Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 23.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.06.2020 verurteilt, die Kosten für den in Teilzeit zu absolvierenden Fernkurses zum Staatlich geprüften Betriebswirt bei der Studiengemeinschaft ... in der Zeit vom 01.02.2020 bis 31.01.2023 endgültig zu übernehmen bzw den Kläger von den künftig anfallenden Kosten freizustellen und für diese Maßnahme Übergangsgeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nebst Übergangsgeld.
Der 1962 geborene Kläger ist gelernter Groß- und Außenhandelskaufmann. Im Jahre 2008 schloss er eine Weiterbildung zum SAP-/ERP-Spezialisten ab und war anschließend bis 2015 als selbständiger
IT-Berater tätig. Vom 01.05. bis 21.07.2015 übte er eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als
IT-Mitarbeiter (ERP-Berater) aus. Seit 07.07.2015 war er arbeitsunfähig erkrankt. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung von 50 vH festgestellt.
In der Zeit vom 14.06. bis 23.08.2016 absolvierte der Kläger eine stationäre Maßnahme der medizinischen Rehabilitation in der ... Klinik .... Während der Maßnahme bezog er Übergangsgeld und anschließend bis 04.01.2017 Krankengeld.
Am 22.11.2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Sein Antrag wurde mit Bescheid vom 22.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.07.2017 abgelehnt. Die anschließende Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG, Az S 14 R 2687/17) wurde mit Gerichtsbescheid vom 14.03.2019 abgewiesen. Im nachgehenden Berufungsverfahren (Az L 2 R 1337/19) schlossen die Beteiligten in der nichtöffentlichen Sitzung vom 01.08.2019 einen Vergleich, in dem sich die Beklagte zur Gewährung von "Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Berufsfindung /Arbeitserprobung" verpflichtete.
In Ausführung dieses Vergleichs bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 20.08.2019 dem Grunde nach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und mit weiterem Bescheid vom 27.09.2019 eine Maßnahme zur Abklärung der beruflichen Eignung und Arbeitserprobung.
Mit E-Mail vom 10.10.2019 führte der Kläger ua aus, er würde auch eine berufliche Qualifikationsmaßnahme über die Fernschule in ... zum Betriebswirt für Logistik in Betracht ziehen, die in Teilzeit mit mindestens 15 Stunden wöchentlich durchgeführt werde.
In der Zeit vom 04.11. bis 15.11.2019 wurde die Berufsfindungsmaßnahme im Berufsförderungswerk ... (
BFW) durchgeführt. Im Ergebnisbericht zu dieser Maßnahme vom 17.12.2019 wurde dargelegt, dass beim Kläger aus gesundheitlichen Gründen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich seien. Aufgrund des gewonnenen Leistungsprofils könne eine Qualifikation zum geprüften Betriebswirt empfohlen werden. Wegen der geringen Belastbarkeit sei dies derzeit nur im Rahmen einer Teilzeitausbildung bzw in einem Fernstudium vorstellbar. Zusammenfassend sei der Kläger durch seine vielfältigen gesundheitlichen Einschränkungen in der täglichen Arbeitssituation stark eingeschränkt. Ob vor diesem Hintergrund eine berufliche Neuorientierung letztendlich zu einer dauerhaften Integration in den ersten Arbeitsmarkt führen werde, lasse sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschätzen. Der im Rahmen der Maßnahme erstellten ärztlichen Stellungnahme der Fachärztin für Allgemeinmedizin
Dr. ... vom 18.11.2019 ist zu entnehmen, dass der Kläger ua an einer rezidivierenden depressiven Störung und einer mittelgradigen psychosomatischen Störung leide, weshalb eine seelische Minderbelastbarkeit vorliege. Weiter bestünden Belastungs- und Funktionsdefizite des Herz- und Kreislaufsystems, der Atmungsorgane, des Bewegungs- und Stützapparates sowie des Verdauungstraktes. Während der Erprobung sei eine wiederkehrende Erschöpfung augenscheinlich gewesen. Befürwortet würden folgende in Teilzeit durchzuführende Maßnahmen: Staatlich geprüfter Betriebswirt (favorisiert), Kaufmann für E-Commerce, Fachinformatiker für Systemintegration (fachlich weniger geeignet).
