Urteil
Berechnung der Fähigkeit eines behinderten Kindes zum Selbstunterhalt - stationäre Unterbringung - erhaltene Verpflegung

Gericht:

FG Saarbrücken 2. Senat


Aktenzeichen:

2 K 107/02


Urteil vom:

08.04.2003


Orientierungssatz:

1. Die Prüfung, ob ein behindertes Kind imstande ist, sich selbst zu unterhalten, hat zumindest in Fällen, bei denen ein davor- oder nachfolgendes Kalenderjahr hinsichtlich eines nachträglichen Zuflusses oder des Entfallens der Leistungen nicht tangiert ist, jahresbezogen zu erfolgen.

2. Bei einem teilstationär zu Lasten von Sozialleistungsträgern untergebrachten Kind mindert sich der am Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG orientierende Grundbedarf um die anhand der Sachbezugsverordnung bewerteten Kosten der Mittagsverpflegung.

3. Revision eingelegt (Az. des BFH: VIII R 34/03).

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

JURIS-GmbH

Tatbestand:

Der Kläger ist der Vater der am x. xxx 1962 geborenen Tochter D, die zu 100 v.H. behindert und teilstationär in einer Werkstatt für Behinderte beschäftigt ist. Im Schwerbehindertenausweis .. . ist u.a. das Merkzeichen "H" (hilflos) eingetragen. Ihr stand im Streitjahr 2001 ein Pauschbetrag für Behinderte in Höhe von 7.200 DM zu (§ 33b Abs. 3 Satz 3 Einkommensteuergesetz - EStG -).

Mit Bescheid vom 23. Oktober 2001 wurde für D ab Oktober 2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von 1.427,49 DM bewilligt. Der um Beitragsanteile zur Kranken- und Pflegeversicherung geminderte Auszahlungsbetrag wurde ab 1. Dezember 2001 auf monatlich 1.312,58 DM festgesetzt. Die Nachzahlung für die Monate Oktober und November 2001 betrug 2.625,16 DM und wurde vorläufig einbehalten. Nach Abzug eines Erstattungsanspruchs der Gemeinde R, die für D Sozialleistungen erbracht hatte, wurden am 9. November 2001 noch 960,83 EUR (entspricht 1.879,22 DM) zur Auszahlung angewiesen.

Mit Bescheid vom 5. März 2002 hat der Beklagte die Kindergeldfestsetzung für November 2001 gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung - AO -aufgehoben, weil die Einkünfte und Bezüge von D den für das Jahr 2001 geltenden anteiligen Jahresgrenzbetrag von (1/12 von 14.040 =) 1.170 DM überschreiten würden. Gleichzeitig wurde das Kindergeld für November 2001 in Höhe von 138,05 EUR (entspricht 270 DM) gemäß § 37 Abs. 2 AO vom Kläger zurückgefordert. Hiergegen hat der Kläger am 3. April 2002 Einspruch eingelegt, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 2002 als unbegründet zurückgewiesen hat. Am 12. Juni 2002 hat der Kläger Klage erhoben.

Er beantragt,

den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 5. März 2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 2002 aufzuheben.

Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, die Einkünfte und Bezüge von D hätten insgesamt 11.433,92 DM betragen. Hieraus errechne sich bei jahresbezogener Betrachtung ein Monatsbetrag von 952,82 DM, der unter dem anteiligen Grenzbetrag von (1/12 von 14.040 DM =) 1.170 DM liege.


Der Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung,

die Klage abzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die beigezogene Kindergeldakte und das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und auch begründet.

1. Seit dem 1. Januar 1996 wird im laufenden Kalenderjahr Kindergeld als Steuervergütung monatlich gezahlt (§ 31 Satz 3 EStG). Als solche unterliegt es, soweit der diesbezügliche X. Abschnitt des EStG in seinen §§ 67 bis 78 keine verfahrensrechtlichen Sonderregelungen enthält, uneingeschränkt den steuerlichen Verfahrensvorschriften der AO (Bundesfinanzhof - BFH -, Beschlüsse vom 27. Juli 1999 VI S 13/99, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs bis einschließlich 1997 / Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs seit 1998 - BFH/NV - 2000, 39 und vom 14. Juli 1999 VI B 89/99, BFH/NV 1999, 1597). Nach § 155 Abs. 6 AO sind die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften auf die Festsetzung des Kindergeldes sinngemäß anzuwenden.

