Urteil
Kostenübernahme für Gebärdensprachdolmetscher und Mitschreibkräfte für eine gehörlose Studentin im Rahmen der Eingliederungshilfe

Gericht:

SG Düsseldorf


Aktenzeichen:

S 17 SO 138/10 ER


Urteil vom:

20.04.2010


Grundlage:

Tenor:

Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für Gebärdensprachdolmetscher für 11,5 Wochenstunden Vorlesungen und sonstige Lehrveranstaltungen, davon 7 Stunden in Doppelbesetzung, zu den Konditionen, die der LVR mit dem Berufsverband der Gebärdensprachdolmetscher NRW ausgehandelt hat, vom Tag des Erlasses dieses Beschlusses an bis zum 31.07.2010 zu gewähren. Der Antragsgegner wird ferner verpflichtet, vorläufig Kosten für studentische Mitschreibhilfen nach angemessenem Bedarf in Höhe von 6,00 Euro pro Stunde vom Beginn der Vorlesungszeit (12.04.2010) an bis zum 31.07.2010 zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in Höhe von 4/5.

Tatbestand:

I.

Die 1979 geborene Klägerin ist gehörlos mit einem Grad der Behinderung von 100. Sie hat 2000 am Rheinisch-Westfälischen Berufskolleg für Hörgeschädigte in F die allgemeine Hochschulreife mit einem Durchschnitt von 2,9 erworben. Anschließend absolvierte sie eine Ausbildung zur Mediengestalterin für Digital- und Printmedien - Mediendesign -, die sie 2003 mit dem Gesamtergebnis "befriedigend" beendete. In diesem Beruf arbeitete sie von 2003 bis September 2009. Im Oktober 2009 hat die Antragstellerin das Studium der Druck- und Medientechnologie an der Universität X aufgenommen (angestrebter Abschluss: Bachelor). Den Lebensunterhalt während des Studiums hat sie bislang durch eine Nebenbeschäftigung bei ihrem früherem Arbeitgeber bestritten. Sie gibt an, dies während des Studiums so beibehalten zu wollen.

Mit Schreiben vom 05.10.2009, beim Antragsgegner am 06.10.2009 eingegangen, beantragte die Antragstellerin bei dem Antragsgegner Studienhilfen zur Durchführung des Studiums in Form von Gebärdensprachdolmetscher (16 Stunden in Doppelbesetzung), studentische Mitschreibkräfte und Tutoren (10 Wochenstunden durchgängig - Vorlesungs- und vorlesungsfreie Zeit). Sie gab an, dass in der Medienbranche die Entwicklung sehr schnell sei. Um mit dieser Entwicklung Schritt halten zu können und sich beruflich weiter entwickeln zu können, habe sie sich zur Aufnahme des Studiums entschlossen. Mit Bescheid vom 04.11.2009 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Entscheidend für die Hilfegewährung sei die Klärung der Frage, ob die Antragstellerin mit dem Studium eine bereits begonnene Ausbildung kontinuierlich fortsetzen (Erstausbildung) oder ob sie sich mit dem Hochschulstudium eine neue Ausbildung beginnen wolle (Zweitausbildung bzw. Fortbildung, Umschulung). Nur die Erstausbildung zähle zum Pflichtenkatalog der Sozialhilfe. Da die Antragstellerin jedoch das Studium nicht nahtlos an die Ausbildung angeschlossen habe, könne von einer Erstausbildung nicht mehr gesprochen werden. Bei dem Studium handele es sich daher um eine Fortbildungsmaßnahme, die nur dann gefördert werden könne, wenn der Behinderte ohne die Fortbildung den erlernten Beruf wegen der Behinderung nicht oder nur unzureichend ausüben könne und außerdem kein anderer Sozialleistungsträger die erforderliche Hilfe gewähre. Die Antragstellerin könne aber noch als Mediendesignerin arbeiten. Sozialhilfe leiste nur ein Mindestmaß an Hilfe. Hierzu gehöre nicht die Förderung eines Studiums, wenn der Betreffende im erlernten Beruf seinen Lebensunterhalt verdienen könne.