Bereits per Fax am 24.11.2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Qualifizierungsmaßnahme zum staatlich geprüften Betriebswirt (Schwerpunkt Logistik) bei der Studiengemeinschaft ... . Die Maßnahme in ... habe zu dem Ergebnis geführt, dass die Teilnahme an diesem Fernstudium (Teilzeitmaßnahme) am besten geeignet sei, ihm die Rückkehr ins Berufsleben zu ermöglichen. Einen erneuten Antrag hierauf zuzüglich weiterer Leistungen stellte der Kläger am 30.12.2019.
Mit Bescheid vom 23.01.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die angestrebte Ausbildung zum Staatlich geprüften Betriebswirt für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt nicht erforderlich sei. Im Beratungsgespräch vom 17.01.2020 seien folgende Alternativen aufgezeigt worden: ein Eingliederungszuschuss für Arbeitgeber, die Teilnahme an einer Reintegrationsmaßnahme in Vollzeit für die Dauer von 9 Monaten bzw ein kompetenzorientiertes Einzelcoaching für die Dauer von bis zu 6 Monaten.
Seit 01.02.2020 absolviert der Kläger in Teilzeit (15 Wochenstunden) den Fernkurs zum staatlich geprüften Betriebswirt bei der Studiengemeinschaft ... .
Gegen den Bescheid vom 23.01.2020 erhob der Kläger Widerspruch und beantragte am 12.02.2020 beim Sozialgericht Heilbronn (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Mit Beschluss vom 24.03.2020 (Az S 5 R 406/20 ER) verpflichtete das SG die Beklagte, dem Antragsteller vorläufig eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form eines in Teilzeit zu absolvierenden Fernkurses zum Staatlich geprüften Betriebswirt bei der Studiengemeinschaft ... und für diese Maßnahme längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig Übergangsgeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Zur Begründung führte das SG aus, der Anordnungsanspruch ergebe sich aus
§ 18 Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Da die Beklagte nicht innerhalb der Frist von zwei Monaten über den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe entschieden habe, gelte die Leistung als genehmigt. Noch vor Beginn der Berufsfindungsmaßnahme habe der Kläger ua in seiner E-Mail vom 10.10.2019 einen konkreten Teilhabewunsch geäußert und den Fernkurs zum Betriebswirt für Logistik vorgeschlagen. Spätestens bei Abschluss der Berufsfindung am 15.11.2019 sei daher vom Vorliegen eines fiktionsfähigen Antrags auszugehen; zu diesem Zeitpunkt habe die Beklagte eine vollständige Entscheidungsbasis für die Gewährung einer konkreten Leistung zur Teilhabe gehabt, sodass die Zweimonats-Frist des § 18 Abs 1
SGB IX spätestens am 15.11.2019 begonnen und am 15.01.2020 geendet habe. Der Ablehnungsbescheid vom 23.01.2020 sei nach Fristablauf erlassen worden. Der Kläger habe sich die Leistung selbst beschafft, indem er den Fernkurs am 01.02.2020 begonnen habe. Für eine rechtsmissbräuchliche Leistungsbeschaffung iSv § 18 Abs 5
SGB IX bestünden keine Anhaltspunkte. Da die Leistung aufgrund des Eintritts der Genehmigungsfiktion zu gewähren sei, folge hieraus auch ein Anspruch auf Übergangsgeld.
Die Beklagte bewilligte mit Ausführungsbescheiden vom 03.04.2020 die streitige Maßnahme und Übergangsgeld und setzte damit den Beschluss des SG um. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.06.2020 wies sie den Widerspruch des Klägers zurück.
