Urteil
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben - persönliche Voraussetzungen - Erfolgsaussicht - wesentliche Besserung der geminderten Erwerbsfähigkeit

Gericht:

BSG 5. Senat


Aktenzeichen:

B 5 RJ 15/05 R


Urteil vom:

17.10.2006


Leitsätze:

1. Ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben setzt nicht voraus, dass der Versicherte in einem Ausbildungsberuf tätig war und Berufsschutz genießt (Anschluss an BSG vom 29. März 2006 - B 13 RJ 37/05 R = SozR 4-2600 § 10 Nr 1).

2. Teilhabeleistungen haben bereits dann Aussicht auf Erfolg iS einer wesentlichen Besserung der geminderten Erwerbsfähigkeit, wenn der Versicherte nach seinen persönlichen Verhältnissen (dh nach seiner körperlichen sowie geistigen Leistungsfähigkeit, seiner Motivation und seinem Alter) rehabilitationsfähig ist; die Auswahl einer geeigneten Maßnahme steht im Ermessen des Versicherungsträgers.

Hinweis:

Fachbeiträge zum Thema finden Sie im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) unter:
https://www.reha-recht.de/fileadmin/download/foren/a/A_2007-...

Rechtsweg:

SG Lüneburg Urteil vom 27.05.2004 - S 4 RJ 161/03
LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 3.03.2005 - L 10 RJ 165/04

Quelle:

Bundessozialgericht

Tenor:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 3. März 2005 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Die 1964 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war mit Unterbrechungen ua wegen Zeiten der Kindererziehung und Arbeitslosigkeit im Wesentlichen von August 1980 bis Juli 1982 als Fleisch- und Wurstverkäuferin, 1983 als Altenpflegehelferin, 1989 als Bestückerin, von 1989 bis 1991 als Fleisch- und Wurstverkäuferin, von Ende 1999 bis Februar 2002 als Taxifahrerin und schließlich von März 2002 bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit im September 2002 als Altenpflegehelferin beschäftigt.

Im Oktober/November 2002 und im April 2003 befand sich die Klägerin im Reha-Zentrum Bad Eilsen zur stationären Rehabilitation. Nach dem Entlassungsbericht vom 7. Mai 2003 ist sie in dem letzten Beruf als Altenpflegehelferin drei bis sechs Stunden einsetzbar; auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kann sie leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen, Gehen, ohne häufiges Bücken, ohne häufiges Heben und Tragen sowie ohne sonstige häufige Zwangshaltungen der Wirbelsäule vollschichtig verrichten.

Ihren am 8. Mai 2003 gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. Mai 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 2003 ab, da die Klägerin noch in der Lage sei, leichte bis mittelschwere Arbeiten mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Dass sie die Tätigkeit einer Altenpflegehelferin nicht weiter ausüben könne, sei auf Grund ihres beruflichen Werdegangs unerheblich. Die Klägerin sei mit ihrem Leistungsvermögen auch ohne Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Das Sozialgericht Lüneburg hat die Beklagte mit Urteil vom 27. Mai 2004 verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Das Landessozialgericht Niedersachen-Bremen (LSG) hat mit Urteil vom 3. März 2005 in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Beklagte verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Abgesehen davon, dass die Beklagte wegen des ihr zustehenden Ermessensspielraums lediglich zur Neubescheidung verpflichtet werden könne, sei die Berufung nicht begründet. Gemäß § 9 Abs 2 iVm Abs 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) könnten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt seien. Die in § 11 SGB VI genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien gegeben, ein Ausschlusstatbestand iS des § 12 Abs 1 SGB VI liege nicht vor. Ebenso seien die in § 10 Abs 1 SGB VI geregelten persönlichen Voraussetzungen erfüllt. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei iS von § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI durch Krankheit gemindert. Erwerbsfähigkeit sei als Fähigkeit zu verstehen, seinen bisherigen Beruf oder eine seiner Eignung, Neigung und bisherigen Tätigkeit angemessene Erwerbs- oder Berufstätigkeit dauernd auszuüben. Dagegen komme es nicht auf die Voraussetzungen rentenrechtlicher Vorschriften an. Eine Leistung zur Teilhabe könne daher entgegen der Auffassung der Beklagten nicht mit der Begründung versagt werden, der Versicherte sei noch in der Lage, eine zumutbare Verweisungstätigkeit zu verrichten. Das Leistungsvermögen der Klägerin für ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Altenpflegehelferin und auch für die zuvor verrichtete Tätigkeit als Taxifahrerin sei nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. R. wesentlich eingeschränkt. Die weitere Voraussetzung des § 10 Abs 1 Nr 2 Buchst b SGB VI sei ebenfalls erfüllt. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin könne durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben voraussichtlich wesentlich gebessert oder wieder hergestellt werden. Der Senat halte es in Anbetracht dessen, dass die Klägerin erst 40 Jahre alt sei und stark motiviert scheine, für wahrscheinlich, dass ihr bei gleichbleibendem Gesundheitszustand mit einer geeigneten Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben Möglichkeiten eröffnet werden könnten, wieder in vollem Umfang dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Beklagte sei nunmehr verpflichtet, ihr Ermessen zur Frage, welche Leistung nach Art, Dauer und Umfang gewährt werde, auszuüben und die Klägerin dann neu zu bescheiden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte sinngemäß eine Verletzung des § 10 SGB VI und führt hierzu im Wesentlichen aus: Bei Versicherten, die während ihres Berufslebens verschiedene Hilfsarbeiter- bzw Helfertätigkeiten ausgeübt hätten, könne Anknüpfungspunkt für die Frage, ob die persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI erfüllt seien, nur der allgemeine Arbeitsmarkt sein. Könne wie im Fall der Klägerin eine berufliche Prägung durch ein konkretes Tätigkeitsbild nicht festgestellt werden, so sei lediglich auf den qualitativen Charakter der zuletzt ausgeübten Tätigkeiten abzustellen. Dementsprechend seien bei einem ungefestigten Berufsbild die persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI nicht erfüllt, wenn der Versicherte noch in der Lage sei, Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als sechs Stunden täglich auszuüben. In diesem Fall sei die Erwerbsfähigkeit iS des § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI weder erheblich gefährdet noch gemindert. Ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sei damit im Fall der Klägerin nicht gegeben.


Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 3. März 2005 sowie das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 27. Mai 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.


Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe:

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG die Beklagte verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Entgegen der Ansicht der Beklagten sind die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben iS der §§ 9 ff SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 2002 (BGBl I 754) erfüllt.

Gemäß § 9 Abs 2 SGB VI können Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Dabei unterliegt die Entscheidung über die Voraussetzungen, das "ob" der Leistung der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, während das "wie" der Leistung im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten steht (vgl ua BSGE 85, 298, 300 = SozR 3-2600 § 10 Nr 2 S 3 mwN).

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 11 SGB VI liegen bei der Klägerin vor, und ein Ausschlussgrund iS des § 12 SGB VI ist nicht verwirklicht; hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

Die Klägerin erfüllt auch die persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI.

Nach § 10 Abs 1 SGB VI haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen erfüllt,

1. deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und

2. bei denen voraussichtlich
a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann,

b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann,

c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann.

Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin aus den in § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI genannten Gründen gemindert ist.

Der Begriff der im Gesetz nicht definierten Erwerbsfähigkeit ist als Fähigkeit des Versicherten zu verstehen, seinen bisherigen Beruf oder seine bisherige Tätigkeit weiter ausüben zu können. Nicht hingegen sind die Kriterien anwendbar, die für die Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung maßgebend sind. Dies hat der 13. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) mit Urteil vom 29. März 2006 (SozR 4-2600 § 10 Nr 1 ) zu § 10 Nr 1 in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I 2261) entschieden. Dem schließt sich der erkennende Senat für die Auslegung des lediglich redaktionell veränderten § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung an.

