, ohne das ein Mandat vorläge.

Gegen den am 30.12.2019 zugestellten Beschluss erhob der Beteiligte zu 1) am 13.01.2020 sofortige Beschwerde. Zur Begründung trägt er vor, es sei zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Pflichtverletzung, die die Beteiligte zu 2) mit der Abmahnung vom 04.06.2019 dem Beteiligten zu 1) vorhalte, ausschließlich aus seiner Stellung als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen resultiere. Ein Bezug zu arbeitsvertraglichen Pflichten bestehe nicht. Dabei seien Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Schwerbehindertenvertretung, die Aufgaben und Befugnisse der Schwerbehindertenvertretung als solche zum Gegenstand hätten, auch soweit sie die persönlichen Befugnisse und Pflichten der Vertrauensperson beträfen, im Beschlussverfahren durchzuführen. Vorliegend habe die Beteiligte zu 2) den Antragsteller abgemahnt, weil er die ihm als Vertrauensperson zukommende Aufgabe nach dem SGB IX wahrgenommen habe. Die Abmahnung sei ausgesprochen worden, weil der Beteiligte zu 1) den Beratungstermin mit Frau M. wahrgenommen habe. Dies sei eine Behinderung der Tätigkeit als Vertrauensperson i. S. v. § 179 Abs. 2 SGB IX. Da sowohl die betriebsverfassungsrechtlichen Mandatsträger als auch diejenigen nach dem SGB IX immer Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen seien, würde die Sichtweise der Beteiligten zu 2) dazu führen, dass das Handeln eines Mandatsträgers an vertraglichen Rücksichtnahmepflichten gemessen werde und arbeitsrechtlich sanktioniert werden könne.

Die Beteiligte zu 2) ist der Ansicht, die sofortige Beschwerde sei verfristet, jedenfalls unbegründet. Das vorliegende Verfahren werde (zunächst) von der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen angestrengt, nicht jedoch von der Schwerbehindertenvertretung als "Stelle" im Sinne des SGB IX. Das Verfahren beziehe sich demgemäß nicht auf das Verhältnis zwischen Schwerbehindertenvertretung und Arbeitgeber. Streitigkeiten von einzelnen Mandatsträgern und Arbeitgeber seien nur dann im Beschlussverfahren zu führen, wenn spezifische Rechte und Pflichten in der konkreten Eigenschaft als Mandatsträger betroffen seien. Zwar könnten auch individualrechtliche Ansprüche in die Mandatsausübung einstrahlen; insoweit könne es allerdings nur um Unterlassungsansprüche gehen. Der vorliegende Verfahrensantrag richte sich auf Beseitigung eines (vermeintlichen) Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht. Dies stehe jedoch nicht im Zusammenhang mit der Mandatsausübung. Auch sei nicht ersichtlich, dass eine Rüge dahingehend, dass der Antragsteller eine Arbeitnehmerin zu falschen Angaben bewegt habe, diesen in seiner Mandatsausübung behindere. Die Aufforderung der Wahrheitspflicht nachzukommen, behindere nicht die Wahrnehmung der Rechte und Pflichten nach dem SGB IX.

Mit Beschluss vom 14.02.2020 hat das Arbeitsgericht der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und dies damit begründet, dass sich aus der Beschwerdebegründung keine neuen Tatsachen oder rechtliche Aspekte ergäben.

Hinsichtlich der nach der Erhebung der Beschwerde erfolgten Antragserweiterung und Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ist die Beteiligte zu 2) der Ansicht, dass eine Antragserweiterung unzulässig sei. Da die zutreffende Verfahrensart das Urteilsverfahren sei, könne die Schwerbehindertenvertretung nicht beteiligt werden. Zudem sei der nun gestellte Antrag der Schwerbehindertenvertretung rechtsmissbräuchlich, da er nur dazu diene, das Verfahren in das Beschlussverfahren zurückzuführen. Auch ergebe sich aus dem Vortrag nicht, inwieweit die Schwerbehindertenvertretung in ihrer Amtsführung durch die Abmahnung der Vertrauensperson behindert worden sein solle. Wenn man von einer Beteiligung ausgehe, müssten die Verfahren in unterschiedlichen Verfahrensarten geführt werden.