Hiergegen richtet sich die am 17.07.2020 zum SG erhobene Klage. Zur Begründung verweist die Bevollmächtigte des Klägers auf die eingetretene Genehmigungsfiktion. Diese habe zur Folge, dass der leistende Rehabilitationsträger zur Erstattung der Aufwendungen für selbstbeschaffte Leistungen verpflichtet sei. Nachdem der Kläger den streitgegenständlichen Fernkurs bereits zum 01.02.2020 begonnen habe, habe er sich auch die Leistungen nach Ablauf der Frist selbst beschafft iSv § 18 Abs 4
SGB IX. Ihm seien die entstandenen Kosten zu erstatten. Ergänzend hat der Kläger eine Teilnahmebescheinigung der Studiengemeinschaft ... sowie einen Leistungsnachweis vom 22.01.2021 vorgelegt. Insbesondere eine Anstellung im öffentlichen Dienst könne durch die aktuell absolvierte Ausbildung unterstützt werden; gerade dort werde Menschen mit entsprechendem Alter und Behinderung ein entsprechender Vorzug gewährt bei der Auswahl der zu besetzenden Stellen. Entgegen den Ausführungen der Beklagten sei der Kläger der geistigen Beanspruchung und der entsprechenden Verantwortungsübernahme in dem Beruf als Betriebswirt gewachsen. Seine Vorkenntnisse im Bereich der
IT seien veraltet, er sei insoweit nicht mehr konkurrenzfähig.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.06.2020 zu verurteilen, die Kosten für die Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form eines in Teilzeit zu absolvierenden Fernkurses zum Staatlich geprüften Betriebswirt bei der Studiengemeinschaft ... zu übernehmen und für die Maßnahme Übergangsgeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Kläger lege nicht dar, warum die per Fernkurs durchgeführte Qualifizierung zum Betriebswirt als einzig mögliche Eingliederungsleistung bestehen solle. Die vom Berufsförderungswerk H bestätigte Schulungsfähigkeit in dem einschränkten Rahmen bedeute noch nicht, dass eine spätere Berufstätigkeit in diesem Bereich zu erwarten sei. Die medizinischen Gründe für die Ausbildung in Teilzeit weckten erhebliche Zweifel an der dauerhaften Eingliederungsfähigkeit des Klägers im neuen Berufsfeld eines Akademikers. Es sei nicht dargelegt, wieso der Kläger in der Ausbildung maximale gesundheitliche Schonung benötige und andererseits einen Beruf anstrebe, dem hohe Anforderungen an Verantwortung und geistiger Beanspruchung immanent seien. Das Berufsförderungswerk habe die entscheidende Frage der Eingliederungsaussicht außer Acht gelassen. Arbeitsmarktnahe Unterstützungsmöglichkeiten böten deutlich schnellere Eingliederungsmöglichkeiten als eine berufliche Neuorientierung für ein nach Abschluss der Maßnahme noch ungefähr fünfjähriges Berufsleben. Aus Sicht der Beklagten reiche das berufliche Vorwissen des Klägers für eine Eingliederung aus. Für andere Maßnahmen habe der Kläger jedoch nicht zur Verfügung gestanden. Das SG habe mit der einstweiligen Anordnung eine zur zügigen Eingliederung nicht geeignete Maßnahme mit weit überdurchschnittlicher Ausbildungsdauer angeordnet. Eine Ermessensreduzierung auf Null komme nicht in Betracht.
Eine Genehmigungsfiktion sei nicht eingetreten. Auch mit Fax vom 24.11.2019 habe der Kläger noch keinen fiktionsfähigen Antrag stellen können, denn beide Seiten seien bis zum Ende der Vergleichsausführung gebunden. Der Bericht über die Maßnahme sei der Beklagten am 19.12.2019 zugegangen. Nach dem Verständnis der Beklagten gehöre zur Ausführung des Vergleichs auch die Möglichkeit, das Ergebnis der Maßnahme auszuwerten, um dann ein zielführendes Beratungsgespräch zu führen. Vor Zugang des Berichts habe die Beklagte nicht mit einer Festlegung des Klägers auf eine bestimmte Maßnahme rechnen müssen. Die vorliegende Konstellation sei nicht mit einem Antrag ohne vorherigen Kontakt der Parteien zu vergleichen. Aus Sicht der Beklagten bestehe zudem wegen § 18 Abs 5
SGB IX keine Erstattungsberechtigung. Der Kläger habe aufgrund des Beratungsgesprächs davon ausgehen müssen, dass eine Bewilligung seines Wunsches nicht erfolgen werde. Bei der verbindlichen Anmeldung zum Studium habe er dies auf jeden Fall wissen müssen.
