Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch im Übrigen zulässig und als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage
gem. § 54
Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) statthaft.
Die Klage ist auch begründet, da die Klägerin Anspruch auf Übernahme der Vergütung für Wohnangebote in der dem S tatsächlich geschuldeten Höhe von 88,41
EUR täglich hat.
Dieser Anspruch beruht auf
§§ 53 Abs. 1 und 4,
54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII,
55 Abs. 2 Nr. 6,
41 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) i. V. m. §§ 17
Abs. 2 Satz 1, 9
Abs. 2 Satz 1 und 3
SGB XII.
Die Klägerin gehört zu den nach
§§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII,
2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX leistungsberechtigten Personen. Sie hat dem Grunde nach
u. a. Anspruch auf vollstationäre Eingliederungshilfe nach Maßgabe von
§§ 55 Abs. 2 Nr. 6,
41 SGB IX in Form der Übernahme der Kosten einer Unterbringung im Wohnbereich einer Einrichtung mit angeschlossener Werkstätte für behinderte Menschen. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig, auch für das Gericht ist der Sachverhalt insoweit nicht zweifelhaft.
Da die einschlägigen Vorschriften über die Eingliederungshilfe das Ermessen nicht ausschließen, ist gemäß § 17
Abs. 2 Satz 1
SGB XII über Art und Maß der Leistungserbringung - und damit insbesondere über die hier zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, welche Einrichtungskosten zu übernehmen sind - nach pflichtmäßigem Ermessen zu entscheiden. Bei der Ermessensausübung ist
u. a. § 9
Abs. 2
SGB XII zu beachten. Hiernach ist den Wünschen des Leistungsberechtigten zu entsprechen, soweit diese angemessen sind (Satz 1
a. a. O.). In der Regel soll der Träger der Sozialhilfe Wünschen nicht entsprechen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre (Satz 3
a. a. O.). Auf den nach § 9
Abs. 2
SGB XII vorzunehmenden Kostenvergleich kommt es nur an, wenn überhaupt vergleichbare Alternativen der Bedarfsdeckung bestehen und dem Leistungsberechtigten zumindest eines der von ihm nicht gewünschten Angebote auch zumutbar ist (
LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 2.9.2010, Az. L 7 SO 1357/10 ER-B, (juris), m. w. N.).
Ausgehend von diesen rechtlichen Grundsätzen ist zunächst festzustellen, dass unstreitig vergleichbare Alternativen zu der von der Klägerin gewünschten und gewählten Wohnung und Beschäftigung im S in Gestalt der A-Werkstätten mit Wohnheim (OB und OG) sowie in Einrichtungen der Lebenshilfe in K und SH bestehen. Auch vermag das Gericht diese Einrichtungen - bei allen Bedenken dagegen, ob einem behinderten Menschen jenseits des Kindesalters eine länger als nur kurzfristige Wohnunterbringung ohne Rückzugsmöglichkeit in ein Einzelzimmer überhaupt zuzumuten ist - nicht als schlechthin für die Klägerin unzumutbar anzusehen. Das Gericht verkennt dabei ebensowenig, dass nach Lebensalter und Art der Behinderung differenzierende Wohngruppen und moderne sowie ansprechende Arbeitsplätze in den Werkstätten wünschenswert sind und dass die vom Beklagten vorgeschlagenen Alternativen in dieser Hinsicht die Erwartungen der Klägerin nicht befriedigen. Grundsätzlich verfügen aber auch diese Alternativeinrichtungen über Einzelzimmer, wenn auch in begrenzter Anzahl, und sie streben eine differenzierende, den individuellen Bedürfnissen der Bewohner besser gerecht werdende Gestaltung des Wohn- und Arbeitsbereichs an. Mit hoher Wahrscheinlichkeit könnte die Klägerin daher auch in einer der vom Beklagten vorgeschlagenen Alternativeinrichtungen menschenwürdige Unterkunft finden und adäquat beschäftigt werden. Die Vertreter der Klägerin haben dem Gericht zwar nachvollziehbar dargelegt, dass und aus welchen Gründen die Klägerin das Angebot des S vorzieht. Diese Gründe sind auch zu achten und rechtlich erheblich, dazu sogleich. Die Unzumutbarkeit der Unterbringung in einer der alternativen Einrichtungen ergibt sich aus diesem Vortrag aber nicht. Dies mag die hypothetische Überlegung erhellen, dass sich die Klägerin der Möglichkeit einer Aufnahme dort wohl nicht verschließen würde, wenn das S als Einrichtung nicht existierte.