Rechtsweg:

ArbG Berlin, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 58 BV 7799/19
BAG, Urteil vom 03.12.2020 - 7 AZB 57/20

Quelle:

Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH)

II.

1. Die von dem Beteiligten zu 1) eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig.

1.1 Die Beschwerde ist statthaft. Gemäß § 48 Abs. 1 ArbGG i. V. m. 17a Abs. 2 GVG hat das Arbeitsgericht zu prüfen, ob ein Rechtsstreit zutreffend als Urteilsverfahren nach § 2 ArbGG oder als Beschlussverfahren nach § 2a ArbGG anhängig gemacht wurde. Soweit es hierüber eine Entscheidung trifft, wie vorliegend auf die Rüge der Beteiligten zu 2), war gem. §§ 48 Abs. 1 ArbGG, 17a Abs. 3 Satz 2 GVG vorab von Amts wegen zu entscheiden. Die sofortige Beschwerde ist das statthafte Rechtsmittel (§ 48 Abs. 1, § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG) gegen diese Entscheidung.

1.2 Gegen den am 30.12.2019 (vgl. EB Bl. 66 d. A.) zugestellten Beschluss hat der Beteiligte zu 1) rechtzeitig eingehend bei Gericht am 13.01.2020 (Schriftsatz per Fax, Bl. 70 d. A.) Beschwerde erhoben. (§§ 80 Abs. 3, 48 Abs. 1 ArbGG, 17 a Abs. 4 S. 3 GVG, 78 Abs. 1 ArbGG, 567, 569 ZPO).

2. Die zulässige Beschwerde erweist sich hinsichtlich des Antrages der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen (Beteiligter zu 1)) als begründet. Das Beschlussverfahren ist die zutreffende Verfahrensart.