Am 15.04.2021 hat ein Erörterungstermin mit den Beteiligten stattgefunden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Die form- und fristgerecht (§§ 87, 90 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)) erhobene Klage ist zulässig, und in der Sache begründet. Der angefochtene Bescheid vom 23.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.06.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Kostenerstattung für die selbst beschaffte Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form eines in Teilzeit zu absolvierenden Fernkurses zum Staatlich geprüften Betriebswirt bei der Studiengemeinschaft ... und auf Gewährung von Übergangsgeld in gesetzlicher Höhe für diese Maßnahme. Da die Beklagte die Maßnahmekosten und das Übergangsgeld schon bisher aufgrund der Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz vorläufig gewährt hat (Beschluss des SG vom 24.03.2020, S 5 R 406/20 ER), war nicht auf Kostenerstattung zu tenorieren, sondern auf endgültige Übernahme dieser Kosten einschließlich der Gewährung von Übergangsgeld und für die Zukunft auf Freistellung von den noch anfallenden Kosten für den Fernkurs.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 18 Abs 4 Satz 1
SGB IX (
idF des Art 1 des Gesetzes vom 23.12.2016, BGBl I 3234). Das Rentenversicherungsrecht enthält keine Vorschrift über die Erstattung selbstbeschaffter Teilhabeleistungen. Ob § 18
SGB IX im Leistungsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung unmittelbar oder lediglich analog anzuwenden ist, bedarf dabei keiner Entscheidung (vgl Landessozialgericht (
LSG) Hamburg 29.05.2018,
L 3 R 24/17, juris). § 18 Abs 4 Satz 1
SGB IX verpflichtet den Rehabilitationsträger zur Erstattung der Aufwendungen für selbstbeschaffte Leistungen in Konstellationen, in denen die begehrte Leistung als genehmigt gilt. Als genehmigt gelten Leistungen, über die der leistende Rehabilitationsträger nicht innerhalb von zwei Monaten ab Antragseingang bei ihm entschieden hat (§ 18 Abs 3 Satz 1
iVm Abs 1
SGB IX).
Der Kläger beantragte am 24.11.2019 bei der Beklagten die Gewährung der konkreten Qualifizierungsmaßnahme zum staatlich geprüften Betriebswirt (Schwerpunkt Logistik) bei der Studiengemeinschaft ... (3jähriges Fernstudium in Teilzeit mit 15 Stunden wöchentlich). Die zweimonatige Frist begann danach am 25.11.2019 und endete am 24.01.2020 (vgl § 26 Abs 1
SGB X iVm § 187 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB)). Die Beklagte entschied mit dem angegriffenen Bescheid vom 23.01.2020, der drei Tage nach Absendung und damit am 26.01.2020 als bekanntgegeben gilt (vgl §§ 39, 37 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch
SGB X). Es kommt für das Fristende auf die Bekanntgabe des Bescheides und nicht auf das Datum seines Erlasses an (vgl
BSG 11.07.2017, B 1 KR 26/16 R, SozR 4-2500 § 13 Nr 36;
BSG 11.07.2017, B 1 KR 24/17 R, SozR 4-2500 § 13 Nr 39;
BSG 26.02.2019, B 1 KR 20/18 R). Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids am 26.01.2020 war daher die zweimonatige Entscheidungsfrist bereits abgelaufen, so dass die Leistung nach § 18 Abs 3
SGB IX als genehmigt gilt. Als Folge besteht der Erstattungsanspruch nach § 18 Abs 4
SGB IX. Auf die nach der bisherigen Rechtslage (vgl
§ 15 Abs 1 Satz 3 SGB IX aF) vorhandene Begrenzung auf die Wirtschaftlichkeit und Rechtmäßigkeit, also insbesondere auf die Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit der selbst beschafften Leistung kommt es nicht mehr an. Der Erstattungsanspruch wir nur durch Abs 5 begrenzt (vgl BT-Drs 18/95522 S 238; Jabben in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben,
SGB IX, § 18 Rn 10).
