Urteil
Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben durch den Rentenversicherungsträger

Gericht:

SG Halle 11. Kammer


Aktenzeichen:

S 11 R 873/11


Urteil vom:

27.09.2012


Grundlage:

  • SGB VI § 10 Abs. 1

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2011 verurteilt, über den Antrag des Klägers vom 3. August 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes erneut zu entscheiden.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Der Kläger streitet mit der Beklagten über die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Der 1970 geborene Kläger erlernte den Beruf eines Instandhaltungsmechanikers. Danach war er als Schlosser, Klempner, Wachmann, als Selbstständiger im Holz- und Bautenschutz, Gerüstbauer, wiederum als Klempner und zuletzt als Fenstermonteur beschäftigt (siehe Aufstellung des Klägers, Seite 20 und 27 Gutachtenteil Verwaltungsakte). Danach war der Kläger geringfügig beschäftigt, arbeitslos und bezog Krankengeld. Ab 1. Januar 2005 bezog er Leistungen nach dem SGB II (siehe Kontenspiegel, Seite 20 Rückseite Verwaltungsakte).

Am 3. August 2010 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Der Beklagten lag unter anderem ein Gutachten der Agentur für Arbeit H. vom 22. März 2010 vor (Seite 37 Gutachtenteil Verwaltungsakte). Darin wurde eingeschätzt, dass der Kläger nur fähig sei, leichte körperliche Tätigkeiten in überwiegend sitzender Arbeitshaltung zu verrichten. Seine bisherigen Tätigkeiten als Instandhaltungsmechaniker, Bauhelfer, Klempner könne er nicht mehr dauerhaft ausüben. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation würden deshalb empfohlen.

Mit Bescheid vom 18. August 2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Seine Erwerbsfähigkeit sei nicht erheblich gefährdet oder gemindert, da er in der Lage sei, eine zumutbare Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin auszuüben. Am 7. September 2010 erhob der Kläger Widerspruch.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2011 (Eingang 4. Juli 2011, siehe Seite 7 Gerichtsakte) wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, dass bei dem Kläger ein Leistungsvermögen für mindestens sechs Stunden täglich für leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen vorliege. Seine Erwerbsfähigkeit sei weder erheblich gefährdet noch gemindert. Hierbei sei grundsätzlich auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit und zwar auf berufstypische Verrichtungen abzustellen. Dabei seien jedoch auch berufliche Tätigkeiten der letzten Jahre einzubeziehen, wenn diese noch nicht allzu lange zurücklägen. Er sei seit Oktober 2002 langzeitarbeitslos. Es sei ihm weiterhin möglich, eine Anlerntätigkeit/Hilfstätigkeit mit einer Einarbeitungszeit von bis zu drei Monaten unter Ausnutzung seiner persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt zu verrichten.

Am 4. August 2011 hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Halle erhoben. Er könne in seinen erlernten Berufen nicht wieder tätig werden. Dies sei unstreitig. Aufgrund der bei ihm bestehenden Einschränkungen ergebe sich ein derart eingeschränktes Betätigungsfeld, dass allenfalls durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eine Reintegration gewährleistet sei.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2011 zu verurteilen, über den Antrag des Klägers vom 3. August 2010 auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer Entscheidung fest.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

Justiz Sachsen-Anhalt

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte erneut über seinen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben entscheidet, da die tatbestandlichen Voraussetzungen der beantragten Leistungen vorliegen.

Nach § 10 Abs.1 SGB VI haben Versicherte für Leistungen zur Teilhabe die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist (Nr. 1) und bei denen voraussichtlich bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann (Nr. 2 a), bzw. bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann (Nr. 2 b).

Die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist gemindert.

Erwerbsfähigkeit in Sinne des § 10 Abs. 1 SGB VI ist die Fähigkeit des Versicherten, seinen bisherigen Beruf oder seine bisherige Tätigkeit weiter ausüben zu können. Die Kriterien, die für die Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen für eine Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit (Erwerbsminderung) maßgebend sind, sind nicht anwendbar (BSG, Urteil vom 29. März 2006, B 13 RJ 37/05, Rn. 15; Urteil vom 17. Oktober 2006, B 5 RJ 15/05 R, Rn. 17; beide dokumentiert in juris).