Hiergegen erhob die Klägerin am 27.11.2009 Widerspruch und machte geltend, dass sie es als diskriminierend empfinde, wenn für sie die berufliche Weiterbildung nach Ausbildung und Berufstätigkeit beendet sein soll, nur weil sie gehörlos sei. Sie nehme das Recht in Anspruch, sich barrierefrei weiterzubilden; hierzu benötige sie einen Gebärdensprachdolmetscher.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.1010 wies der Antragsgegner den Widerspruch der Antragstellerin als unbegründet zurück im Wesentlichen mit der Argumentation aus dem Bescheid vom 04.11.2009. Zudem führte der Antragsgegner aus, dass Eingliederungshilfe nicht dem Zweck diene, dem Betreffenden ein Optimum an beruflichem Fortkommen zu gewährleisten, sondern dem Betreffenden lediglich helfen solle, die Ausübung eines seinen Fähigkeiten entsprechenden Berufes, der gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 3 Eingliederungshilfe-Verordnung dem Betreffenden eine ausreichende Lebensgrundlage biete, zu ermöglichen. Über einen solchen Beruf verfüge die Antragstellerin.

Die Antragstellerin hat am 10.03.2010 Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 17 SO 123/10 geführt wird.

Mit Schreiben vom 18.03.2010 hat sie am selben Tag Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und beantragt,

ihr vorläufig die Kosten für Gebärdensprachdolmetscher, Mitschreibkräfte und Tutoren für ihr Studium der Druck- und Medientechnologie zu bewilligen.

Der Antragsgegner verkenne die Reichweite der Eingliederungshilfe. Diese gewähre Anspruch auf Hilfe zur Erlangung eines angemessenen Berufes. Angemessen bedeute, dass es dem Behinderten möglich sein muss, einen seinen persönlichen Fähigkeiten entsprechenden Beruf zu ermöglichen, auch wenn dieser erst aufgrund eines Hochschulstudiums ausgeübt werden könne. Dies entspreche geltendem Recht und werde zudem durch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, das von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert worden sei, gestützt. Nach Artikel 24 Abs. 5 der UN-Konvention gelte, dass Menschen mit Behinderung ohne Diskriminierung und gleichberechtigt Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung und lebenslangem Lernen haben, wozu die Vertragsstatten Vorkehrungen zu treffen hätten. Eine solche Vorkehrung sei der Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern, Mitschreibkräften und Tutoren.

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Er macht geltend, dass kein Anordnungsanspruch bestehe und verweist insoweit auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Außerdem sei keine Eilbedürftigkeit ersichtlich. Da es die Antragstellerin bislang mit der Durchführung des Studiums nicht eilig gehabt habe, da sie von 2003 bis 2009 berufstätig gewesen sei, sei nicht nachvollziehbar, wieso das Studium so plötzlich begonnen werden solle.

Das Gericht hat einen aktuellen Vorlesungsplan von der Antragstellerin angefordert. Ferner hat es fernmündlich mit dem Beauftragten für Behinderte der Universität X gesprochen, der bestätigt habe, dass die Universität derzeit über keine Hilfen zur Bewältigung des Studiums für Gehörlose verfüge. Derzeit werde aber der Einsatz technischer Geräte geprüft dergestalt, dass der Vortragende in ein umgehängtes Mikrofon spreche und der Text dann auf dem Bildschirm eines Laptops für die Studentin erscheine, allerdings sei zweifelhaft, ob die Universität über die finanziellen Mittel zur Anschaffung verfüge.

