Urteil
Förderung eines behinderten Menschen in einer Werkstatt für Behinderte - Berufsbildungsbereich - Einzelbetreuung - Teilnahmekosten - nachgehende Hilfe - Personalschlüssel

Gericht:

SG Stuttgart 17. Kammer


Aktenzeichen:

S 17 AL 6128/01 ER


Urteil vom:

10.05.2002


Orientierungssatz:

1. Ist ein Betreuungsaufwand eines grundsätzlich werkstatttauglichen Behinderten im Verhältnis 1:1 erforderlich, um den Eingliederungserfolg im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für Behinderte sicherzustellen, so kann durch eine interne Vereinbarung zwischen der Werkstatt für Behinderte und dem Landeswohlfahrtsverband bzw dem Landesarbeitsamt, aus der sich ein Betreuungsschlüssel von 1:6 ergibt, und auch durch § 9 Abs 3 S 2 SchwbWV die Verpflichtung zur Übernahme von weiteren Aufwendungen für die Einzelbetreuung nicht abbedungen werden.

2. Aus § 3 SchwbWV ergibt sich keine Zustimmungsverpflichtung eines Fachausschusses zur Aufnahme eines behinderten Menschen in eine Werkstatt für Behinderte.

3. Im Rahmen der einstweiligen Anordnung ist eine Gewährung eines Betreuungsschlüssel von 1:1 nur für die voraussichtliche Dauer der Förderung möglich.

4. Zum Vorliegen eines Anordnungsgrundes für die Zulässigkeit der einstweiligen Anordnung.

Rechtsweg:

Es liegen keine Informationen zum Rechtsweg vor.

Quelle:

JURIS-GmbH

Das SG Stuttgart hat in seinem Beschluss dem Eilantrag auf Einzelbetreuung im Berufsbildungsbereich einer WfbM für ein Jahr stattgegeben.

Der 1981 geborene Antragsteller ist behindert (Down-Syndrom), leidet an einem Herzfehler und weist autistische Verhaltensweisen auf. Er ist nicht in der Lage zu sprechen, oder sich durch Symbolsprache zu verständigen.
Während seiner Schulzeit in L. besuchte er zwei Praktika von jeweils 3 Wochen in der Werkstatt L.. Diese lehnte eine Aufnahme in den Berufsbildungsbereich ab, da sich nach den Praktika ergeben habe, dass der Antragsteller ohne Begleitung eines Zivildienstleistenden nicht in der Lage sei, in der Werkstatt zu arbeiten. Sie befürwortete daher die Aufnahme des Antragstellers in den Förder- und Betreuungsbereich der Werkstatt.
Daraufhin wandte sich der Antragsteller an die Werkstatt in P. und absolvierte dort jeweils zwei Praktika von insgesamt drei Wochen. Dort wurde seine Aufnahme in den Berufsbildungsbereich von der Werkstatt befürwortet. Der Antragsteller sei bei einem Betreuungsverhältnis von 1:1 zwischen Fachkraft und Behinderten in der Lage, ausdauernd, motiviert und fleißig zu arbeiten. Er dürfe allerdings nicht allein gelassen werden. Dann könne es vorkommen, dass er Gegenstände von den Tischen werfe und sich leichtfertig größeren Maschinen nähere oder Essen auf den Boden schütte. Mit diesem Verhalten sei er eine Gefahr für sich und andere, so dass eine 1:1 Betreuung unabdingbar sei. Diese werde jedoch nur für einen vorübergehenden Zeitraum von ca. einem Jahr benötigt, da man sein Verhalten bei konsequenter Führung und Anleitung ändern könnte. Er benötige eine reizarme Arbeitsumgebung, die nach und nach an einen üblichen Arbeitsplatz angepasst werden müsse. Begleitend seien soziale Trainingsmaßnahmen und in den Arbeitsalltag integrierte Körper- und Wahrnehmungsübungen erforderlich sowie regelmäßige Phasen aktiver Entspannung, um Überforderungssituationen nicht entstehen zu lassen. Diesen zusätzlichen Betreuungsbedarf veranschlagte die Werkstatt mit Mehrkosten von insgesamt 1.500 DM.