Entgegen der Ansicht der Rentenversicherungsträger ist das BSG bereits in seiner früheren Rechtsprechung davon ausgegangen, dass Rehabilitationsleistungen nicht nur den Versicherten zugute kommen, die einen qualifizierten Beruf ausüben, sondern auch von denjenigen in Anspruch genommen werden können, die in der Rentenversicherung keinen sog Berufsschutz genießen, weil sie ungelernte Tätigkeiten verrichten. Schon in der grundlegenden Entscheidung zu dem seit 1957 geltenden Rehabilitationsrecht hat das BSG hervorgehoben, dass § 1236 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) den Begriff der Erwerbsfähigkeit verwende, wohingegen § 1246 RVO die Berufsunfähigkeit betreffe, und ist ausdrücklich der Auffassung entgegengetreten, die Voraussetzungen für die Minderung der Erwerbsfähigkeit im rehabilitationsrechtlichen Sinne seien im Lichte der Voraussetzungen eines Rentenanspruchs zu verstehen. Bereits damals wurde darauf hingewiesen, dass die Vorschriften über den Anspruch auf Rehabilitationsleistungen nicht auf Vorschriften über die Berufsunfähigkeit Bezug nähmen, sodass die Verweisbarkeit auf eine andere Tätigkeit dem Anspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen nicht entgegenstehe (BSGE 28, 18, 20 = SozR Nr 4 zu § 1236 RVO Bl Aa4, Aa5R; vgl auch SozR 2200 § 1236 Nr 5 S 9 f mwN zur Änderung durch das ArVNG 1957; § 1236 RVO nF gegenüber § 1310 RVO aF). In späteren Entscheidungen hat das BSG diesen Ansatz immer wieder bekräftigt und insbesondere betont, dass für die Erfüllung der leistungsrechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rehabilitation eine Minderung oder Gefährdung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten im bisherigen Beruf oder in der bisherigen Tätigkeit genüge (BSGE 48, 74, 75 = SozR 2200 § 1237a Nr 6 S 8; BSGE 50, 156, 157f = SozR 2200 § 1237 Nr 15 S 19; BSGE 52, 123, 125 f = SozR 2200 § 1237a Nr 19 S 54 f).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass das BSG jedenfalls in einer Entscheidung die rehabilitationsrechtlich relevante Minderung der Erwerbsfähigkeit als berufsbezogen aufgefasst und darauf abgestellt hat, ob der Versicherte unabhängig von den Besonderheiten des gerade innegehaltenen Arbeitsplatzes den typischen Anforderungen des ausgeübten Berufes noch nachkommen könne (vgl BSG SozR 2200 § 1237a Nr 16 S 39) . Das Urteil enthält keinerlei Hinweise darauf, dass es diese Aussage auf Ausbildungsberufe beschränken wollte; schon deshalb ist fraglich, ob es als Beleg für die Auffassung dienen kann, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit iS von § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI bei ungelernten Versicherten nach ihrer Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu beurteilen sei. Das Kriterium der rehabilitationsrechtlich relevanten Minderung der Erwerbsfähigkeit ist - berufsbezogen - grundsätzlich auf Versicherte in ungelernten Tätigkeiten in gleicher Weise anwendbar wie auf Versicherte in qualifizierten Berufen, denn typische Anforderungsprofile können nicht nur die Ausübung qualifizierter (Ausbildungs-)Berufe, sondern auch die Verrichtung ungelernter Tätigkeiten prägen. Letztere haben regelmäßig ebenfalls - losgelöst von einer konkreten Arbeitsstelle - ein bestimmtes Leistungsprofil und beinhalten damit typische, vom Versicherten zu bewältigende Kernaufgaben und Verrichtungsmerkmale, die sich zwar nicht auf bestimmte Ausbildungsinhalte beziehen werden, aber durch die konkrete Tätigkeit vorgegeben sind und praktisch erworbene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse verlangen. Hiervon abzugrenzen sind die spezifischen Belastungen und Anforderungen an einem konkreten Arbeitsplatz, die nicht berufstypisch sind und daher unberücksichtigt bleiben müssen. Auf dieser Grundlage kommt eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben bei dem ungelernten Versicherten ebenso wie bei dem gelernten Versicherten in Betracht, wenn er den typischen Anforderungen seiner bisherigen Tätigkeit nicht mehr gewachsen ist. Bei dieser Betrachtungsweise wird der als ungelernter Arbeiter tätige Versicherte entgegen der Befürchtung der Rentenversicherungsträger nicht gegenüber dem gelernten Versicherten privilegiert; andererseits bleibt ihm ebenfalls der Zugang zu Leistungen zur beruflichen Teilhabe offen.

Die dargelegte bisherige Bedeutung kommt dem Begriff der Erwerbsfähigkeit auch in § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI der hier maßgeblichen Fassung zu.

§ 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI verwendet den Begriff Erwerbsfähigkeit, obwohl das Gesetz auch denjenigen der Berufsfähigkeit kennt (s insbesondere §§ 45 und 240 SGB VI) , sodass der Wortlaut der Norm keine Einschränkung des Anwendungsbereichs auf qualifizierte, einen Berufsschutz auslösende Tätigkeiten erkennen lässt. Ebenso wenig nimmt § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI Bezug auf § 43 Abs 3 SGB VI, nach dem derjenige nicht erwerbsgemindert ist, der unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Die fehlende Bezugnahme auf diese Regelung macht deutlich, dass die Frage der Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit in § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI unabhängig von der etwaigen Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu beurteilen ist und sich damit auf die Betrachtung seiner bisher ausgeübten Tätigkeit reduziert.