Ferner hat das Gericht bei der Vertreterin des Berufsverbandes der Gebärdensprachdolmetscher NRW, Frau I, in Erfahrung gebracht, das der Verband mit den Krankenkassen und den Landschaftsverbänden Verträge abgeschlossen habe, wonach sich die Höhe Vergütung der Gebärdensprachdolmetscher nach den Regelungen des JVEG richte. Seitens des Verbandes wurde auch darauf hingewiesen, dass eine Doppelbesetzung vorzunehmen sei, wenn die Dolmetschertätigkeit länger als eine Stunde betrage oder kürzer sei, aber viele Gesprächsbeteiligte zu dolmetschen seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.

Hinweis:

Einen Fachbeitrag zum Einstweiligen Rechtsschutz finden Sie im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) unter:
http://www.reha-recht.de/fileadmin/download/foren/a/2013/A4-...

Rechtsweg:

LSG NRW Urteil vom 13.08.2010 - L 20 SO 289/10 B ER

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Gründe:

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Antragsteller muss hierfür einen Anordnungsanspruch, d.h. den materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, und einen Anordnungsgrund, d.h. die besondere Dringlichkeit des Begehrens, die ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar erscheinen lässt, glaubhaft machen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Dies bedeutet, dass die den Anordnungsanspruch und den Anordnungsgrund begründenden Tatsachen so dazulegen sind, dass das Gericht von ihrer überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausgehen kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.07.2003, 2 BvR 311/03).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht. Nach Überzeugung der Kammer hat der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch im Hauptsacheverfahren überwiegende Aussichten auf Erfolg, soweit es die Notwendigkeit des Einsatzes von Gebärdensprachdolmetschern und Mitschreibhilfen betrifft. Hinsichtlich der Kostenübernahme für Tutoren hat er keinen Erfolg und war daher abzulehnen.

Nach § 53 Abs 1 Satz 1 SGB Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (XII) erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern und ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen (§ 53 Abs. 3 SGB XII). Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX insbesondere Hilfen zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule. Gemäß § 13 Nr. 5 der aufgrund der Verordnungsermächtigung des § 60 SGB XII erlassenen Eingliederungshilfe-Verordnung (Verordnung nach § 60 SGB XII - Eingliederungshilfe-Verordnung -) umfasst die Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XII auch die Hilfe zur Ausbildung an einer Hochschule oder einer Akademie. Diese Hilfe wird nach § 13 Abs. 2 Eingliederungshilfe-Verordnung gewährt, wenn zu erwarten ist, dass das Ziel der Ausbildung oder der Vorbereitungsmaßnahmen erreicht wird, der beabsichtigte Ausbildungsweg erforderlich ist und der Beruf oder die Tätigkeit voraussichtlich eine ausreichende Lebensgrundlage bieten oder, falls dies wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht möglich ist, zur Lebensgrundlage in angemessenem Umfang beitragen wird.

Diese Voraussetzungen sind bei summarischer Prüfung zur Überzeugung der Kammer zugunsten der Antragstellerin erfüllt.

Unstreitig gehört die Antragstellerin als gehörloser Mensch (§ 1 Nr. 5 Eingliederungshilfe-Verordnung) zum Personenkreis der wesentlich behinderten Menschen im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, so dass der Anwendungsbereich der Vorschriften über die Eingliederungshilfe eröffnet ist.

Das Hochschulstudium eignet sich auch als Ausbildung für einen angemessenen Beruf im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XII.