Der Antrag war am 24.11.2019 ausreichend bestimmt gestellt. Während in der E-Mail des Klägers vom 10.10.2019 der Fernkurs zum Betriebswirt erst als Vorschlag geäußert wurde ("in Betracht ziehen"), war der Antrag am 24.11.2019 fiktionsfähig, denn auf Grundlage dieses Antrags ist auch eine fingierte Genehmigung ihrerseits entsprechend den für Verwaltungsakte geltenden Maßstäben im Sinne von § 33 Abs 1
SGB X hinreichend bestimmt (vgl
BSG 11.07.2017, B 1 KR 26/16 R, SozR 4-2500 § 13 Nr 36;
BSG 11.07.2017, B 1 KR 24/17 R, SozR 4-2500 § 13 Nr 39; Noftz in Hauck/Noftz, Stand 07/19,
SGB V § 13 Rn 58l). Entgegen der Auffassung der Beklagten war der Kläger zu diesem Zeitpunkt auch nicht gehindert, einen Antrag zu stellen. Der vor dem
LSG Baden-Württemberg (L 2 R 1337/19) am 01.08.2019 geschlossene Vergleich stand dem nicht entgegen. Dort war lediglich die Gewährung einer Berufsfindung bzw Arbeitserprobung vereinbart worden. Diese Maßnahme war am 15.11.2019 abgeschlossen. Dass der Beklagten der Ergebnisbericht vom 17.12.2019 bei Antragstellung noch nicht vorlag, steht dem nicht entgegen. Am 17.01.2020 hatte sie mit dem Kläger ein Beratungsgespräch geführt. Auch danach wäre noch eine fristgerechte Entscheidung möglich gewesen; andernfalls hätte es der Beklagten oblegen, rechtzeitig in einer begründeten Mitteilung dem Kläger darzulegen, aus welchen Gründen sie noch nicht über den Antrag entscheiden kann (vgl § 18 Abs 1 und 2
SGB IX). Ein treuwidriges Verhalten des Klägers vermag die Kammer insoweit nicht zu erkennen. Angesichts der bereits langen Laufzeit seines Verfahrens auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben seit 2016 ist das Bemühen um eine Beschleunigung nachvollziehbar, nachdem dem Kläger vom
BFW im Abschlussgespräch bestätigt worden war, dass das Fernstudium zum Betriebswirt am besten für ihn geeignet sei.
Der Kläger hatte sich vor Ablauf der Entscheidungsfrist auch noch nicht vorfestgelegt auf das Fernstudium zum Betriebswirt, was dem Eintritt der Genehmigungsfiktion entgegenstünde. Denn solange die Frist des § 18 Abs 1
SGB IX noch nicht abgelaufen ist, hat der Rehabilitationsträger nach wie vor die Pflicht und das Recht, über die begehrte Leistung eine Entscheidung zu treffen. Erst wenn er davon ungebührlich lange Zeit keinen Gebrauch macht, wandelt sich der Sachleistungsanspruch in einen Kostenerstattungsanspruch um, soweit Leistungen dann tatsächlich in Anspruch genommen werden (vgl dazu
BSG vom 26.5.2020,
B 1 KR 9/18 R, SozR 4-2500 § 13 Nr 53). Erst dann ist ein Fall des Systemversagens entstanden, der darin besteht, dass der Rehabilitationsträger den Versicherten zu lange im Unklaren gelassen hat. Hat ein Versicherter dagegen schon zuvor eigenmächtig das Sachleistungsprinzip infolge Vorfestlegung "verlassen", ist auch der Anwendungsbereich des in § 18
SGB IX normierten Systemversagens nicht gegeben. Die Vorabentscheidung des Versicherten, nicht dagegen die verstrichene Frist, ist dann ursächlich für die dem Versicherten entstandenen Kosten. Der Versicherte kehrt nicht - im Sinne einer "überholenden Kausalität" - in das vorgesehene Leistungssystem zurück (vgl
BSG 27.10.2020, B 1 KR 3/20 R, SozR 4-2500 § 13 Nr 55). Der Kläger hat im vorliegenden Fall dagegen erst nach Ablauf der Entscheidungsfrist den Vertrag mit der Studiengemeinschaft ... geschlossen. Wie er in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer glaubhaft dargelegt hat, hat er den Vertrag mit der Studiengemeinschaft ... erst nach Erhalt des Bescheids vom 23.01.2020 geschlossen. Dies wird bestätigt durch die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorgelegte Anmeldebestätigung vom 29.01.2020.