Bestätigung findet dieses Ergebnis durch die Regelungen des § 11 Abs 1 und Abs 2a Nr 1 SGB VI. Nach Abs 1 haben Versicherte die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfüllt, die bei Antragstellung die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt haben (Nr 1) oder eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beziehen (Nr 2). Gemäß Abs 2a Nr 1 werden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an Versicherte auch erbracht, wenn ohne diese Leistungen Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten wäre. Das Gesetz knüpft damit lediglich in Abs 1 Nr 2 und Abs 2a Nr 1 den Anspruch auf Teilhabeleistungen an das Vorliegen rentenrechtlicher Voraussetzungen, wohingegen nach Abs 1 Nr 1 ausschließlich die Erfüllung der 15-jährigen Wartezeit Anspruchsvoraussetzung ist. Hätte der Gesetzgeber den Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe stets davon abhängig machen wollen, dass die Voraussetzungen einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erfüllt sind, hätte es nahe gelegen, die fraglichen Vorschriften entsprechend zu fassen.

Eine dahin zielende Gesetzesfassung ist ausweislich der Entstehungsgeschichte der Norm auch zunächst erwogen worden. § 11 Abs 2 Nr 1 des Referentenentwurfs eines RRG 1992 bestimmte, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation erfüllt sind, wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt sind (Diskussions- und Referentenentwurf RRG 1992, S 42). Hierdurch sollten berufsfördernde Leistungen auf die Personen beschränkt werden, die von der Rentenversicherung eine derartige Rente erhalten können und bei denen durch Leistungen zur Rehabilitation eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit abgewendet werden kann (vgl Begründung zum Diskussions- und Referentenentwurf RRG 1992, S 77). Schon § 11 Abs 1 SGB VI idF des RRG 1992 hat jedoch eine derartige Verknüpfung nicht vorgenommen. Diese Entwicklung spricht dafür, dass der Gesetzgeber Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bei Erfüllung der 15-jährigen Wartezeit von dem Vorliegen rentenrechtlicher Voraussetzungen bewusst abgekoppelt hat. Da bereits § 11 SGB VI regelt, in welchen Fällen Teilhabeleistungen von rentenrechtlichen Voraussetzungen abhängig bzw unabhängig sind, ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber diese Frage außerdem in § 10 SGB VI habe regeln wollen.

Eine Auslegung des Begriffs Erwerbsfähigkeit in § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI im dargelegten Sinne wird zudem durch die ab 1. Januar 2001 geltenden veränderten rentenrechtlichen Vorschriften gestützt. Ein besonderer Schutz des erlernten Berufs in Form der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit wird ausweislich § 240 Abs 1 Nr 1 SGB VI nur noch für einen Übergangszeitraum gewährt. Im Übrigen kennt das Gesetz - abgesehen von den Renten für Bergleute in § 45 SGB VI - für alle Versicherten unabhängig von der Qualität des ausgeübten Berufs nur noch eine Rente wegen Erwerbsminderung (vgl § 43 SGB VI). Dem widerspräche es, im Recht der Rehabilitation bzw der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben den erlernten Beruf anders als eine sonstige Tätigkeit zu behandeln.

Entgegen der Ansicht der Rentenversicherungsträger lässt sich auch aus den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX), namentlich § 14 Abs 4 Satz 2 nicht ableiten, dass der Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe lediglich den einen qualifizierten Beruf ausübenden Versicherten zwecks Vermeidung einer sonst zu erbringenden Rentenleistung zusteht. Nach dieser Vorschrift leitet die Bundesagentur für Arbeit für die Klärung von Erstattungsfällen iS des Satzes 1 Anträge auf Leistungen zur Teilhabe zwecks Feststellung der Voraussetzungen des § 11 Abs 2a Nr 1 SGB VI an den Träger der Rentenversicherung nur weiter, wenn sie konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass der Träger der Rentenversicherung zur Leistung einer Rente unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage verpflichtet sein könnte. § 14 Abs 4 Satz 2 SGB IX normiert mithin eine Verhaltenspflicht der Bundesagentur für Arbeit lediglich für eine Alternative der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen iS des § 11 SGB VI. Eine Aussage über den Inhalt des § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI lässt sich dem nicht entnehmen.

