Urteil
Eingangsverfahren - Werkstatt für behinderte Menschen

Gericht:

LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat


Aktenzeichen:

L 27 R 240/17


Urteil vom:

14.09.2017


Grundlage:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 9. Februar 2017 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten für das Berufungsverfahren zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Gewährung eines Eingangsverfahrens in einer Werkstatt für behinderte Menschen.

Der 1961 geborene Kläger leidet an einer hirnorganischen Wesensänderung. Seinen Antrag vom 12. März 2012, ihn in eine Werkstatt für behinderte Menschen einzugliedern, lehnte die Beklagte auf der Grundlage der Stellungnahmen der Fachärztin für Chirurgie Dr. K vom 7. Mai 2015 und 12. August 2015 durch Bescheid vom 22. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. November 2015 mit der Begründung ab, es sei nicht zu erwarten, dass der Kläger im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen könne und dass er nach einer Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen voraussichtlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückkehren könne.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Cottbus hat der Kläger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Gewährung eines Eingangsverfahrens in einer Werkstatt für behinderte Menschen begehrt.

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 9. Februar 2017 die Beklagte gemäß dem Klageantrag verurteilt. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Der Kläger habe nach § 16 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI) in Verbindung mit §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe in Form der Durchführung eines Eingangsverfahrens in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Hierfür sei die Beklagte nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX zuständig. Der Kläger erfülle die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 11 und 12 SGB VI. Entgegen der Ansicht der Beklagten seien Leistungen im Eingangsbereich nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX unabhängig von medizinischen Prognosen für den Arbeitsmarkt zu erbringen. Das der Beklagten nach § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB VI eingeräumte Ermessen umfasse nicht die Gewährung der Leistung dem Grunde nach, sondern beschränke sich auf die Wahl der konkreten Werkstatt.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten, die an ihrer Rechtsauffassung festhält.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 9. Februar 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Rechtsweg:

SG Cottbus, Gerichtsbescheid vom 9. Februar 2017 - S 5 R 558/15

Quelle:

Rechtsprechungsdatenbank Berlin

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Die angegriffene Entscheidung des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden. Denn der Kläger hat Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form von Leistungen im Eingangsverfahren in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen.

Der Senat folgt hierbei den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Urteil; hierauf nimmt er Bezug und sieht daher von einer weiteren Darlegung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ab.

Die mit der Berufung vorgebrachten Einwände der Beklagten vermögen eine andere Entscheidung nicht zu rechtfertigen.

Der Anspruch des Klägers ist entgegen der Rechtsansicht der Beklagten nicht an die Erwartung geknüpft, dass spätestens nach der Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistungen erbracht werden kann.

Nach § 39 SGB IX zielen die in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen erbrachten Leistungen darauf ab, die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit der behinderten Menschen zu erhalten, zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen, die Persönlichkeit dieser Menschen weiterzuentwickeln und ihre Beschäftigung zu ermöglichen oder zu sichern. Dieser Zweckrichtung entsprechend sieht § 136 Abs. 2 Satz 1 SGB IX vor, dass die Werkstatt allen behinderten Menschen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können (§ 136 Abs. 1 Satz 1 vor Nr. 1 SGB IX) unabhängig von Art oder Schwere der Behinderung offen steht, sofern erwartet werden kann, dass sie spätestens nach Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen werden. In Übereinstimmung mit dieser Forderung knüpft § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX die Gewährung von Leistungen im Berufsbildungsbereich an die Erwartung, dass der behinderte Mensch nach Teilnahme an diesen Leistungen in der Lage ist, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Sinne des § 136 zu erbringen.

Vorliegend begehrt der Kläger jedoch keine Leistungen im Berufsbildungsbereich, sondern Leistungen im Eingangsverfahren einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen. Anders als der Berufsbildungsbereich ist das Eingangsverfahren nicht darauf ausgerichtet, die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit des behinderten Menschen so weit wie möglich zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen. Es dient vielmehr nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX der Feststellung, ob die Werkstatt die geeignete Einrichtung für die Teilhabe des behinderten Menschen am Arbeitsleben ist sowie welche Bereiche der Werkstatt und welche Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für den behinderten Menschen in Betracht kommen, und der Erstellung eines Eingliederungsplans. Diese Zweiteilung der Leistungsarten in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen hat bereits das Bundessozialgericht (Urteil vom 10. März 1994 - 7 RAr 22/93 -, SozR 3-4100 § 58 Nr. 6, SozR 3-1300 § 31 Nr. 8, Rn. 24 bei juris) auf der Grundlage des § 58 Abs. 1a AFG a.F. betont.

Die Prognose, ob der behinderte Mensch nach Teilnahme an den Leistungen im Berufsbildungsbereich in der Lage sein wird, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Sinne des § 136 SGB IX zu erbringen, ist erst auf der Grundlage der während des Eingangsverfahrens erlangten Erkenntnisse zu treffen, nicht aber bereits im Verfahren des Leistungsträgers über den Antrag auf Gewährung von Leistungen im Eingangsverfahren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.

Referenznummer:

R/R7566


Informationsstand: 15.03.2018