Im Mai 2001 erstellte das zuständige Arbeitsamt einen Eingliederungsplan für eine Aufnahme in die Werkstatt in P., hielt jedoch ein Eingangsverfahren nicht für erforderlich. Die Kosten würden bis zu der Höhe übernommen, wie sie bei einem Besuch der WfbM in L. entstehen würden. Danach teilte der LWV Baden mit, dass er im Fachausschuss einer Aufnahme nicht zustimmen werde, da der Wohnort des Antragstellers nicht zum Einzugsgebiet der WfbM in P. gehöre, und für ihn der LWV Württemberg-Hohenzollern zuständig sei.

Im August 2001 beantragte der Betreuer des Antragstellers die Übernahme der Kosten einer notwendigen Einzelbetreuung im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG für ein Jahr in Höhe von 1.500 DM mtl. zwecks Aufnahme in den Berufsbildungsbereich der WfbM in P.. Dieser Antrag wurde von dem LWV an das Arbeitsamt weitergeleitet, das im Oktober 2001 die Übernahme von zusätzlichen Betreuungskosten ablehnte. Eine Kostenübernahme könne nur in dem Umfang erfolgen, in dem mit dem Landesarbeitsamt eine Kostensatzvereinbarung abgeschlossen worden sei. Die WfbM sei daher nicht berechtigt, dem Antragsteller gegenüber Mehrkosten geltend zu machen.

Daraufhin beantragte der Antragsteller im Dezember 2001 bei dem SG Stuttgart den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Dieser kam das Gericht im Mai 2002 nach. Der Antragsteller habe schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht, aufgrund der im Rahmen des Eilverfahrens gebotenen summarischen Prüfung einen Anspruch auf individuelle Förderung der beruflichen Rehabilitation im Betreuungsverhältnis 1:1 in der WfbM in P. zu haben.
Ein Rechtsanspruch auf Förderung in einer WfbM bestehe nach § 136 Abs. 2 SGB IX unabhängig von Art und Schwere der Behinderung, soweit Werkstatttauglichkeit gegeben sei. Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, dass der Antragsteller trotz seiner schweren körperlichen und geistigen Behinderung werkstattfähig sei und im Berufsbildungsbereich der Werkstatt gefördert werden solle und könne. Grundsätzliche Werkstatttauglichkeit sei von dem Klassenleiter im Zeugnis nach den Praktika bestätigt worden.
Auch die Antragsgegnerin habe in ihrem Bescheid vom 01.10.2001 dargelegt, dass grundsätzlich eine Kostenzusage für eine Maßnahme im Berufsbildungsbereich der Werkstatt auf Grundlage des von ihr selbst erstellten Eingliederungsplans erfolgen könne. Sie habe ausdrücklich auf die Durchführung eines Eingangsverfahrens verzichtet.
Streit- und Verfahrensgegenstand sei allein die Frage, in welchem Umfang die Förderung des Antragstellers in personeller Hinsicht zu erfolgen habe, und in welchem Umfang die Antragsgegnerin insoweit zur Gewährung der Mehrkosten verpflichtet sei. Der Umfang des von der Antragsgegnerin zu gewährenden Leistung ergebe sich aus § 103 i.V.m § 109 SGB III. Danach umfasse die nach § 102 SGB III zu gewährenden besonderen Leistungen auch die Übernahme der Teilnahmekosten für eine Maßnahme, sofern diese durch die Maßnahme unmittelbar bedingt sind. Dazu zählen nach § 109 Abs. 1 Ziff. 8 SGB III auch weitere Aufwendungen, die wegen der Art oder Schwere der Behinderung unvermeidbar entstehen (vgl. Niesel, Kommentar zum SGB III, § 109, Rd.-Nrm. 10 - 12). Diese Vorschrift enthalte eine § 56 Abs. 2 Ziff. 6 AFG entsprechende Generalklausel, die die Arbeitsämter ermächtige, neben den in Abs. 1 Ziff. 1 bis 7 vorgesehenen Kosten weitere Aufwendungen zu erbringen. Dies könnten sog. nachgehende Hilfen sein, die als zusätzliche bzw. unterstützende Hilfen zu der eigentlichen Leistung hinzutreten, um den Eingliederungserfolg zu sichern.
Aufgrund dieser Rechtsgrundlage könne die Antragsgegnerin verpflichtet werden, weitere Aufwendungen in Form eines Betreuungsaufwands von 1:1 (Einzelbetreuung) zu gewähren. Die Aufwendungen seien unvermeidbar aufgrund der Art bzw. Schwere der Behinderung des Antragstellers. Dieser benötige aufgrund seiner autistischen Verhaltensweisen eine besondere Betreuungsperson, ohne die der Eingliederungserfolg nicht gesichert werden könne.
Dem stehe auch nicht die Kostensatzvereinbarung zwischen Werkstatt und Landesarbeitsamt entgegen, die lediglich einen Personalschlüssel von 1:6 für den Berufsbildungsbereich vorsehe. Dieses sich aus § 9 Abs. 3 Satz 2 der Werkstättenverordnung (WVO) ergebende Zahlenverhältnis für Fachkräfte sei lediglich als Richtzahl angegeben. Je nach Art und Schwere der Behinderung und der Aufgaben in den einzelnen Bereichen könnten die Zahlen durchaus abweichen. Dies könne in Sonderfällen bis zur Einzelbetreuung reichen, aber auch das Doppelte ausmachen (Neumann/Pahlen, Kommentar zum Schwerbehindertengesetz § 9 WVO Rn. 8).