2.1 Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung hinsichtlich der Verfahrensart für Streitigkeiten zwischen der Schwerbehindertenvertretung und dem Arbeitgeber über eine dem Mitglied der Schwerbehindertenvertretung erteilte Abmahnung ist nicht vorhanden. Die durch das Arbeitsrechtsbeschleunigungsgesetz vom 30.03.2000 (BGBl. I 2000, 333) eingeführte Regelung gem. § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG hat die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen im Beschlussverfahren nur auf die §§ 94, 95 SGB IX geregelten Tatbestände (nunmehr §§ 177, 178 und 222 SGB IX) bezogen, jedenfalls nicht ausdrücklich auf weitere Regelungssachverhalte des SGB IX. Das BAG hat dazu entschieden, dass neben den ausdrücklich in der Norm genannten Streitigkeiten über die Wahl und die Amtszeit (§ 177 SGB IX) und die Aufgaben (§ 178 SGB IX) der Schwerbehindertenvertretung sowie die Mitwirkung durch Werkstatträte (§ 222 SGB IX) solche Streitigkeiten im Beschlussverfahren zu führen seien, die Angelegenheiten der Schwerbehindertenvertretungen betreffen, die in der Organstellung des Gremiums ihre Grundlage haben, § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG zudem stets entsprechend anwendbar sei, wenn um Normen im Schwerbehindertenvertretungsrecht gestritten werde, die kollektiven Charakter haben (BAG 22. März 2012 - 7 AZB 51/11 - Rn. 5, juris; BAG 15. Juni 2017 - 7 AZB 56/16 -, Rn. 20, juris). Dies gelte unabhängig davon, ob die Schwerbehindertenvertretung in einem Betrieb der Privatwirtschaft oder in einer Dienststelle, für die Personalvertretungsrecht gilt, gebildet wurde (BAG 11. November 2003 - 7 AZB 40/03 - zu II 1 b der Gründe, juris). In seiner Entscheidung 30.03.2010 hat das BAG einschränkend zu § 96 SGB IX (nunmehr § 179 SGB IX) ausgeführt, § 96 SGB IX treffe nach seiner Überschrift Bestimmungen über die persönlichen Rechte und Pflichten der Vertrauenspersonen der schwerbehinderten Menschen und regele zu einem erheblichen Teil deren individualrechtlichen Rechte und Pflichten, z. B. das Begünstigungs- und Benachteiligungsverbot (Abs. 2), den Kündigungs-, Versetzungs- und Abordnungsschutz (Abs. 3) sowie Entgeltfortzahlungsansprüche für die Dauer der Wahrnehmung von Amtstätigkeiten und der Teilnahme an
Schulungsveranstaltungen (Abs. 4). Streitigkeiten hierüber seien - je nach dem Status des Mitglieds als Arbeitnehmer oder Beamter - im Urteilsverfahren vor dem Arbeitsgericht oder dem Verwaltungsgericht zu entscheiden. Dementsprechend sei eine Erstreckung der Regelung in § 2a Abs. 1 Nr. 3a, Abs. 2 ArbGG auf diese Angelegenheiten vom Gesetzgeber konsequenterweise unterblieben. Eine Eröffnung des arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahrens für derartige individualrechtliche Streitigkeiten wäre systemwidrig (BAG, Beschluss vom 30. März 2010 - 7 AZB 32/09 -, Rn. 10, juris). Demgegenüber wird in Schrifttum und Rechtsprechung auch vertreten, dass auch solche Rechtsstreitigkeiten zwischen Schwerbehindertenvertretung und Arbeitgeber im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren zu verfolgen seien, die die Aufgaben und Befugnisse der Schwerbehindertenvertretung als solche zum Gegenstand haben, auch insoweit, als sie die persönlichen Befugnisse und Pflichten der Vertrauenspersonen betrifft, wenn sie ihre Grundlage auch im Amt als Vertrauensperson der Schwerbehinderten haben (Schwab/Weth/ Walker, ArbGG, 5. Aufl., § 2a ArbGG, Rn 99). Deshalb seien z. B. Streitigkeiten um die Freistellung eines Mitglieds der Schwerbehindertenvertretung nach § 96 Abs. 4 SGB IX (nunmehr § 179 SGB IX) ebenso im Beschlussverfahren zu entscheiden (LAG Nürnberg vom 22.10.2007 - 6 Ta 155/07; LAG Sachsen vom 13.04.2010 - 2 TaBV 23/09).

Vorliegend ist nach Ansicht der Kammer das Beschlussverfahren entsprechend § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG die zulässige Verfahrensart. Im vorliegenden Falle beruft sich die Vertrauensperson darauf, dass durch die Abmahnung die Tätigkeit der Schwerbehindertenvertretung, die in der gesetzlich vorgesehenen Beratung im Rahmen von Gleichstellungsanträgen (§ 178 Abs. 1 S. 3 SGB IX) der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bestehe, behindert werde. Die Abmahnung betreffe einzig und allein die erfolgte Beratungstätigkeit, die der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 1 S. 3 SGB IX obliege. Dies verstoße gegen § 179 Abs. 2 SGB IX. Die Vertrauensperson beruft sich damit auf ihre Rechte im Rahmen der "Amtstätigkeit" der Schwerbehindertenvertretung gegenüber dem Arbeitgeber. Es geht ihr um die Feststellung der Rechtsbeziehungen zwischen der Schwerbehindertenvertretung und dem Arbeitgeber und um hieraus resultierende Rechte und Pflichten. Eine schwerbehindertenvertretungsrechtliche Streitigkeit entfällt nicht schon deshalb, weil es in diesem Zusammenhang um eine der Vertrauensperson der Schwerbehinderten als Arbeitnehmer erteilte Abmahnung geht, die nach dem Text der Abmahnung eine Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten zum Inhalt hat.

