Urteil
Leistungen der Eingliederungshilfe - Übernahme der Kosten für einen Gebärdensprachdolmetscher während der Ausbildung zur Ergotherapeutin

Gericht:

LSG Bayern 11. Senat


Aktenzeichen:

L 11 B 781/08 SO ER


Urteil vom:

02.10.2008


Tenor:

I. Auf die Beschwerde hin wird der Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 19.08.2008 dahingehend abgeändert, dass der Antragsgegner die Kosten für einen Gebärdendolmetscher lediglich bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache vorläufig zu erbringen hat. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß § 53 ff Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Form der Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher während der Ausbildung zur Ergotherapeutin.

Die 1986 geborene Antragstellerin (ASt) ist gehörlos. Nach Ableistung ihrer schulischen Ausbildung und einem sozialen Jahr nahm sie am 08.09.2008 die Ausbildung zur Ergotherapeutin an der Berufsfachschule A-Stadt auf.

Ihren Antrag auf Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher während der Ausbildung vom 02.08.2007 lehnte das bis 31.12.2007 zuständige Landratsamt B. - ab 01.01.2008 ist der Antragsgegner (Ag) zuständig - mit Bescheid vom 25.10.2007 ab. Eine Ausbildung in einem Berufsförderungswerk würde lediglich ca. 144.000 EUR gegenüber der Ausbildung an der Berufsfachschule (mindestens 222.000 EUR) kosten.

Nach Widerspruch der ASt hiergegen teilte die Agentur für Arbeit B. auf Nachfrage des Landratsamtes mit, die ASt sei körperlich und geistig für diese Ausbildung geeignet, es könne auch erwartet werden, dass sie eine Arbeitsstelle finden werde, die ihr eine ausreichende Lebensgrundlage biete. Die vom Amt für Gesundheitswesen beim Landratsamt B. zunächst geäußerten Zweifel bez. der Erlaubniserteilung zum Führen der Berufsbezeichnung Ergotherapeutin an die ASt stellten sich nach Auskunft der Regierung von Oberfranken als unzutreffend dar. Das Amt für Gesundheitswesen ging jedoch weiterhin von schlechten Aussichten bei der Arbeitsplatzsuche aus. Es seien lebenslang Eingliederungshilfemaßnahmen erforderlich.

Nach Abgabe des Verfahrens an den Ag legte dieser den Widerspruch der Regierung von Oberfranken zur Entscheidung vor. Die Regierung von Oberfranken wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.06.2008 wegen der entstehenden hohen Kosten zurück. Dagegen hat die ASt Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben, über die bislang noch nicht entschieden ist.
Am 05.08.2008 hat die ASt Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim SG gestellt und auf einige beruflich tätige gehörlose Ergotherapeuten hingewiesen. Mit Beschluss vom 19.08.2008 hat das SG den Ag im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, die Kosten eines Gebärdendolmetschers während der ab 08.09.2008 beginnenden Ausbildung zur Ergotherapeutin zu übernehmen. Ein erfolgreicher Abschluss der Ausbildung sei ebenso zu erwarten wie die Möglichkeit, hernach diesen Beruf auszuüben, auch wenn es sich nicht um einen Mangelberuf handle. Der Ag habe sich nicht rechtzeitig zum Antrag geäußert.

Zur Begründung der dagegen eingelegten Beschwerde hat der Ag erneut auf die unverhältnismäßig hohen Kosten hingewiesen. Er begehrt die Gestellung einer Sicherheitsleistung durch die ASt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Hinweis:

Einen Fachbeitrag zum Einstweiligen Rechtsschutz finden Sie im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) unter:
http://www.reha-recht.de/fileadmin/download/foren/a/2013/A4-...

Rechtsweg:

SG Bayreuth Urteil vom 19.08.2008 - S 10 SO 76/08 ER

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig, aber nur zu einem unwesentlichen Teil begründet. Im Wesentlichen ist sie jedoch zurückzuweisen. Die vorläufige Verpflichtung des Ag zur Leistung ist auf die Zeit bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zu begrenzen. Eine weitere Aufhebung der Entscheidung des SG kommt jedoch ebenso wenig in Betracht wie die Gestellung einer Sicherheitsleistung durch die ASt.

Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis stellt im vorliegenden Rechtsstreit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG dar.

Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74, vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4. Aufl. RdNr 643).

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiellrechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung -ZPO-; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 8.Aufl, § 86b RdNr 41).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist gegebenenfalls auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 aaO und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 -1 BvR 2971/06 -).

In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden (BVerfG vom 12.05.2005 aaO).

Dies zugrunde gelegt, ist sowohl von einer Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches wie auch eines Anordnungsgrundes auszugehen.

Gemäß § 53 Abs 1 Satz 1, § 54 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB XII i.V.m. § 1 Nr 5, § 13 Abs 1 Nr 2, Abs 2 der Verordnung nach § 60 SGB XII (Eingliederungshilfe-Verordnung) hat der Ag vorläufig die Kosten eines Gebärdendolmetschers zu tragen, denn es handelt sich um eine Ausbildung, für die (1) die ASt nach Auskunft der Agentur für Arbeit B. geeignet ist - es sei zu erwarten, dass sie das Ausbildungsziel erreiche -, (2) die erforderlich ist - eine andere Ausbildung zur Ergotherapeutin wurde der ASt ebenso wenig vorgeschlagen wie eine kostengünstigere Ausbildung in einem verwandten Berufsbild - und die (3) der ASt voraussichtlich eine ausreichende Lebensgrundlage bieten werde, wie die Auskunft der Agentur für Arbeit B. und auch die tatsächliche Tätigkeit von gehörlosen Ergotherapeuten bestätigt. Die lediglich vom Amt für Gesundheitswesen diesbezüglich geäußerten Bedenken sind in keinster Weise fachlich begründet.

Den Wünschen der ASt, die dieses Berufsbild während ihres sozialen Jahres bereits zum Teil kennengelernt hatte, soll dabei nach § 9 Abs 2 SGB IX entsprochen werden, soweit diese angemessen sind. Dies ist hier der Fall, denn die gegenüber einer Ausbildung in einem Berufsbildungswerk höheren Kosten sind noch als angemessen anzusehen, nachdem keine verwandte Ausbildungsmöglichkeit vom Ag angeboten werden konnte und eine Ausbildung zur Ergotherapeutin in einem Berufsbildungswerk nicht möglich war. An der Ernsthaftigkeit des Wunsches der ASt, eine Ausbildung zur Ergotherapeutin zu absolvieren und in diesem Bereich später tätig zu sein, bestehen keine Zweifel.

Damit ist ein Anordnungsanspruch ebenso als glaubhaft gemacht anzusehen wie ein Anordnungsgrund, denn die Ausbildung hat bereits im September 2008 begonnen und kann von der ASt ohne die vorläufige Leistung des Ag nicht finanziert werden.

Eine Sicherheitsleistung ist von der ASt nicht zu stellen, denn dies käme einer Verweigerung des einstweiligen Rechtsschutzes gleich.

Nach alledem war die Beschwerde im Übrigen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Das Obsiegen des Ag beschränkt sich auf einen unwesentlichen Teil.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG)

Referenznummer:

R/R4751


Informationsstand: 31.08.2010