Dem Normverständnis im dargelegten Sinn kann schließlich nicht entgegengehalten werden, dass der ungelernte Versicherte in diesem Fall seinen Rehabilitationsbedarf selbst steuern könne, indem er eine Tätigkeit annimmt, die ihn gesundheitlich überfordert, um sich dann wegen Gefährdung seiner Erwerbsfähigkeit vom Rentenversicherungsträger als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben eine (Erst-) Ausbildung finanzieren zu lassen. Abgesehen davon, dass derselbe Einwand grundsätzlich auch bei gelernten Versicherten erhoben werden könnte, vermag die Möglichkeit des Missbrauchs im Einzelfall die Auslegung einer abstrakten Rechtsnorm auf Grund des Wortlauts, der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte nicht in Frage zu stellen. Einem Missbrauch hat die Beklagte vielmehr dadurch zu begegnen, dass sie prüft, ob die begehrte Leistung nach dem auch im Sozialrecht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 Bürgerliches Gesetzbuch zu versagen ist (vgl BSGE 65, 272, 277 = SozR 4100 § 78 Nr 8 S 36; BSGE 76, 67 = SozR 3-4100 § 141k Nr 2; BSG SozR 3-2400 § 25 Nr 6 jeweils mwN). Hierfür spricht auch § 103 SGB VI, in dem dieser Gedanke hinsichtlich der Rentenleistung positivrechtlichen Ausdruck gefunden hat. Danach besteht ein Rentenanspruch nicht, wenn die für einen Rentenanspruch erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung absichtlich herbeigeführt worden ist.

Die Klägerin ist nach den Feststellungen des LSG, die für den Senat bindend sind (§ 163 SGG) und denen die Beklagte auch nicht widersprochen hat, nicht mehr imstande, die zuletzt ausgeübten Tätigkeiten als Altenpflegehelferin und Taxifahrerin zu verrichten. Der Klägerin sind nur noch körperlich leichte und gelegentlich mittelschwere Arbeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und überwiegendem Sitzen ohne Zwangshaltungen, ohne häufiges Bücken und Knien sowie ohne Heben und Tragen von schweren Lasten zumutbar. Die Tätigkeit einer Altenpflegerin verlangt indes nach den Feststellungen des LSG häufigeres Bücken sowie zumindest das Heben von schweren Lasten ohne mechanische Hilfsmittel und kann auch nicht überwiegend im Sitzen ausgeübt werden. Ebenso verlangt die Tätigkeit einer Taxifahrerin das nicht mehr zumutbare Heben und Tragen schwerer Lasten in Form des Ein- und Ausladens von Gepäck und lässt sich nicht ohne Zwangshaltung verrichten.

Die Entscheidung des LSG, dass die geminderte Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben iS des § 10 Abs 1 Nr 2 Buchst b SGB VI voraussichtlich wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann, ist ebenfalls revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Die nach dieser Norm gebotene Feststellung der Erfolgsaussicht einer Leistung zur Teilhabe muss sich auf die Prüfung beschränken, ob der Versicherte grundsätzlich rehabilitationsfähig ist, was unter Berücksichtigung seiner körperlichen sowie geistigen Leistungsfähigkeit, seiner Motivation und seines Alters positiv festzustellen ist. Da die Beklagte ihre Leistungspflicht bereits verneint hat, weil ihrer Ansicht nach die Erwerbsfähigkeit der Klägerin nicht gefährdet oder gemindert, und somit keine konkrete Maßnahme Streitgegenstand ist, kommt eine maßnahmenbezogene Prüfung der Erfolgsaussicht von vornherein nicht in Betracht. Zwar ist in der früheren Rechtsprechung des BSG davon die Rede, dass die Erfolgsaussicht nur anhand einer konkreten Maßnahme geprüft werden könne (BSG SozR 2200 § 1237a Nr 16 S 39; BSGE 48, 74, 77 = SozR 2200 § 1237a Nr 6 S 9). Dies kann indes jedenfalls dann nicht gelten, wenn eine konkrete Maßnahme gar nicht im Streit steht (so im Ergebnis auch Urteil des 13. Senats vom 29. März 2006 - SozR 4-2600 § 10 Nr 1).