Danach ist die Verhältnismäßigkeit der durch die Unterbringung im S entstehenden Mehrkosten maßgeblich. Diese Prüfung führt zum Ergebnis, dass die Mehrkosten angemessen im Sinne von § 9
Abs. 2 Satz 1
SGB XII erscheinen, der Beklagte mithin - mangels durchgreifender entgegenstehender Ermessensgesichtspunkte - im Wege der Ermessensreduzierung auf Null verpflichtet ist, der Klägerin Eingliederungshilfe unter Einschluss dieser Mehrkosten zu gewähren.
Ausgangspunkt der Angemessenheitsprüfung ist ein mathematischer Kostenvergleich. Dabei ist fraglich, ob die Werkstattkosten - welche erst bei einem allfälligen Wechsel der Klägerin vom Eingangsbereich in den Arbeitsbereich zukünftig dem Beklagten zur Last fallen würden - überhaupt zu berücksichtigen sind. Ausgehend von den vom Beklagten selbst ermittelten Beträgen von 780
EUR monatlich (A-Werkstätten)
bzw. 820
EUR (S) unterschreiten die Mehrkosten von 40
EUR monatlich aber sogar noch die beim Besuch der A-Werkstätten anfallenden Sondertransportkosten von bis zu 50
EUR monatlich. Der Kostenvergleich kann sich daher auf die aktuell allein anfallende Wohnheimvergütung beschränken. Diese liegt im S bei 88,41
EUR, während sie in den A-Werkstätten lediglich 76,21
EUR betragen würden. Dies entspricht einem Mehrbetrag von nur 16% und nicht etwa, wie vom Beklagten angenommen, von über 20%.
Es gibt keine feste mathematische Grenze, bis zu der Mehrkosten angemessen sind. Vielmehr ist, wie vom Beklagten im Widerspruchsbescheid zutreffend ausgeführt, eine Abwägung der Mehrkosten im konkreten Fall mit dem Gewicht des vom Leistungsberechtigten geltend gemachten Wunsches und seiner individuellen Situation vorzunehmen, wobei der Wunsch des Leistungsberechtigten umso bedeutsamer ist, je mehr er seiner objektiven Bedarfssituation entspricht (
BVerwG, Beschl. v. 18.8.2003, Az. 5 B 14/03, (juris)). Bei Durchsicht der einschlägigen Rechtsprechung und Kommentarliteratur fällt jedoch bereits auf, dass eine Unangemessenheit der Mehrkosten - soweit ersichtlich - bislang noch keinem Fall angenommen wurde, wenn diese die Marke von 20% nicht erreichten. So wurden zwar etwa Mehrkosten von 75% (
BVerwG-Urt. v. 11.2.1982, Az. 5 C 85/80, (juris)) oder 50% (
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.8.1995, Az.: Bs
IV 165/95;
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 7.6.2007, Az. L 8 SO 60/07 ER, (juris)) ohne weiteres als unverhältnismäßig erachtet. Das
VG Münster (Urt. v. 24.4.2006, Az. 5 K 783/04, (juris)) bejahte demgegenüber ohne Abwägung im Detail die Verhältnismäßigkeit von Mehrkosten von 30%. Für den hier relevanten Bereich noch geringerer Mehrkosten kann zum einen ein Beschluss des
OVG Lüneburg vom 16.2.2004 (Az. 4 ME 400/03, (juris)) als Richtschnur dienen. Dort wurden Mehrkosten von 21,24% als unangemessen angesehen. Dabei ist im Vergleich zu dem hier zu beurteilenden Sachverhalt mit Mehrkosten von 16% allerdings erstens festzustellen das die dortigen Mehrkosten immerhin noch um rund 1/3 höher waren. Vor allem aber war nach den Entscheidungsgründen des
OVG Lüneburg die kostengünstigere Einrichtung für den Behinderten objektiv deutlich besser geeignet als die gewünschte. Diese Besonderheit mag ausschlaggebend für die Annahme einer so niedrigen Angemessenheitsgrenze gewesen sein. Eine weitere Entscheidung zu einem vergleichbarem Mehrkostenrahmen fällte das SG Hildesheim am 19.5.2010 (Az.
S 34 SO 212/07, (juris)). In diesem Urteil wurden Mehrkosten von bis zu 29% unter der Voraussetzung noch als angemessen bezeichnet, dass der Wunsch des Behinderten auf nachvollziehbaren Motiven beruht, seiner Lebenssituation entspricht und geeignet ist, den Zielen und Aufgaben der Eingliederungshilfe zu entsprechen. Hat der Träger der Einrichtung (wie auch im vorliegenden Fall) mit anderen Trägern der Eingliederungshilfe eine Vergütungsvereinbarung nach § 75
Abs. 3
SGB XII abgeschlossen, spricht dies nach dieser Entscheidung indiziell ebenfalls dagegen, die entstehenden Mehrkosten von vornherein als unverhältnismäßig anzusehen.