Der letzte Beruf des Klägers war die Tätigkeit eines Fenstermonteurs. Der Kläger hat ansonsten in seiner Erwerbsbiografie überwiegend Tätigkeiten im industriellen bzw. handwerklichen Bereich und zwar körperlich mindestens mittelschwere Tätigkeiten verrichtet. Da er nur noch leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen verrichten kann, ist davon auszugehen, dass er weder seine letzte Tätigkeit als Fenstermonteur noch typische Tätigkeiten verrichten kann, die sein bisheriges Berufsleben geprägt haben.

Es kommt nicht darauf an, dass der Kläger seit dieser letzten Tätigkeit längere Zeit arbeitslos war. Diese Ansicht beruht auf einem Missverständnis der Rechtsprechung des BSG.

In der Rechtsprechung und Kommentarliteratur findet sich der Hinweis, dass bei Prüfung der Erwerbsfähigkeit im Sinne der § 10 Abs. 1 SGB VI berufliche Tätigkeiten der letzten Jahre, wenn auch nicht aus allzu lange zurückliegender Zeit, einzubeziehen sind (Kater in Kasseler Kommentar, SGB VI, 73. Ergänzungslfg., § 10, Rn. 3; SG Gießen, Gerichtsbescheid vom 20. August 2009, S 2 R 1026/07, dokumentiert in juris; beide unter Verweis auf BSG, Urteil vom 31. Januar 1980, 11 RA 8/79, dokumentiert in juris). Diese Entscheidung des BSG zu dem Begriff "bisherige Tätigkeit" betraf jedoch die Rechtsfolgenseite der Gewährung berufsfördernder Leistungen. Nach § 14 a Satz 2 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), zu dem die Entscheidung ergangen ist, waren bei Auswahl der berufsfördernden Leistungen Eignung, Neigung und bisherige Tätigkeit angemessen zu berücksichtigen. Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "bisherige Tätigkeit" als "berufliche Tätigkeit aus nicht allzu lange zurückliegender Zeit" kann damit nicht auf die Tatbestandsvoraussetzungen einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben übertragen werden.

Nach anderer Ansicht soll in dem Fall, in dem sich kein Beruf und keine Tätigkeit ermitteln lässt, der bzw. die das Berufsleben überwiegend geprägt hat, darauf abgestellt werden, welche Tätigkeiten für ungelernte Versicherte ohne die konkret festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt erreichbar seien (Verhorst in GK-SGB VI, § 10, März 2009, Rn. 26). Ob dem gefolgt wird, kann hier offen gelassen werden, da sich für den Kläger ein prägendes Berufsbild finden ließ.

Die Anknüpfung an den bisherigen Beruf bzw. die bisherige Tätigkeit bei der Prüfung der Erwerbsfähigkeit in Sinne des § 10 Abs. 1 SGB VI ohne Berücksichtigung einer lang andauernden Arbeitslosigkeit ergibt sich auch aus anderen Gründen.

Nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI i. V. m. §§ 51 Abs. 1, 55 Abs. 1, 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VI kann auch durch den Bezug von Arbeitslosengeld die versicherungsrechtliche Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfüllt werden. Es wäre dann nicht folgerichtig, die Zeit der Arbeitslosigkeit im Einzelfall zur Einschränkung eines möglichen Anspruchs heranzuziehen. Außerdem kann gerade bei lang andauernder Arbeitslosigkeit ein erhöhter Teilhabebedarf für den jeweiligen Versicherten bestehen. Bei einer allgemeinen Verweisbarkeit langjährig Arbeitssuchender bzw. Arbeitsloser auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, sofern sie zumindest noch leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr verrichten können, würde eine Vielzahl von Versicherten, die die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV erfüllen, von Leistungen der Rentenversicherung von vorneherein ausschließen.

Die geminderte Erwerbsfähigkeit des Klägers kann durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden. Teilhabeleistungen haben bereits dann Aussicht auf Erfolg im Sinne einer wesentlichen Besserung der geminderten Erwerbsfähigkeit, wenn der Versicherte nach seinen persönlichen Verhältnissen (d. h. nach seiner körperlichen sowie geistigen Leistungsfähigkeit, seiner Motivation und seinem Alter) rehabilitationsfähig ist; die Auswahl einer geeigneten Maßnahme steht im Ermessen des Versicherungsträgers (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2006, B 5 RJ 15/05 R, 2. Leitsatz, dokumentiert in juris). Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger rehabilitationsfähig ist, da in dem Gutachten der Agentur für Arbeit H. vom 22. März 2010 ausdrücklich Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation empfohlen worden sind.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind erfüllt (§ 11 SGB VI). Ausschlussgründe nach § 12 SGB VI liegen nicht vor.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Referenznummer:

R/R6603


Informationsstand: 14.04.2015