2. Vorliegend ist ausschließlich streitig, ob der Beklagte berechtigt war, die Festsetzung des Kindergeldes für den Monat November 2001 aufzuheben und das für diesen Monat gezahlte Kindergeld zurückzufordern.

2.1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, beim Kindergeld zu berücksichtigen, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 12. November 1996 III R 53/95, BFH/NV 1997, 343). Ist das Kind trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, sich selbst zu unterhalten, d.h. für seinen gesamten notwendigen Lebensunterhalt selbst zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu (BFH, Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, Bundessteuerblatt - BStBl - Teil II 2000, 79 unter Hinweis auf Seewald/Felix in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 63 Rdnr. F 11).

Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 29. Mai 1990 1 BvL 20, 26/84, 4/86, BStBl II 1990, 653). Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld zu gewähren.

Der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen.

Der Grundbedarf kann für das hier zu beurteilende Jahr 2001 mit dem am Existenzminimum eines Alleinstehenden ausgerichteten Betrag von 14.040 DM beziffert werden, der nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG auch für nicht behinderte Kinder gilt. Maßgröße für diesen am Existenzminimum orientierten Betrag ist der im Sozialhilferecht jeweils anerkannte Mindestbedarf. Dieser umfasst neben Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Heizung auch persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu diesem Minimum gehören in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt, die auch die Kontakte zur Familie einschließen, und eine Teilnahme am kulturellen Leben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. November 1998 2 BvR 1057, 1226, 980/ 91, BStBl II 1999, 182). Da es gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG darauf ankommt, ob sich das behinderte Kind "selbst unterhalten" kann, muss auch ihm zunächst ein am Existenzminimum ausgerichteter Betrag als allgemeiner Unterhaltsbedarf zuerkannt werden.
In den Fällen, in denen ein Kind die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG erfüllt, hängt dessen Berücksichtigung für das Jahr 2001 davon ab, dass seine Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, nicht mehr als 14.040 DM betragen (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Bei diesem so genannten Grenzbetrag, der sich an dem pauschalierten Existenzminimum eines Kindes orientiert, handelt es sich um einen Jahresbetrag (Hessisches Finanzgericht - FG -, Urteil vom 13. Mai 1997 2 K 5477/96, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1997, 1261). Einen monatlichen Grenzbetrag gibt es nicht (Niedersächsisches FG, Urteil vom 15. April 1997 VII 614/96, EFG 1997, 1213).

Der Grundbedarf eines behinderten Kindes im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hat sich an diesem Grenzbetrag zu orientieren. Bei teilstationär zu Lasten von Sozialleistungsträgern untergebrachten Kindern wie der Tochter des Klägers sind aber die Kosten der Mittagsverpflegung abzuziehen, da diese bereits im Grundbedarf enthalten sind. Diese Verpflegungskosten können mangels anderer Anhaltspunkte und aus Gründen der Vereinfachung für das Jahr 2001 anhand der Sachbezugsverordnung - SachBezV - vom 7. November 2000 (BStBl I 2000, 1517) mit (12 Monate 144,70 DM =) 1.736,40 DM jährlich bewertet werden.

Die Fähigkeit eines behinderten Kindes zum Selbstunterhalt setzt des Weiteren voraus, dass ein behinderungsbedingter Mehrbedarf anerkannt wird, den gesunde Kinder nicht haben. Zu diesem Mehrbedarf gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden Belastungen, z.B. Wäsche, allgemeine Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen. Erfolgt insoweit kein Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag des § 33b Abs. 1 bis 3 EStG als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (BFH, Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, BStBl II 2000, 79). Dieser beträgt bei behinderten Menschen, die - wie die Tochter des Klägers - hilflos oder blind sind, 7.200 DM jährlich (§ 33b Abs. 3 Satz 3 EStG).