Für eine allein auf den Versicherten und nicht auf eine konkrete Maßnahme bezogene Prüfung sprechen überdies systematische Erwägungen in Form einer Abgrenzung des § 10 Abs 1 SGB VI zu § 13 Abs 1 und § 16 SGB VI iVm § 33 Abs 4 SGB IX. Während § 10 Abs 1 Nr 2 SGB VI eine ( echte) Anspruchsvoraussetzung normiert und die diesbezügliche Entscheidung der vollständigen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, betreffen § 13 Abs 1 Satz 1 SGB VI und § 16 SGB VI iVm § 33 Abs 4 SGB IX den Ermessensbereich der Beklagten, der nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich ist. All das, was das Gesetz in diesen Vorschriften regelt, kann angesichts der unterschiedlichen gerichtlichen Kontrolldichte nicht auch Gegenstand des § 10 Abs 1 Nr 2 SGB VI sein. Gemäß § 13 Abs 1 Satz 1 SGB VI bestimmt der Träger der Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen zur Teilhabe sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. Bei der Auswahl der Leistungen werden gemäß § 16 SGB VI iVm § 33 Abs 4 Satz 1 SGB IX Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen berücksichtigt. Das Gesetz ordnet damit die Auswahl der konkreten Leistung zur Teilhabe im Einzelfall, ua unter Beachtung der Eignung des Versicherten, dem Ermessensbereich zu. Damit wäre es unvereinbar, wenn die Erfolgsaussicht iS des § 10 Abs 1 Nr 2 Buchst b SGB VI anhand einer konkreten Maßnahme zu prüfen wäre. Angesichts dieser Überlegungen wird in künftigen Fällen zu überdenken sein, ob die bisherige Rechtsprechung zu korrigieren ist, soweit das Gerichtsverfahren eine konkrete Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben betrifft.

Für die hier vorliegende Sachverhaltskonstellation ist jedenfalls maßgeblich, ob sich die geminderte Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach seinen persönlichen Verhältnissen voraussichtlich durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich verbessern oder wiederherstellen lässt.

Der Beklagten ist zuzugestehen, dass bei diesem Verständnis der Begriff der Erwerbsfähigkeit in § 10 Abs 1 Nr 1 SGB VI eng mit der bisherigen Tätigkeit des Versicherten verknüpft ist, während derselbe Begriff in § 10 Abs 1 Nr 2 SGB VI einen anderen Sinngehalt hat. Dass sich das Rehabilitationsziel iS der Nr 2 nicht in der Wiederaufnahme der bisherigen Tätigkeit erschöpft, ist im Grunde selbstverständlich und ergibt sich auch aus dem Leistungskatalog des § 16 SGB VI iVm § 33 SGB IX, der ua Berufsvorbereitung, berufliche Weiterbildung und berufliche Ausbildung umfasst. Dies zeigt, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht allein auf die Erhaltung, wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten in seinem bisherigen Beruf oder seiner bisherigen Tätigkeit gerichtet sein müssen (vgl auch BSGE 48, 74, 76 = SozR 2200 § 1237a Nr 6 S 8 f). Der von den Rentenversicherungsträgern befürwortete Rückschluss auf einen ähnlich weiten Sinngehalt des Begriffs der Erwerbsfähigkeit bei der Prüfung des Rehabilitationsbedarfs nach Nr 1 ist nicht zulässig, denn er würde einen nicht unerheblichen Teil der Versicherten entgegen der gesetzlichen Systematik und der dem Gesetzgeber bekannten bisherigen Rechtsprechung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben praktisch ausschließen.

Die Aussicht auf eine maßgebliche Besserung der Erwerbsfähigkeit ist auf Grund der Feststellungen des LSG, die von der Beklagten nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden und daher für den Senat bindend (§ 163 SGG) sind, zu bejahen. Danach ist es mit Rücksicht auf das Alter der Klägerin von erst 40 Jahren, ihre starke Motivation und ihren Gesundheitszustand wahrscheinlich, dass durch geeignete Maßnahmen ihre Vermittlungschancen verbessert und ihr somit Möglichkeiten eröffnet werden, wieder in vollem Umfang dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Insoweit unterscheidet sich der hier entschiedene Fall von dem Sachverhalt, über den der 13. Senat des BSG im Urteil vom 29. März 2006 (SozR 4-2600 § 10 Nr 1) zu entscheiden hatte, weil dort keine entsprechenden Feststellungen zur Erfolgsaussicht iS des § 10 Abs 1 Nr 2 SGB VI getroffen worden waren.

Die Beklagte ist daher nunmehr verpflichtet, unter Beteiligung der Klägerin und in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens aus dem umfangreichen Katalog von in Betracht kommenden Maßnahmen eine geeignete Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben auszuwählen und zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

Referenznummer:

R/R2720


Informationsstand: 03.08.2007