Welcher Beruf angemessen ist, konkretisiert das Gesetz nicht. Entscheidend sind die körperlichen und geistigen Fähigkeiten und die Leistungsfähigkeiten des Behinderten im Einzelfall (Meusinger in Fichtner/Wenzel, SGB XII, 4. Aufl. 2009, § 54 Rdnr. 69). Dabei ist auf die gesamte Persönlichkeit des Hilfesuchenden und auf sein berechtigtes Interesse an einer befriedigenden beruflichen Tätigkeit abzustellen. Konsequenterweise stellt § 13 Abs. 2 Eingliederungshilfe-Verordnung daher zunächst darauf ab, dass zu erwarten ist, dass das Ziel der Ausbildung - hier der Abschluss des Hochschulstudiums - erreicht wird. Die Kammer geht davon aus, dass der bisherige Bildungsweg der Antragstellerin die Prognose eines erfolgreichen Bildungsabschluss erlaubt. Auch wenn der Abiturdurchschnitt von 2,9 nicht für jeden Studiengang eine im Sinne der Eingliederungshilfe-Verordnung günstige Prognose erwarten ließe, ist dies im Hinblick auf die Einzelnotenverteilung und das hier konkret gewählte Studienfach durchaus möglich, zumal zu berücksichtigen ist, dass die Antragstellerin für das konkrete Studienfach aufgrund ihrer Ausbildung als Mediengestalterin für Digital- und Printmedien - Mediendesign - über eine nicht unerhebliche Vorbildung verfügt.

Da die Antragstellerin auch in ihrem Ausbildungsberuf beschäftigt war und auch noch ist, ist auch nicht zu erkennen, dass sie behinderungsbedingt nicht in der Lage wäre, als Druck- oder Medientechnikerin zu arbeiten und so eine ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen. Nach dem bisherigen Vortrag der Antragstellerin, dem der Antragsgegner übrigens nicht entgegengetreten ist, ist jedenfalls nach vorläufiger Würdigung des Sachverhalts davon auszugehen, dass der Studiengang Druck- und Medientechnologie generell geeignet ist, nach Abschluss einen Arbeitsplatz zu erhalten. Wie aus den vorliegenden Unterlagen der Arbeitsagenturen zu entnehmen ist, arbeiten Ingenieure der Druck- und Medientechnik vorwiegend in Betrieben der Informations- und Kommunikationswirtschaft, z.B. in Verlagen und größeren Druckereien, bei Softwarefirmen, PR- und Werbeagenturen, Herstellern von Druckmaschinen oder auch in der Verpackungsmittelherstellung. Beschäftigungsmöglichkeiten finden sie zudem bei öffentlich-rechtlichen und privaten Fernseh- und Hörfunksendern sowie bei Film- und Fernsehproduktionsfirmen, im Fachhandel für das grafische Gewerbe und in der Anlageplanung im drucktechnischen Bereich. Insgesamt stellt dies ein großes und zudem relativ krisensicheres Arbeitsfeld dar.

Aber auch die weitere Voraussetzung des § 13 Abs. 2 Eingliederungshilfe-Verordnung, dass der beabsichtigte Ausbildungsweg erforderlich ist, ist nach Auffassung der Kammer erfüllt.

Dabei weist das Gericht darauf hin, dass diesem Merkmal eine andere Bedeutung zukommt, als es die Auslegung durch den Antragsgegner ergibt. Das Merkmal der Erforderlichkeit stellt allein darauf ab, dass der konkret beabsichtigte Ausbildungsweg zur Erreichung des beabsichtigten Bildungsabschlusses erforderlich ist. Damit soll vermieden werden, dass bei unterschiedlichem Bildungsweg für ein und dasselbe Bildungsziel der Bildungsweg gewählt wird, der kostenintensiver oder eben auf Kosten des Sozialhilfeträgers geht, wie es beispielsweise der Fall ist, wenn ein- und derselbe Beruf durch eine schulische oder eine betriebliche Ausbildung erlangt werden könnte, wenn sogar für Letztere ein anderer Träger (Bundesagentur für Arbeit) zuständig wäre. In einem derartigen Fall könnte die schulische Ausbildung u.U. nicht erforderlich im Sinne der Eingliederungshilfe sein. Die Erforderlichkeit ist daher immer zu messen an dem konkreten Ausbildungsweg zum konkreten Bildungsziel. An dieser Stelle ist jedoch nicht zu prüfen, ob überhaupt noch eine Ausbildung in Betracht kommt, weil beispielsweise aus Sicht des Eingliederungshilfeträgers bereits die Integration in den Arbeitsmarkt gelungen sein soll. Diese Argumentation mag zutreffen für die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 5 Nr. 2 SGB IX), nicht aber für Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Vor allem aber ist dies eine Frage der "Angemessenheit" des angestrebten Berufes und dort zu prüfen, nicht aber im Rahmen der Erforderlichkeit.