2.2. Dem Gesetz kann nicht unmittelbar entnommen werden, wie die Prüfung, ob sich das Kind selbst unterhalten kann, zu erfolgen hat. Durch § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird nur zum Ausdruck gebracht, dass es dem gesetzgeberischen Willen entspricht, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld zu gewähren.
Der Beklagte hat sich darauf berufen, nach "Weisungslage" seien die Voraussetzungen des § 32 Abs 4 Satz 1 Nr. 3 EStG (= Fähigkeit zum Selbstunterhalt bei Behinderung) grundsätzlich für jeden Kalendermonat zu überprüfen (vgl. Dienstanweisung des Bundesamtes für Finanzen zum Familienleistungsausgleich nach dem EStG - DA-FamEStG - 63.3.6.3.2 Abs. 2 Satz 5 Halbsatz 2). Mit dieser Regelung solle vermieden werden, dass die in einem einzelnen Monat zufließenden Bezüge (wie z.B. hier die Rentennachzahlung) zum vollständigen Wegfall des Kindergeldanspruchs für das gesamte Kalenderjahr führen, obgleich die Unfähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt bis zum Zufluss der Nachzahlung bestanden hat.

Nach Ansicht des Senats hat die Prüfung zumindest in Fällen wie dem Vorliegenden, bei dem ein davor- oder nachfolgendes Kalenderjahr hinsichtlich eines (nachträglichen) Zuflusses (vgl. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) oder des Entfallens von Leistungen (vgl. § 32 Abs. 4 Satz 6 EStG) nicht tangiert ist, jahresbezogen zu erfolgen. Die im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu treffende Entscheidung, ob jemand außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, kann sich nicht nach einer Momentaufnahme richten, sondern muss die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit berücksichtigen, ohne dass hierbei Zufälligkeiten, wie sie sich durch eine Nachzahlung von Einkünften oder Bezügen ergeben, auf die das Kind (bzw. dessen Vertreter) keinen Einfluss hat, eine Rolle spielen dürfen (so auch Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil vom 22. April 2002 II 319/01, EFG 2002, 1311). Im Hinblick auf die Jahresbezogenheit des so genannten Grenzbetrags darf eine von der Verwaltung als Fürsorgemaßnahme gedachte monatsweise Prüfung jedenfalls nicht dazu führen, dass ein für das gesamte Kalenderjahr gegebener Anspruch auf Kindergeld wegen zufälliger Auszahlungsmodalitäten für einen Monat oder einzelne Monate versagt wird.

2.3. Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sind mit dem Ertragsanteil - abzüglich des Werbungskostenpauschbetrages von 200 DM (§ 9a Satz 1 Nr. 3 EStG) - als Einkünfte und mit dem Kapitalanteil - abzüglich der Unkostenpauschale in Höhe von 360 DM - einschließlich der Beiträge zu Versicherungen des Kindes als Bezüge zu erfassen (BFH, Urteil vom 14. November 2000 VI R 52/98, BStBl II 2001, 489).

2.4. Bezogen auf den Streitfall ergibt sich Folgendes: ...
Grundbedarf von D 14.040,00 DM
./. Sachbezug Mittagessen (12 x 144,70 DM) 1.736,40 DM
12.303,60 DM
+ behinderungsbedingter Mehrbedarf 7.200,00 DM
Gesamtbedarf 19.503,60 DM
Einkünfte und Bezüge:
Bruttoarbeitslohn (Bl. 37) 3.620,69 DM
./. Arbeitnehmer-Pauschbetrag 2.000,00 DM 1.620,69 DM
Rente Oktober - Dezember
(3 x 1.427,49 DM) 4.282,47 DM
./. Werbungskosten-Pauschbetrag 200,00 DM
./. Unkostenpauschale 360,00 DM 3.722,47 DM
Leistungen Sozialamt 4.883,33 DM
./. Erstattung aus Nachzahlung 745,94 DM 4.137,39 DM
9.480,55 DM

Summe der Einkünfte und Bezüge 9.480,55 DM

Da die Summe der Einkünfte und Bezüge von 9.480,55 DM unter dem Gesamtbedarf von 19.503,60 DM liegt, war die Tochter des Klägers in 2001 außerstande, sich selbst zu unterhalten. Der Beklagte hat den Anspruch auf Kindergeld (für November 2001) somit zu Unrecht verneint.

3. Nach alledem war der Klage in vollem Umfang zu entsprechen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 Zivilprozessordnung.
Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 1 und 2 Nr. 1 EStG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, weil die Frage, ob bei der Berechnung, ob ein behindertes Kind imstande ist, sich selbst zu unterhalten, eine monats- oder jahresbezogene Betrachtung zu erfolgen hat, soweit ersichtlich vom BFH noch nicht entschieden ist.

Referenznummer:

STRE200370696


Informationsstand: 09.09.2003