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Urteil
Übernahme der Kosten für eine den Berufsschulunterricht ersetzende Einzelunterrichtung eines Auszubildenden durch die Bundesagentur für Arbeit

Gericht:

SG Kassel 3. Kammer


Aktenzeichen:

S 3 AL 22/12


Urteil vom:

15.10.2012


Tenor:

1. Der Bescheid vom 23.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2012 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 1.134,84 Euro für erhaltenen Einzelunterricht zu erstatten.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechts-verfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch über die Erstattung von 32 Stunden und 20 Stunden für Einzelbeschulung des Klägers in Höhe von 21,52 Euro bzw. 22,31 Euro, insgesamt also 1.134,84 Euro.

Der am 30. April 1989 geborene Kläger nahm an einer Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer im Zeitraum vom 1. September 2009 bis 31. August 2012 stattfindenden Ausbildung zum Baufachwerker bei der Stiftung B., gefördert durch Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 2009, teil.

Am 28. Oktober 2011 beantragte die Stiftung B. für den Kläger Einzelunterrichtung, der den Berufsschulunterricht teilweise ersetzt. Es habe sich gezeigt, dass der Kläger nicht in der Lage sei, auch in einer kleineren Lerngruppe mit maximal 3 weiteren jungen Menschen integriert zu werden und sich zum Lernen anzuhalten. Es sei aufgrund seiner Reizoffenheit immer wieder zu Situationen in der Beschulung gekommen, in denen er durch seine Gewaltandrohungen und teilweise aggressiven Verhaltensweisen gegenüber anderen Schülern in eine Außenseiterrolle geraten sei. Auch jüngste Versuche, ihn mit den ihm vertrauten zwei Hochbauwerker-Auszubildenden gemeinsam zu unterrichten, seien nur zeitweise erfolgreich und dies auch nur, weil die Berufsschullehrer hoch sensibilisiert seien. Aufgrund dessen werde es für erforderlich angesehen, zur Vorbereitung des theoretischen Teils der Ausbildungsabschlussprüfung individuellen berufsschulersetzenden Unterricht mit 8 Wochenstunden zu erteilen. Unter dem 29. September 2011 kam der Oberarzt der V.-Klinik R. in E. zu der zusammenfassenden Beurteilung, dass der Kläger unter einer hypergenetischen Störung des Sozialverhaltens auf dem Boden einer niedrigen Intelligenz im Lernhilfebereich leide. Hierdurch sei er in seiner Lernfähigkeit intellektuell, aber auch psychisch deutlich eingeschränkt. Aufgrund der Vorbefunde sei davon auszugehen, dass eine generelle Bildungsfähigkeit gegeben sei. Allerdings brauche er, um das Abschlussziel zu erlangen, eine von der Berufsschule nicht zu leistende Unterstützungsmaßnahme. Diese bestehe aus 5 Wochenstunden Einzelunterricht bei Beibehaltung des in der Stiftung B. bereits bestehenden Stützunterrichts bis zum Abschluss der Ausbildung. Ansonsten drohe eine prognostisch ungünstige Entwicklung.

Mit Bescheid vom 23. November 2011 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, zwar seien vorliegend Leistungen zur Teilhabe erforderlich. Indessen könne dem Antrag auf Einzelbeschulung nicht stattgegeben werden, da die Einzelbeschulung durch das Sozialgesetzbuch 3. Buch (SGB III) nicht abgedeckt sei. Eine Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation, wie sie der Kläger zur Zeit durchlaufe, sehe eine Einzelbeschulung nicht vor.

Hiergegen richtete sich der am 16. Dezember 2011 erhobene Widerspruch. Zur Begründung trägt der Kläger vor, es sei mit ärztlichem Gutachten nachgewiesen, dass er nicht in der Lage sei, den Unterricht in einer Berufsschulklasse des Gruppenunterrichts im üblichen Maße nachzukommen. Mit dem vorgeschlagenen ersetzenden Einzelunterricht sei er indes in der Lage, die theoretische Abschlussprüfung zu absolvieren.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, es bestünde auf Grundlage der rechtlichen Regelung keine Möglichkeit, den als erforderlich attestierten Einzelunterricht in der Berufsschule zu fördern. Bei der Ausbildung zum Baufachwerker handele es sich um eine überbetriebliche Ausbildung. Für die ordnungsgemäße Durchführung sei die Stiftung B. Vertragspartner. In dem von der Beklagten mit der Stiftung B. abgeschlossenen Vertrag sei festgelegt worden, welche Kosten von der Beklagten übernommen werden könnten. Kosten für eine eventuelle erforderliche Einzelbeschulung seien darin nicht enthalten, so dass eine Kostenübernahme nicht möglich sei, weil sie nicht integrativer Maßnahmebestandteil ist. Kosten außerhalb des Vertrages seien nicht förderfähig. Die Beschulung nach dem Hessischen Schulpflichtgesetz obliege der Berufsschule, so dass deren Zuständigkeit für sämtliche Unterrichtsarten vorliege.