Bezogen auf den hier zu entscheidenden Fall ist das Hochschulstudium erforderlich für einen späteren Ingenieursberuf. Das Studium endet zunächst mit dem Grad des Bachelors, an den sich üblicherweise ein Master-Studiengang anschließt. Allerdings ist nach den vorliegenden Unterlagen der Universität zum konkreten Studiengang schon davon auszugehen, dass allein mit dem Bachelor bereits der Berufseinstieg möglich ist. Es ist der Kammer nicht bekannt, dass ein vergleichbarer Abschluss (sowohl nach Grad des Abschlusses als auch nach inhaltlichen Anforderungen) durch eine andere Ausbildung erlangt werden kann. Zwar hat der Antragsgegner behauptet, es wäre "in jedem Fall die Arbeitsverwaltung für die Förderung der beruflichen Weiterbildung" zuständig. Aus welchem Grunde das hier der Fall sein sollte, hat der Antragsgegner aber nicht dargelegt. Sollte der Antragsgegner damit meinen, dass der von der Antragstellerin begehrte universitäre Abschluss und der gesamte Studieninhalt durch eine andere Form der Ausbildung ebenso zu erlangen wäre, für die dann die Bundesagentur für Arbeit zuständig wäre, steht es dem Antragsgegner frei, dies dezidiert darzulegen und nachzuweisen.

Da die Voraussetzungen der Eingliederungshilfe-Verordnung für Eingliederungshilfe in der individuell erforderlichen Form erfüllt sind, könnte eine Versagung der Eingliederungshilfe nur in Betracht kommen, wenn der beabsichtigte Beruf, dem das Hochschulstudium dient, nicht angemessen im Sinne der §§ 53 Abs. 3, 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XII wäre. Die Kammer ist allerdings der Auffassung, dass der angestrebte Beruf des Bachelors für Druck- und Medientechnologie angemessen im Sinne der Eingliederungshilfe ist.

Wie bereits dargelegt, konkretisiert das Gesetz nicht, welcher Beruf im Einzelfall angemessen ist. Entscheidend sind die die körperlichen und geistigen Fähigkeiten und die Leistungsfähigkeiten des Behinderten im Einzelfall (s.o.). Dabei ist auf die gesamte Persönlichkeit des Hilfesuchenden und auf sein berechtigtes Interesse an einer befriedigenden beruflichen Tätigkeit abzustellen. Denn im Mittelpunkt der Eingliederungshilfe steht, dem Behinderten ein selbstbestimmtes Leben und eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen und eine Benachteiligung gegenüber nichtbehinderten Menschen zu vermeiden (s. auch § 1 Satz 1 SGB IX).

Im SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) gilt der Grundsatz, dass der Begriff Selbstbestimmung das Ziel der gleichberechtigten Teilhabe dahingehend ergänzt, dass die Form, in der die Teilhabe gestaltet wird, möglichst weitgehend selbst bestimmt wird (Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX, 3. Aufl. 2010, § 1 Rdnr. 12 m.w.N). Dieser Grundsatz gilt auch im Bereich des SGB XII. Lediglich unter den Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 SGB XII kann sich Abweichendes ergeben. Danach gelten für die Leistungen zur Teilhabe die Vorschriften des Neunten Buches, soweit sich aus dem SGB XII und den auf Grund des SGB XII erlassenen Rechtsverordnungen nichts Abweichendes ergibt. Eine Abweichung ist im SGB XII aber nicht ersichtlich.