Nach den Grundsätzen, die das Bundesarbeitsgericht zu der Frage der Verfahrensart hinsichtlich einer Abmahnung von Betriebsratsmitgliedern entwickelt hat, ist es der Arbeitgeberin nicht verwehrt, auch im Beschlussverfahren sich auf die Berechtigung der Abmahnung zu berufen, weil dieser auch individualrechtliche Pflichtverletzungen zugrunde lägen. Besonderheiten bei der Abmahnung von Betriebsratsmitgliedern sollen dann bestehen, wenn ein Fehlverhalten im Zusammenhang mit der Verletzung von Amtspflichten abgemahnt wird. Hier ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Voraussetzung der individualrechtlichen Abmahnung - verstanden als die Androhung einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses -, dass die beanstandete Verletzung betriebsverfassungsrechtlicher Pflichten zugleich eine Verletzung von Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis darstellt (BAG, Urt. v. 26.01.1994 - 7 AZR 640/92 Rn. 20; BAG, Urt. v. 10.11.1993 - 7 AZR 682/92 Rn. 30). Eine solche Doppelnatur nimmt das Bundesarbeitsgericht etwa an für die Verpflichtung des Betriebsratsmitglieds, sich vor Beginn einer zur Wahrnehmung des Betriebsratsamts erforderlichen Arbeitsversäumung beim Arbeitgeber abzumelden (BAG, Urt. v. 15.07.1992 - 7 AZR 466/91 Rn. 26) oder bei Arbeitsverweigerung infolge Teilnahme an einer Schulungsveranstaltung, die bei sorgfältiger objektiver Prüfung für jeden Dritten ohne weiteres als nicht erforderlich erkennbar war (BAG, Urt. v. 10.11.1993 - 7 AZR 682/92; Maul-Sartori, jurisPR-ArbR 5/2016 Anm. 2). Etwas Anderes kann nicht deshalb gelten, weil die Arbeitgeberin sich zwar hinsichtlich des abgemahnten Sachverhaltes auf eine "Amtstätigkeit" stützt, die Pflichtverletzung in ihrer Bewertung ausschließlich individualrechtlich einordnet. Bei der kollektivrechtlichen und der individualrechtlichen Rechtsposition des mit dem Abmahnungsentfernungsantrag verfolgten Verlangens handelt es sich nicht um zwei abgrenzbare Streit- oder Verfahrensgegenstände (BAG; 9. September 2015 - 7 ABR 69/13 -, Rn. 31 - 32, juris). Nach dem auch für das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren geltenden sog. zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff wird der Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens durch den konkret gestellten Antrag (Klageantrag) und den ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund) bestimmt (BAG; 8. Dezember 2010 - 7 ABR 69/09 - Rn. 16 juris; BAG; 9. September 2015 - 7 ABR 69/13 -, Rn. 31 - 32, juris). Vorliegend verlangt die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen von der Arbeitgeberin die Abmahnung vom 04.06.2019 und das Protokoll des Mitarbeitergesprächs vom 22.05.2019 aus seiner Personalakte zu entfernen. Ausgehend von ihrem Tatsachenvortrag beruft sich die Vertrauensperson auf Anspruchsgrundlagen kollektivrechtlicher Natur. Sie ist weiter der Ansicht, auch vorwerfbare arbeitsvertragliche Pflichtverletzungen - die die Arbeitgeberin gemäß ihrer Abmahnung behauptet - seien nicht gegeben. Auch die Frage der individualrechtlichen Berechtigung der Abmahnung kann - entgegen der Ansicht der Arbeitgeberin - ein Gegenstand des Beschlussverfahrens sein. Der Anspruch auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte folgt dann aus einer entsprechenden Anwendung von §§ 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB. Eine Prüfung dieses - individualrechtlichen - Anspruchs kann auch im vorliegenden Beschlussverfahren erfolgen. Nach § 48 Abs. 1 ArbGG i. V. m. § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG ist die Sache in der zulässigen Verfahrensart des Beschlussverfahrens unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden (BAG; 9. September 2015 - 7 ABR 69/13 -, Rn. 38 - 39, juris).