Die Tatsache, dass der LWV Baden einer Aufnahme im Fachausschuss nicht zugestimmt habe, sah das Gericht als unbeachtlich an. Der Antragsteller wohne im regionalen Einzugsgebiet der Werkstatt und könne diese gemäß § 8 Abs. 3 WVO mit öffentlichen oder sonstigen Verkehrsmitteln in zumutbarer Zeit erreichen. Es sei ausreichend, dass die Werkstatt in P. sich bereit erklärt habe, den Antragsteller zu übernehmen, sofern die Kostentragung gesichert sei. Es sei nicht zwingend, dass der Fachausschuss dem zustimmen müsse. Eine Stellungnahme des Fachausschusses müsse nach § 4 Abs. 6 WVO lediglich rechtzeitig vor Beendigung einer berufsfördernden Bildungsmaßnahme vorliegen.

Im Rahmen einer einstweiligen Anordnung sei eine uneingeschränkte Gewährung eines Betreuungsschlüssels von
1:1 jedoch nicht möglich. Es sei sinnvoll, die intensivere Betreuung von der Förderungsdauer abhängig zu machen, die für ein Jahr angesetzt worden sei.

Ein Anordnungsgrund sei gegeben, da behinderte Menschen wie der Antragsteller erlernte Kenntnisse und Fähigkeiten erheblich schneller verlernten als andere Personen mit dem Risiko, dass die im Rahmen des Schulbesuchs des Antragstellers erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten in relativ kurzer Zeit verloren gehen könnten, und eine erneute Förderung von Grund auf erfolgen müsse. Bereits die mehrmonatige Unterbrechung der Förderung des Antragstellers seit Abschluss der Schule habe zu einer Verschlechterung seines Zustands geführt; ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens würde daher mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Nachteile für seine persönliche Entwicklung mit sich bringen.

Verfahrensgang:

nachfolgend LSG Baden-Württemberg vom 14.08.2002 - L 13 AL 2380/02 ER-B

Quelle:
Rechtsdienst der Lebenshilfe 01/03

Referenznummer:

KSRE003741313


Informationsstand: 09.09.2003