Bereits der oben dargelegte elementare Teilhabegrundsatz wird vom Antragsgegner verkannt, wenn er die Auffassung vertritt, dass Eingliederungshilfe nicht erforderlich sei, wenn eine Integration in den Arbeitsmarkt gelungen sei, weil der Behinderte bereits einen Beruf gefunden habe, in dem er seinen Lebensunterhalt verdienen könne. Denn gleichberechtigte Teilhabe kann nur bedeuten, dass der Behinderte die gleichen Chancen auf Bildung und Ausbildung wie der Nichtbehinderte hat. Die gängigen Bildungswege zur Erlangung eines Berufes müssen Behinderten wie Nichtbehinderten offen stehen. Wenn es zudem immer noch der Lebens- und Rechtswirklichkeit entspricht, dass für viele Berufe ein akademischer Abschluss zwingend ist oder gefordert wird, kann niemandem - weder dem Behinderten noch dem Nichtbehinderten verwehrt werden, sich eben jene erforderliche Qualifikation zu verschaffen, es sei denn es gelten objektive Zulassungsbeschränkungen (Numerus clausus etc), die aber den Anspruch von Behinderten und Nichtbehinderten gleichermaßen einschränken.

Für das Hochschulstudium muss dabei nicht nur die Möglichkeit bestehen, einen Studienplatz zu erlangen sondern auch die Chance, das Studium durchziehen zu können. Das hat die Antragstellerin nicht, wenn ihr der Gebärdensprachdolmetscher verwehrt wird. Wird Hilfe oder werden Hilfsmittel für die Dauer des Studiums allein aufgrund der Behinderung benötigt, müssen diese gewährt werden, solange es ausschließlich um Eingliederungshilfe und nicht um Bestreiten des Lebensunterhaltes geht (s. hierzu LSG NRW, Beschl. v. 19.03.2007, L 20 B 133/06 SO ER). Beschränkungen können sich nur noch aus dem Fehlen persönlicher Voraussetzungen ergeben, wie sie bspw. in § 13 Abs. 2 Eingliederungshilfe-Verordnung definiert sind. Einem Behinderten dieses Interesse an dem Durchlaufen des Bildungsweges abzusprechen, indem Eingliederungshilfe versagt wird, weil mit der vorhandenen Ausbildung bereits der Lebensunterhalt bestritten werden könne, stellt eine Benachteiligung aufgrund der Behinderung dar. Insofern ist die Rechtsansicht des Antragsgegners diskriminierend und damit grundrechtswidrig.

Die Kammer hat im Falle der Antragstellerin keine Bedenken, den anvisierten Beruf des Ingenieurs in Druck- und Medientechnologie als angemessen anzusehen. Der Tätigkeitsbereich des Ingenieur in Druck- und Medientechnologie unterscheidet sich deutlich von dem Bereich, den die Antragstellerin in ihrem Ausbildungsberuf abdecken kann. Zudem geht die Kammer davon aus, dass der Antragstellerin nach erfolgreichem Studienabschluss andere Verdienstmöglichkeiten offenstehen als ihr das bislang möglich war.

Auch der Hinweis, dass die Antragstellerin bereits über eine Erstausbildung verfüge und das Studium deshalb nicht erforderlich sei, vermag nicht zu überzeugen. Sollte der Antragsgegner damit meinen, dass das Studium eine "Zweitausbildung" sei, so dass aus diesem Grunde Eingliederung nicht objektiv erforderlich sei, muss der Antragsgegner darauf hingewiesen werden, dass ein Hochschulstudium etwas grundsätzlich anderes als ein Ausbildungsberuf ist (s.o.); so dass es auf die Begrifflichkeit "Erst- und Zweitausbildung" nicht ankommt.