Arbeitnehmer können in entsprechender Anwendung von §§ 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus ihrer Personalakte verlangen. Der Anspruch besteht, wenn die Abmahnung entweder inhaltlich unbestimmt ist, unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, und auch dann, wenn selbst bei einer zu Recht erteilten Abmahnung kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers mehr an deren Verbleib in der Personalakte besteht (BAG; 4. Dezember 2013 - 7 ABR 7/12 - Rn. 58; 19. Juli 2012 - 2 AZR 782/11 - Rn. 13 mwN, BAGE 142, 331; BAG, Beschluss vom 9. September 2015 - 7 ABR 69/13 -, Rn. 38 - 39, juris). Dementsprechend ist bei einer berechtigten Abmahnung individualrechtlicher Pflichtverletzungen, auch wenn Amtspflichten mitbetroffen sind ("Doppelnatur"), der Antrag zurückzuweisen. Verletzt die Vertrauensperson dagegen ausschließlich Amtspflichten, die sich aus den Rechten und Pflichten der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen ergeben, sind vertragsrechtliche Sanktionen ausgeschlossen. Macht der Arbeitgeber allein eine Amtspflichtverletzung geltend oder erweist sich diese, so steht ihm ein Kündigungsrecht nicht zu (§ 179 Abs. 3 SGB IX i. V. m. § 15 KSchG). Folgerichtig besteht dann auch kein Recht, der Vertrauensperson die Kündigung anzudrohen (vgl. Maul-Sartori, jurisPR-ArbR 5/2016 Anm. 2).

3. Weiter sei darauf hingewiesen, dass auch hinsichtlich der erstinstanzlichen Antragserweiterung betreffend die angekündigten Anträge der Schwerbehindertenvertretung, das Beschlussverfahren die zutreffende Verfahrensart ist. Dies ergibt sich für den eigenständigen Antrag der Schwerbehindertenvertretung aus den oben dargestellten Gründen.

3.1 Hinsichtlich des Antrages der Schwerbehindertenvertretung vom 12.02.2020 handelt es sich um einen eigenständigen Antrag der Schwerbehindertenvertretung als "Stelle" im Sinne des SGB IX. Dabei ist es im Beschlussverfahren grundsätzlich möglich, zusammen mit weiteren Antragstellern verschiedene Anträge gegen mehrere Beteiligte oder einen Beteiligten zu richten (subjektive Antragshäufung; Wessel in: Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, 11. Aufl. 2019, Beschlussverfahren, Rn. 127). Die Schwerbehindertenvertretung als "Stelle" im Sinne des SGB IX ist auch grundsätzlich antragsbefugt und von der Vertrauensperson der Schwerbehinderten Menschen zu unterscheiden (vgl. BAG, Beschluss vom 8. Juni 2016 - 7 ABR 39/14 -, juris).

3.2. Dabei mag letztlich dahinstehen, ob das Landesarbeitsgericht als Beschwerdegericht über die Verfahrensart auch hinsichtlich der subjektiven Antragserweiterung, die erst nach der Einlegung der Beschwerde erstinstanzlich erfolgte, entscheiden kann, da gegebenenfalls dieser Teil des Verfahrens, der noch erstinstanzlich anhängig ist, in die Beschwerdeinstanz "hochgezogen" werden kann (für den noch nicht in der Berufungsinstanz anhängigen Teil einer Stufenklage vgl. BGH, Urteil vom 4. April 2017 - II ZR 179/16 -, juris). Vorliegend ist allerdings auch die Beteiligte zu 2) der Ansicht, dass ein Antrag der Schwerbehindertenvertretung im Beschlussverfahren zu entscheiden sei. Mit Schriftsatz vom 02.04.2020 macht die Beteiligte zu 2) lediglich geltend, der Antrag der Schwerbehindertenvertretung sei rechtsmissbräuchlich und unbegründet. Weiter ist sie der Ansicht, dass selbst bei einer Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung das Verfahren hinsichtlich des Antrages der Schwerbehindertenvertretung abgetrennt werden müsste, da lediglich das Verfahren der Vertrauensperson im Urteilsverfahren zu führen sei.

4. Die Beschwerdekammer hat die Rechtsbeschwerde für die Beteiligte zu 2) zugelassen.

Referenznummer:

R/R8658


Informationsstand: 08.03.2021