Der Kostenerstattungsanspruch ist auch nicht nach § 18 Abs 5
SGB IX ausgeschlossen. Danach besteht die Erstattungspflicht nicht, (1.) wenn und soweit kein Anspruch auf Bewilligung der selbstbeschafften Leistungen bestanden hätte und (2.) die Leistungsberechtigten dies wussten oder infolge grober Außerachtlassung der allgemeinen Sorgfalt nicht wussten. Mit diesem Maßstab wird der in § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3
SGB X geregelte Verschuldensmaßstab aufgegriffen. Grob fahrlässig handelt nach der Legaldefinition des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3
SGB X, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, dh wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (stRspr; vgl nur
BSG 11.06.1987, 7 RAr 105/85, SozR 4100 § 71 Nr 2). Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (stRspr; vgl nur
BSG 13.12.1972, 7 RKg 9/69, SozR Nr 3). Eine nähere Kenntnis des Rechts darf den Versicherten nicht abverlangt werden. Das Tatbestandsmerkmal der groben Fahrlässigkeit soll nur eine Kostenerstattung offensichtlich rechtswidriger Leistungen ausschließen (vgl BT-Drucks 18/9522 S 238). Je offensichtlicher die gesetzlichen Voraussetzungen für die beantragte Leistung nicht vorliegen, desto eher ist von einer zumindest grob fahrlässigen Unkenntnis (Bösgläubigkeit) der Versicherten im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung auszugehen. Das ist dann der Fall, wenn sich Versicherte trotz erdrückender Sach- und Rechtslage besserer Erkenntnis verschließen. Es kommt dabei nicht auf formale Ablehnungsentscheidungen an, sondern auf die Qualität der fachlichen Argumente und ihre Nachvollziehbarkeit durch die Versicherten. Deshalb folgt aus einer ablehnenden Entscheidung des Versicherungsträgers für sich genommen noch keine grobe Fahrlässigkeit. Ein Meinungsstreit über rechtliche und tatsächliche Umstände, insbesondere unterschiedliche gutachtliche Bewertungen, schließt Gutgläubigkeit grundsätzlich nicht aus. Dies gilt auch noch während eines Klage- und Rechtsmittelverfahrens (
BSG vom 26.5.2020,
B 1 KR 9/18 R, SozR 4-2500 § 13 Nr 53 Rn 24 f).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist dem Kläger keine grobe Fahrlässigkeit oder gar Vorsatz vorzuwerfen. Dies scheitert schon daran, dass sich der Kläger durch das Ergebnis der Berufsförderungsmaßnahme in ... bestätigt sehen konnte, denn von dort wurde gerade das Fernstudium zum Betriebswirt empfohlen. Soweit im Bescheid vom 23.01.2020 diese Tätigkeit als nicht leidensgerecht und daher ungeeignet angesehen wurde, bezieht sich die Beklagte auf eine (nicht näher dargelegte) Stellungnahme ihres sozialmedizinischen Dienstes, ohne allerdings ihre Einschätzung konkret zu begründen. Schon aus diesem Grund ist es nicht als grob fahrlässig anzusehen, dass der Kläger auch in Kenntnis dieses Bescheids bei seiner abweichenden Einschätzung zu seiner beruflichen Belastbarkeit blieb und gerade diese Maßnahme als besonders geeignet angesehen hat. Es liegt insoweit gerade nicht für Jeden ersichtlich auf der Hand, ob die streitige Maßnahme zur Wiedereingliederung des Klägers in den Arbeitsmarkt geeignet und erforderlich ist.