Gegen den zurückweisenden Widerspruch richtet sich die am 12. Februar 2012 zum Sozialgericht Kassel erhobene Klage, zu dessen Begründung der Kläger ausführt, der Einzelunterricht sei erforderlich, um das Ausbildungsziel zu erreichen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 23.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger 1.134,84 Euro für erhaltenen Einzelunterricht zu erstatten, hilfsweise, ihm hierüber einen rechtsmittelfähigen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gericht zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte beruft sich zur Begründung ihres Antrages auf die während des Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens gemachten Ausführungen. Ergänzend trägt sie unter Bezug auf eine Stellungnahme, die der Teamleiter der Beklagten Herr K. unter dem 24. Juli 2012 abgab, vor, die Einzelbeschulung könne durch sie nicht übernommen werden. Bei dem zwischen der Beklagten und der Stiftung B. zustandegekommenen Vertrag vom 6. Juni 2007 handele es sich um einen Vertrag mit einem Festpreis. Mit diesem Festpreis seien alle Leistungen abgegolten, die zur ordnungsgemäßen Erfüllung des Vertrages erforderlich seien. Erhöhungen des Festpreises seien während der gesamten Vertragslaufzeit ausgeschlossen. Der Stütz- und Förderunterricht bis hin zum Einzelunterricht sei Sache des Bildungsträgers, wie sich aus dem Bewerbungskonzept ergäbe.

Am 21. Mai 2012 hat der Kläger die theoretische Abschlussprüfung bestanden. Mit Schreiben vom 22. Juni 2012 stellte die Stiftung B. dem Kläger 32 Stunden á 21,52 Euro und 20 Stunden á 22,31 Euro an berufsbegleitendem Einzelunterricht in Höhe von insgesamt 1.134,84 Euro in Rechnung.

In der mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 2012 überreichte die Beklagte das Konzept der Stiftung B. zur öffentlichen Ausschreibung behindertenspezifischer Ausbildung integrativ sowie den Vertrag über die Durchführung von behindertenspezifischen Ausbildungen - integrativ vom 6. Juni 2007.

Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte; weiterhin wird Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Hinweis:

Fachbeiträge zum Thema finden Sie im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) unter:
http://www.reha-recht.de/fileadmin/download/foren/a/2013/A24...

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Diskussionsforum der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR)

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig.

Sie ist insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhoben worden, §§ 87, 90 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

In der Umstellung des Klageantrages auf Kostenerstattung ist keine Änderung der Klage anzusehen, da statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt wird (§§ 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG).

Die Klage ist auch begründet.

Der Bescheid vom 23. November 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Januar 2012 ist rechtswidrig. Der Kläger wird hierdurch in seinen Rechten verletzt. Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, dem Kläger 1.134,84 Euro für erhaltenen Einzelunterricht zu erstatten.

Nach § 97 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 3. Buch (SGB III) in der hier anzuwendenden bis zum 31. März 2012 geltenden Fassung, können für behinderte Menschen Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, die wegen Art oder Schwere der Behinderung erforderlich sind, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern.

Unstreitig ist, dass beim Kläger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich sind, und zwar auch in Form einer Ausbildung zum Bauchfachwerker im Rahmen der von der Stiftung B. durchgeführten Maßnahme.

Anders als die Beklagte meint, war indessen der für den Kläger im Zeitraum vom 27. Oktober 2011 bis 13. April 2012 erfolgte Einzelunterricht von 78 Unterrichtsstunden, respektive 52 Stunden durch den ehemaligen Berufsschullehrer Herrn P. erforderlich und im Rahmen des Leistungskataloges für Leistungen der beruflichen Teilhabe von der Beklagten zu übernehmen.

Nach § 7 Satz 1 Sozialgesetzbuch 9. Buch (SGB IX) gelten die Vorschriften dieses Buches für die Leistungen zur Teilhabe, soweit sich aus dem jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes ergibt.
Nach § 33 Abs. 6 Nr. 2 SGB IX, der über § 109 Abs. 1 SGB III für den Bereich der Arbeitsförderung entsprechend gilt, umfassen die Leistungen auch medizinische, psychologische und pädagogische Hilfen, soweit diese Leistungen im Einzelfall erforderlich sind, um die in Abs. 1 genannten Ziele zu erreichen oder zu sichern und Krankheitsfolgen zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten, insbesondere Aktivierung von Selbsthilfepotentialen.