Zusammenfassend lässt sich hieraus ableiten, dass ein mit Mehrkosten um bis zu 30% verbundener Wunsch des Leistungsberechtigten zumindest dann nicht unangemessen ist, wenn er durch auch im Verhältnis zum Umfang der Mehrkosten angemessene nachvollziehbare Motive gerechtfertigt und zur Erreichung der Ziele der Eingliederungshilfe nicht erkennbar schlechter geeignet ist, als das alternative Angebot des Kostenträgers. Je weiter die konkreten Mehrkosten die 30%-Grenze unterschreiten, desto geringere Anforderungen sind an die Wertigkeit der Motive und die Gleichwertigkeit der Eignung der Maßnahme zu stellen. Die hier konkret zu beurteilenden Mehrkosten von lediglich 16% im Rahmen einer Vergütungsvereinbarung nach § 75
Abs. 3
SGB XII mit einem Träger der Eingliederungshilfe aus der gleichen Region wären danach nur dann nicht angemessen, wenn entweder der ihnen zugrunde liegende Wunsch der Klägerin auf Motiven von ganz geringem Gewicht beruhen würde oder die von der Klägerin bevorzugte Einrichtung zur Erreichung der Ziele der Eingliederungshilfe wesentlich schlechter geeignet wäre als die vom Beklagten benannte Alternative. Letzteres ist unstreitig und offensichtlich nicht der Fall. Aber auch die dargelegten Motive für den Wunsch der Klägerin sind so nachvollziehbar, billigenswert und gewichtig, dass sie die konkret anfallenden Mehrkosten rechtfertigen.
So sind sowohl der Wunsch, zeitnah und nicht erst nach einer ungewissen Wartezeit von möglicherweise mehreren Jahren ein Einzelzimmer bewohnen zu können, als auch das Interesse, soziale Kontakte mit Mitbewohnern der gleichen Generation und in etwa vergleichbarer Behinderung leichter aufbauen zu können als in Einrichtungen mit weniger homogenen Wohngruppen, nicht nur menschlich sehr gut nachvollziehbar. Auch die grundrechtlich verbürgte Gewährleistung der Menschenwürde sowie die vom Grundgesetz postulierte Teilhabe und Gleichstellung der Klägerin als behinderter Mensch wird um so leichter und nachhaltiger verwirklicht, je besser ihre Privatsphäre geschützt ist, je größer und abgeschlossener der von ihr autonom zu gestaltende persönliche Lebensbereich ist und je mehr ihr der adäquate soziale Kontakt zu Mitmenschen ihrer Wahl erleichtert wird. Auch der Umstand, dass ihr die Arbeitsplätze im S besser zusagen als die in den alternativen Einrichtungen, ist nicht ohne Bedeutung. Zwar besteht ein Anspruch auf einen weitestgehend den eigenen Wünschen entsprechenden Arbeitsplatz weder in einer Werkstätte für behinderte Menschen noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Wenn aber die Klägerin unter verschiedenen in Betracht kommenden Werkstätten diejenige bevorzugt, die ihren Neigungen am besten entspricht, so verdient diese Entscheidung als grundrechtlich geschützte Wahrnehmung ihrer Berufsfreiheit und allgemeinen Handlungsfreiheit Respekt. Ihr nicht zu folgen bedürfte der Rechtfertigung durch gewichtige Gründe, etwa deutlich höhere Mehrkosten oder die objektive Nichteignung der Einrichtung. Nichts davon ist hier gegeben. Unter Gesamtwürdigung der Motive der Klägerin würde ihr Wunsch nach Überzeugung der Kammer auch noch höhere Mehrkosten rechtfertigen, als hierdurch tatsächlich anfallen,
ggf. bis zu 30%.
Die Tatsache, dass die Klägerin im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung bereits seit einem Jahr im S wohnt und arbeitet und ihr Aufenthalt dort bislang - den Angaben ihrer Betreuer zufolge - ihre Erwartungen in vollem Umfang erfüllt, spricht schließlich als weiterer Ermessensgesichtspunkt mit erheblichem Gewicht dafür, den Wunsch der Klägerin bei der Gewährung der Eingliederungshilfeleistungen zu beachten. Zusammenfassend verdichten sich die maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte dahin, dass der Klägerin im Wege der Ermessensreduzierung auf Null die für die Unterbringung im S erforderlichen Eingliederungshilfeleistungen zu gewähren sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.