Das oben dargestellte Auslegungsergebnis zur "Angemessenheit" eines Berufes im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XII unter Berücksichtigung des Teilhabebegriffes und des grundrechtlichen Diskriminierungsverbotes wird durch den von der Antragstellerin zitierten Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, das zwischenzeitlich von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde, vollumfänglich gestützt. Allerdings wird der Anspruch der Antragstellerin nicht erst durch die UN-Konvention geschaffen sondern ergibt sich bereits aus klaren Regelungen des Zwölften und Neunten Sozialgesetzbuch.

Hinsichtlich des Einsatzes von Gebärdensprachdolmetscher und Mitschreibkräften ist auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Hierfür müssen schwere und unzumutbare Nachteile geltend gemacht werden, die durch ein bereits anhängiges Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen sind (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.12.2006, Az.: L 20 B 291/06 AS ER). Dies ist im Hinblick auf das bereits laufende Semester unzweifelhaft der Fall. Zudem kann die Kammer im Hinblick auf eine Vielzahl älterer Verfahren und auf noch durchzuführende Ermittlungen (s.u.) nicht gewährleisten, dass das Hauptsacheverfahren unverzüglich abgeschlossen werden könnte. Im Übrigen erlaubt sich die Kammer den Hinweis, dass die Ausführungen des Antragsgegners zum Fehlen eines Anordnungsgrundes so dermaßen neben der Sache liegen, dass sich ein weiteres Eingehen hierauf erübrigt.

Eine tatsächliche Vorwegnahme der Hauptsache ist in der vorläufigen Regelung durch das Gericht grundsätzlich nicht zu sehen, da sich im Falle der Erfolglosigkeit des Hauptsacheverfahrens eine Rückzahlungspflicht der Antragstellerin ergäbe. Aber selbst wenn man in der vorläufigen Regelung eine Vorwegnahme der Hauptsache sähe, wäre diese wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) gerechtfertigt. Danach ist von dem Grundsatz eine Abweichung geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung nicht mehr in der Lage wäre (BVerfGE 79, 69, 74; LSG NRW, Beschl. v. 01.12.2005 - L 9 B 22/05 SO ER -, v. 02.05.2005 - L 19 B 7/05 SO ER -, v. 20.04.2005 - L 19 B 2/05 AS ER).

Hinsichtlich der Höhe und des Umfanges der zu gewährenden Hilfe hat das Gericht unter Berücksichtigung des Wesens einer einstweiligen Anordnung als vorläufiges Rechtsschutzverfahren eine Interessensabwägung zwischen den Belangen der Antragstellerin und denen des Antragsgegners vorgenommen. Danach war es geboten, der Antragstellerin im Hinblick auf das laufende Semester Gebärdensprachdolmetscher zuzuerkennen, denn andernfalls wäre zu befürchten, dass auch dieses Semester recht erfolglos verläuft. Auch wenn die Antragstellerin keine Studiengebühren zu zahlen hat, ist ihr im Hinblick auf den Umstand, dass sie den Lebensunterhalt selbst finanziert, ein weiteres Abwarten und ein weiteres verlorenes Semester finanziell nicht zuzumuten.

Die Interessenslage gebietet es aber nicht, eine Verpflichtung des Antragsgegners über das 1. Semester hinaus bzw. bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens auszusprechen. Die Bejahung der Anspruchsvoraussetzungen im Sinne des glaubhaft gemachten Anordnungsanspruches beruht sowohl hinsichtlich des erwartbaren positiven Studienabschlusses wie auch der angenommenen beruflichen Perspektive auf einer Prognose, der die zum gegenwärtigen Zeitpunkt bekannten Umstände zugrunde liegen. Dies rechtfertigt es nicht, eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Kostenübernahme in dem im Hauptantrag begehrten Umfang bis zum Abschluss des Studiums oder bis zur Hauptsacheentscheidung auszusprechen. Vielmehr ist es der Antragstellerseite zuzumuten wie aber auch zuzugestehen, die prognostizierten Erfolgsaussichten insbesondere bezüglich des Studiums im Laufe des Studienfortganges zu verifizieren und aktuelle Änderungen, beispielsweise auch bezüglich eines erhöhten Hilfebedarfes für die folgenden Semester gegenüber dem Antragsgegner und gegebenenfalls auch bei Gericht geltend zu machen. Der gebotene effektive Rechtsschutz ist durch die Verpflichtung des Antragsgegners im ausgesprochenen Umfang einstweilen gewahrt.