Nachdem der Anspruch auf Kostenerstattung nach alledem besteht, stellt sich die Frage, welche Wirkungen dem Bescheid vom 23.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.06.2020 noch zukommen. Das
BSG hat unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung im Urteil vom 26.05.2020 (B 1 KR 9/18 R, SozR 4-2500 § 13 Nr 53 Rn 29 ff) ausgeführt, die Genehmigungsfiktion sei kein fingierter Verwaltungsakt, und dadurch, dass durch den Eintritt der Genehmigungsfiktion das durch den Antrag in Gang gesetzte Verwaltungsverfahren nicht abgeschlossen werde und der gestellte Antrag auf Naturalleistung fort existiere, sei die Behörde weiterhin berechtigt und verpflichtet, über den gestellten Antrag zu entscheiden und damit das laufende Verwaltungsverfahren abzuschließen. Der 3. Senat des
BSG hat sich dieser geänderten Rechtsprechung mit Urteilen vom 18.06.2020 (
B 3 KR 14/18 R und
B 3 KR 13/19 R) angeschlossen. Die durch § 18 Abs 4
SGB IX vermittelte Rechtsposition ist insoweit eine endgültige, soweit es um den Kostenerstattungsanspruch für den jeweiligen Beschaffungsvorgang im laufenden Verfahren geht, sie ist in ihrer Dauer hingegen durch die Dauer des Verwaltungs- einschließlich des nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens begrenzt und in diesem Sinn eine vorläufige Rechtsposition.
Im konkreten Fall handelt es sich um eine Maßnahme mit einer Dauer von drei Jahren, die derzeit etwa zur Hälfte absolviert ist. Allerdings stellt das Fernstudium insoweit keine Dauerleistung dar, die eine Vielzahl weiterer Beschaffungsvorgänge erfordert (wie zB die andauernde Versorgung mit einem bestimmten Medikament). Vielmehr ist mit der verbindlichen Anmeldung des Klägers für das dreijährige Fernstudium bei der Studiengemeinschaft ... der Beschaffungsvorgang abgeschlossen und der Antrag hat sich erledigt. Die Rechtsposition des Klägers ist damit eine endgültige, so dass es auch keiner weiteren Prüfung durch die Kammer bedarf, ob die Voraussetzungen für die hier streitige Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben tatsächlich gegeben sind.
Für das Fernstudium besteht auch ein Anspruch auf Übergangsgeld. Nach § 20 Abs 1 Nr 1
SGB VI (
idF vom 23.12.2016, BGBl I 3234) haben Anspruch auf Übergangsgeld Versicherte, die von einem Träger der Rentenversicherung Leistungen zur Prävention, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Leistungen zur Nachsorge oder sonstige Leistungen zur Teilhabe erhalten. Ein Vorbezug anderer Leistungen wird für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht gefordert (vgl § 20 Abs 1 Nr 3
SGB VI) Zwar handelt es sich insoweit dogmatisch nicht um eine Kostenerstattung, sondern um eine ergänzende Leistung (vgl Knispel, jurisPR-SozR 3/2019 Anm 3). Ohne das flankierende Übergangsgeld wäre der Anspruch nach § 18 Abs 4
SGB IX in den Fällen der Leistungen zur Teilhabe allerdings weitgehend wertlos, da ohne Absicherung des Lebensunterhalts eine Durchführung derartiger Maßnahme häufig kaum möglich sein dürfte. Dies würde auch das Ziel der Hauptleistung gefährden. Als unselbstständige, akzessorische Leistung (vgl Kater in Kasseler Kommentar,
SGB VI, Stand Mai 2021, § 20 Rn 5) ist das Übergangsgeld daher auch parallel zu einem Kostenerstattungsanspruch bei selbstbeschaffter Leistung zu zahlen (im Ergebnis ebenso
LSG Baden-Württemberg 17.12.2018,
L 8 R 4195/18 ER-B, juris). Auch insoweit gewährt der Rentenversicherungsträger letztlich Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, so dass schon nach dem Wortlaut die Voraussetzungen des § 20 Abs 1 Nr 1
SGB VI als erfüllt angesehen werden können (vgl auch Kellner, NJ 2019, 172 f; Schaumberg, Beitrag A13-2020 vom 04.06.2020 unter www.reha-recht.de).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.