Zur Überzeugung des Gerichts war der vom Kläger besuchte Einzelunterricht erforderlich und geeignet, um das Rehabilitationsziel zu erreichen. Das Gericht stützt seine Überzeugung hierbei auf die Stellungnahme des Oberarztes der V.-Klinik R., Herrn L. vom 29. September 2009, der insoweit ausführt, dass die steigenden Anforderungen des 3. Ausbildungslehrjahres mit der in Aussicht stehenden Abschlussprüfung den Kläger psychisch unter Druck setzten und damit seine Lernproblematik offensichtlich noch deutlicher hervortrete als zuvor. Aufgrund der Vorbefunde sei davon auszugehen, dass eine generelle Bildungsfähigkeit im Hinblick auf die bisher erbrachten Leistungen gegeben sei. Allerdings brauche er, um das Abschlussziel zu erlangen, eine von der Berufsschule zu leistende Unterstützungsmaßnahme. Diese sollte aus 5 Wochenstunden Einzelunterricht bei Beibehaltung des in der Stiftung B. bereits bestehenden Stützunterrichts bis zum Abschluss der Ausbildung erfolgen. Aus dieser Stellungnahme ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts unter Herleitung des beim Kläger bestehenden Beschwerdebildes zweifelsfrei, dass ein Einzelunterricht in der Berufsschule erforderlich und geeignet ist, das Bildungsziel zu erreichen.

Damit war die Beklagte aber auch verpflichtet, diese Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben im Sinne von § 33 Abs. 6 Nr. 2 SGB IX zu gewähren. Die Ausführungen von der Beklagten im Widerspruchsbescheid können hingegen nicht durchgreifen, da sich aus § 33 Abs. 6 SGB IX nicht herleitet, dass diese nur gewährt werden könnten, wenn sie integrativer Bestandteil einer Maßnahme seien. Vielmehr ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut des § 33 SGB IX eindeutig, dass die erforderlichen Leistungen erbracht werden. Sekundär ist hierbei, in welchem Rahmen diese Leistungen erbracht werden, da es entscheidend darauf ankommt, dass der Erfolg der Teilhabeleistung ermöglicht wird.

Eine andere Entscheidung ergibt sich ebenso wenig aus dem Umstand, dass die Beklagte mit der Stiftung B. eine vertragliche Regelung zur Durchführung von behindertenspezifischen Ausbildungen getroffen hat. Zwar sieht das Konzept der Stiftung B. in der Tat vor, dass diese Stütz- und Förderunterricht durchführt. Anders als die Beklagte meint, kann der zwischen der Stiftung B. und der Beklagten abgeschlossene Vertrag vom 6. Juni 2007 nicht so verstanden werden, dass es in die Autonomie und das Belieben der Stiftung B. gegeben ist, alles Notwendige dafür zu tun, den Rehabilitationserfolg sicherzustellen. Die gesetzlichen Regelungen des SGB IX schaffen einen Leistungsrahmen und Ansprüche, die es in die Hand der Sozialleistungsträger legt, welche Leistungen zu erbringen sind, um einen Rehabilitationserfolg sicherzustellen. Somit ist es aber im Rechtsverhältnis zwischen Kläger und Beklagten zuförderst Aufgabe der Beklagten, erforderliche Leistungen zu erbringen. Ob und in welchem Rahmen sie diese Maßnahmen organisiert, schlägt in jedem Fall nicht auf das Rechtsverhältnis zwischen Kläger und Beklagter durch. Mithin war für das Gericht ausschließlich zu prüfen, ob die vom Kläger in Anspruch genommenen Leistungen erforderlich gewesen sind, um das Rehabilitationsziel zu erreichen. Unter Bezug auf die schon genannte Stellungnahme von Herrn L. war dies aber der Fall. Die Beklagte mag im Innenverhältnis zur Stiftung B. klären, ob die in Anspruch genommenen Leistungen zur Einzelbeschulung von dem Vertrag vom 6. Juni 2007 umfasst sind oder aber nicht.

Der originär bestanden habende Anspruch hat sich vorliegend indessen in einen Erstattungsanspruch umgewandelt, da der Kläger aufgrund der Ablehnung der Beklagten durch Bescheid vom 23. November 2011 gezwungen war, sich die Leistung selbst zu beschaffen.
Nach § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX besteht die Erstattungspflicht auch, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Eine derartige Sachlage ist vorliegend gegeben. Aufgrund der anstehenden theoretischen Abschlussprüfung, die der Kläger am 31. Mai 2012 absolvierte, war es unbedingt erforderlich, dass der Berufsschulunterricht in Einzelbeschulung vor dieser theoretischen Prüfung absolviert wird, da der Kläger nur mit dieser Maßnahme in die Lage versetzt worden ist, die Fachprüfung erfolgreich zu absolvieren. Auch dies ergibt sich zweifelsfrei aus der kinder- und jugendpsychiatrischen Stellungnahme von Herrn L., auf die oben insoweit schon Bezug genommen worden ist.
Aus diesem Grunde war der Klage in vollem Umfang stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Zulässigkeit der Berufung folgt aus § 143 SGG.

Referenznummer:

R/R6010


Informationsstand: 05.12.2013