Im Umfang der Wochenstundenzahl hat sich die Kammer an die Angaben der Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 14.04.2010 gehalten.

Im Hauptsacheverfahren wird sicherlich noch zu prüfen sein, ob nicht andere - günstigere - Mittel, die eine Teilhabe eben so ermöglichen wie der Einsatz eines Gebärdensprachdolmetschers, in Betracht kommen. So wird zu prüfen sein, ob das Vorlesungen und sonstige Veranstaltungen nicht mittels Einsatzes einer Mikroport-Anlage bewältigt werden können. Dabei meint die Kammer entgegen der Auffassung der Antragstellerin keine akustische Anlage sondern denkt vielmehr an Spracherkennungshard- und -software. Nach den Recherchen der Kammer scheint dies im Einzelfall durchaus in Betracht zu kommen. Die Kammer geht hierbei davon aus, dass das Integrationsamt des Antragsgegners diesbezüglich sicherlich über ausreichende Erfahrung verfügt.

Die Übernahme der Kosten für studentische Mitschreibkräfte ist ebenso erforderlich wie die Kostenübernahme für Gebärdensprachdolmetscher, da die Antragstellerin nicht gleichzeitig auf den Dolmetscher schauen und schreiben kann. Die Stundenzahl ist für die Kammer jedoch nicht absehbar, daher hat sie die Stunden nach Bedarf zuerkannt.

Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, auch die Kosten für einen Tutor zu übernehmen, war dagegen abzulehnen. Hierzu hat das Gericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch gesehen. Dies liegt daran, dass der Vortrag der Antragstellerin hierzu unklar ist: Einerseits hat sie den Veranstaltungsplan des 2. Semesters (für das Sommersemester 2010) vorgelegt. Andererseits hat sie in den Schriftsätzen vom 06.04.2010 und 07.04.2010 vorgetragen, dass durch die fehlende Eingliederungshilfeleistungen Gebärdensprachdolmetscher und Mitschreibkraft Vorlesungen nicht besucht und an Prüfungen / Klausuren nicht teilgenommen worden sei. Demnach dürfte davon auszugehen sein, dass sämtliche Veranstaltungen des 1. Semesters wiederholt werden müssen. Dann aber kann die Notwendigkeit des Einsatzes eines Tutors derzeit nicht erkannt werden. Denn es ist hier nicht dargetan, dass und inwieweit behinderungsbedingte Nachteile bestehen, die nur durch den Einsatz eines Tutors auszugleichen wären. Gerade unter Berücksichtigung der beruflichen Vorbildung der Antragstellerin dürfte zu erwarten sein, dass der Stoff des ersten Semesters mittels Gebärdendolmetscher und Mitschreibhilfe zu bewältigen sein wird. Das Gericht hält jedenfalls im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Regelung hierfür nicht für erforderlich und verweist darauf, dass die erforderliche Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben kann. In diesem wird dann zu prüfen sein, ob behinderungsbedingt Lern- und Wissensdefizite bestehen, die den Einsatz eines Tutors benötigen. Sollten sich dagegen im laufenden Semester behinderungsbedingt Lern- und Wissensdefizite ergeben, die den Einsatz eines Tutors erfordern, kann die Antragstellerin den Anspruch und die Dringlichkeit jederzeit bei dem Antragsgegner geltend machen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antrag der Antragstellerin ganz überwiegend Erfolg hatte.

Referenznummer:

R/R3322


Informationsstand: 22.04.2010